Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätinnen Dr. in Wiesinger und Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Wagner, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. September 2023, G307 2267480 2/17E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots (mitbeteiligte Partei: M M S, vertreten durch VertretungsNetz Erwachsenenvertretung in Innsbruck), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der 1965 geborene Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Polens, hält sich seit Mitte Dezember 2010 in Österreich auf und weist abgesehen von seit 2012 vereinzelt erfolgten Meldungen mit Angabe einer Adresse eines Vereins für Obdachlose keine Meldeadresse mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet auf. Mit Ausnahme der ersten drei Monate seines Aufenthalts in Österreich ging der Mitbeteiligte keiner Erwerbstätigkeit nach. Er war zuletzt obdachlos, alkoholabhängig, leidet an einer Vielzahl teilweise schwerer körperlicher und psychischer Erkrankungen und weist einen dadurch bedingten schlechten hygienischen Zustand auf, weshalb ein Hausverbot in einer Notschlafstelle gegen ihn verhängt wurde. Der Mitbeteiligte befand sich wiederholt in suizidalen Krisen und wurde u.a. aufgrund akuter Selbstgefährdung zahlreiche Male in Krankenhäuser eingeliefert. In Polen hat der Mitbeteiligte weder Angehörige noch sonstige soziale Anknüpfungspunkte.
2 In Österreich weist der Mitbeteiligte neben zahlreichen Verwaltungsübertretungen drei rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf. Zunächst wurde er vom Bezirksgericht Hall in Tirol am 16. November 2016 wegen des Vergehens der versuchten Entwendung zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Diesem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Mitbeteiligte in einem Supermarkt eine Weißwurstpackung zu entziehen versucht hat. Mit dem weiteren Urteil des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom 14. Juni 2019 wurde der Mitbeteiligte wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls an einer Packung Frischkäse im Supermarkt zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt. Es folgte eine weitere Verurteilung wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls durch das Bezirksgericht Innsbruck am 28. September 2021 zu einer unbedingten Geldstrafe.
3 Mit dem rechtskräftigen Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 16. Dezember 2022 wurde für den Mitbeteiligten ein Erwachsenenvertreter unter anderem für die Vertretung vor Gerichten, Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern, insbesondere zur Erlangung von Sozialleistungen, bestellt.
4Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erließ mit Bescheid vom 11. Mai 2023 gegen den Mitbeteiligten gestützt auf die erwähnten Verwaltungsübertretungen und die strafgerichtlichen Verurteilungen gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein mit fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.). Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt werde, und erkannte einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkte II. und III.).
5Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde zunächst mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 26. Juni 2023 gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 14. September 2023 gab das BVwG der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen die Spruchpunkte I. und II. des Bescheids statt und behob den Bescheid ersatzlos. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
7 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
9 In dieser Hinsicht wird in der Zulässigkeitsbegründung der Revision ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend gemacht, weil das BVwG nicht geprüft habe, welche medizinischen Behandlungen für den Mitbeteiligten notwendig seien und ob diese ausschließlich in Österreich in Anspruch genommen werden könnten.
10 Vorauszuschicken ist, dass nach der ständigen Rechtsprechung die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel iSd Art. 133 Abs. 4 BVG ist (vgl. etwa VwGH 18.12.2024, Ra 2022/21/0195, Rn. 9, mwN).
11Bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann. Dabei kommt es wie der Revision einzuräumen istmaßgeblich darauf an, ob diese medizinische Behandlung auch außerhalb Österreichs erfolgen bzw. fortgesetzt werden kann (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2017/21/0004, Rn. 12, mwN).
12Im Allgemeinen hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben (vgl. VwGH 27.5.2025, Ra 2025/18/0128, Rn. 12, mwN; siehe auch VwGH 20.12.2022, Ra 2022/21/0127, Rn. 14).
13Vor diesem Hintergrund vermag die Zulässigkeitsbegründung der Revision nicht aufzuzeigen, dass das Ergebnis der vom BVwG nach § 9 BFA-VG vorgenommenen Interessenabwägung unvertretbar ist.
14 Das BVwG hat nämlich eine auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung bezogene Gesamtbetrachtung unter Bedachtnahme auf die wesentlichen Umstände dieses Einzelfalles durchgeführt und im Ergebnis nicht unvertretbare Überlegungen zum Gesundheitszustand und der erforderlichen medizinischen Behandlung des Mitbeteiligten angestellt.
15 Dabei berücksichtigte das BVwG die physischen und schweren psychischen Erkrankungen des Mitbeteiligten, insbesondere seine ausgeprägte Verhaltensstörung mit einem Selbstfürsorgedefizit und eine kognitive Störung aufgrund der Alkoholerkrankung und multiplen Hirnverletzungen, die wovon das BVwG ausging zur Folge hätten, dass der Mitbeteiligte wesentliche Belange seines Lebens nicht kontrollieren könne und Gefahr laufe, innerhalb kurzer Zeit weiteren schweren gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Das BVwG bezog auch ein, dass der Mitbeteiligte, der in Polen über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte verfüge und dem in Österreich ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter beigegeben worden sei, nicht selbständig handlungsfähig und längerfristig nicht reisefähig sei. Unter Berücksichtigung der durchgehenden und dauerhaften medizinischen Behandlung des Mitbeteiligten in Österreich erachtete das BVwG das persönliche Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib im Bundesgebiet als maßgeblich verstärkt und gingerkennbar auch vor dem Hintergrund, dass angesichts der bloß geringfügigen Straffälligkeit des Mitbeteiligten, die das BVwG am im vorliegenden Fall maßgebenden Maßstab des § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG gemessen hat, kein erhöhtes öffentliches Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung besteht von einem Überwiegen seiner persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich aus.
16 Mit diesen Erwägungen hat das BVwG der Sache nach den tatsächlichen Zugang zur notwendigen Behandlung in Polen auch wenn sie grundsätzlich bestünde angesichts der fallbezogen mangelnden selbständigen Handlungsfähigkeit des Mitbeteiligten, seiner schweren psychischen Erkrankungen und der daraus insbesondere resultierenden Unfähigkeit, sich selbst um wesentliche menschliche Grundbedürfnisse zu kümmern, unter Einbeziehung des gänzlichen Fehlens eines unterstützenden Umfelds in Form von familiären oder sozialen Anknüpfungspunkten in Polen vertretbar verneint. Auf die von der Revision gerügten Feststellungsmängel kommt es daher nicht entscheidungswesentlich an.
17 Des Weiteren führt die Revision ins Treffen, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es ohne Einholung eines Sachverständigengutachtensvon der fehlenden Transportfähigkeit des Mitbeteiligten im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK ausgegangen sei, ohne die Zulässigkeit der Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK zu prüfen.
18Diesem Vorbringen ist entgegen zu halten, dass in Bezug auf die Behauptung der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung die für die Beurteilung nach Art. 3 EMRK maßgeblichen Kriterien grundsätzlich auch in die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einzufließen haben (vgl. VwGH 15.10.2015, Ra 2015/20/0218 bis 0221, mwN). Im Übrigen ist aber die Frage der Unzulässigkeit der Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK Gegenstand anderer Verfahren, nicht jedoch im Verfahren betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zu prüfen (vgl. etwa VwGH 18.10.2012, 2011/23/0325, mwN; 2.10.2008, 2007/18/0798, Pkt. 3.2., mwN), sodass es auf den in der Revision relevierten Ermittlungsmangel zur Frage der Transportfähigkeit des Mitbeteiligten im Rahmen einer medizinisch begleiteten Abschiebung nicht ankommt.
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 30. September 2025
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