Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Dr. Dieter Weiß und Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Hannes Schneiderbauer, MBA (Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Manfred Staufer (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch die Korn Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau , 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch ihren Bediensteten Mag. B*, Geschäftsstelle **, wegen Berufsunfähigkeitspension über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. Juli 2025, Cgs*-41, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 3. Februar 2023 hat die Beklagte den Antrag des Klägers vom 28. Juli 2022 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgelehnt, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege, und ausgesprochen, es bestehe auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.
Dagegen richtet sich die Klage (zuletzt) mit dem Begehren auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Oktober 2023.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Klagebegehren abgewiesen. Der Entscheidung liegt – zusammengefasst – folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger hat den Beruf des Einzelhandelskaufmanns erlernt. Jedenfalls seit April 2002 war er als Reiseberater (Fachkraft Ticketverkauf) am Hauptbahnhof C* tätig. Das Dienstverhältnis endete am 30. September 2023.
Als Reiseberater betreute er alle Kunden im D* E* und war zuständig für Zugauskünfte, den Verkauf von Fahrkarten und Reservierungen (national und international), die Ausstellung von vorläufigen F* und G* mit gleichzeitiger elektronischer Dateneingabe, die Buchung von Behinderten-Einstiegshilfen, die Bearbeitung von Kundenreklamationen und Erstattungen (samt deren Abwicklung) sowie von Kundenbeschwerden bei Zugverspätungen und -ausfällen, Streckensperren und Anschlussversäumnissen mit schneller Lösungsfindung, die Ausstellung von Entschuldigungsgutscheinen bei Zugräumungen sowie die tägliche Bargeldaufstellung/-abrechnung samt Abfuhr an die H* C* Hauptbahnhof. Bei der Betreuung von Kunden der 1. Klasse in der D* I* hatte er zudem die gültige Zutrittsberechtigung zu kontrollieren, die Kunden zum D* Carsharing-Angebot (samt elektronischer Datenerfassung) anzumelden und angeschlossene Konferenzräume (inklusive Verpflegungswünschen) zu buchen. Führungsaufgaben bestanden nicht.
Die – zu etwa zwei Drittel mit Kundenkontakten verbundene – Tätigkeit als Reiseberater ist in die Stufe „Bahnhofsbediensteter 5“ der AVB D* bzw die Verwendungsgruppe D – aufgrund der langjährigen Berufserfahrung und der damit verbundenen Fachkenntnisse allenfalls der Verwendungsgruppe E – des Kollektivvertrags für die Angestellten der Eisenbahnunternehmen (KV-EU) einzustufen. In jenem der Angestellten in Reisebüros entspricht sie der Verwendungsgruppe C, in dem für Handelsangestellte der Beschäftigungsgruppe 3 (Gehaltssystem alt) bzw D (Gehaltssystem neu).
Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen kann der Kläger seit Juli 2022 ohne Einschränkung der Tages- und Wochenarbeitszeit und zusätzliche Arbeitspausen insbesondere (nur) noch Arbeiten mit zeitweise überdurchschnittlichem Zeitdruck verrichten; ständig überdurchschnittlicher Zeitdruck, Akkord-, Schicht-, Wechsel- und Nachtarbeit und Überstundenleistung sowie Tätigkeiten bei vermehrter Menschenansammlung sind nicht möglich. Kundenkontakt und einfache Auskunftstätigkeiten sind nicht zumutbar, soweit es sich um direkten persönlichen Kundenkontakt handelt. Indirekter bzw passiver Kundenkontakt (etwa über Telefon oder per E-Mail) ist möglich; Einschränkungen bestehen dabei nur, wenn diese Kundenkontakte im Zusammenhang mit Reklamationen stehen bzw mit Konfliktpotential verbunden sind.
Eine Wohnsitzverlegung und ein Wochenauspendeln sind nicht zumutbar; Tagesauspendeln ist im Ausmaß 60 Minuten pro Wegstrecke zumutbar. Der Kläger verfügt über einen eigenen Pkw; es bestehen keine Einschränkungen, was das Lenken eines Pkw betrifft.
Aufgrund des eingeschränkten Leistungskalküls ist der Kläger nicht mehr in der Lage, seine bisherige Tätigkeit auszuüben. Er kann aber Tätigkeiten im Backoffice-Bereich seiner ehemaligen Dienstgeberin – wie etwa Team Assistenz oder Administration Bordservice – in der Verwendungsgruppe D des KV-EU, eines Reisebüros in der Verwendungsgruppe B des Kollektivvertrags der Angestellten der Reisebüros sowie im Ein- und Verkauf nach der Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrags für Handelsangestellte mit ausschließlich telefonischem Kundenkontakt oder Korrespondenz per E-Mail verrichten.
Tätigkeiten im Backoffice-Bereich seiner ehemaligen Dienstgeberin umfassen allgemeine administrative Agenden und anfallende Bürotätigkeiten, die Pflege interner Datenbanken, die Organisation von Schulungen, die Erledigung von Systemeingaben und Routineaufgaben. Weiters sind etwa Protokolle und Berichte anzufertigen oder allgemeine Sekretariatsaufgaben (wie Terminkoordination und Korrespondenz) durchzuführen.
Bei administrativen Tätigkeiten im Backoffice-Bereich eines Reisebüros ohne direkten Kundenkontakt, jedoch mit leichtem, einfachem telefonischem oder schriftlichem (E-Mail-)Kundenkontakt sind fehlende Informationen von den Kunden für Buchungen einzuholen und diesen telefonisch oder per E-Mail einfache Auskünfte über Reisen, Hotels, Buchungen oder Buchungs- bzw Zahlungseingänge zu erteilen, die nicht mit Konfliktpotential verbunden sind. Der Kundenkontakt umfasst etwa 50 % der Arbeitstätigkeit.
Der Kläger kann in diesen (drei) Tätigkeiten seine bisherigen Berufskenntnisse weiterhin anwenden und muss dafür keine gänzlich neuen Kenntnisse erwerben; eine Einschulung mit anschließender Einarbeitungsphase ist ausreichend. Das arbeitskulturelle Umfeld, das Maß an Verantwortung, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit in der Arbeitsverrichtung sowie das soziale Prestige sind denen seiner bisherigen Tätigkeit ähnlich.
Die Bevölkerung in der Wohngemeinde des Klägers gelangt üblicherweise mit dem privaten Pkw zum Arbeitsplatz oder zumindest zur nächstgelegenen Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. In den angeführten Tätigkeiten existieren auf dem auf diese Weise erreichbaren regionalen Arbeitsmarkt zumindest 30 Arbeitsplätze. Alleine für die Tätigkeit als Angestellter in der Reisebüro-Branche für einfache administrative Tätigkeiten im Backoffice-Bereich (Verwendungsgruppe B des KV der Angestellten der Reisebüros) bestehen in dem für den Kläger noch erreichbaren Umfeld zumindest 40 Arbeitsplätze.
Der Kläger ist in der Lage, in Ausübung dieser Tätigkeiten zumindest die gesetzliche Lohnhälfte zu erzielen.
In der rechtlichen Beurteilung ist das Erstgericht zum Ergebnis gelangt, der Kläger sei nicht berufsunfähig, weil eine Verweisung auf Tätigkeiten im Backoffice-Bereich seiner ehemaligen Dienstgeberin, eines Reisebüros sowie im Ein- und Verkauf im Handel zulässig sei.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem auf Klagsstattgabe gerichteten Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung keine Folge zu geben.
Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu behandelnde Berufung ist nicht berechtigt .
1 In der Mängelrüge kritisiert der Kläger das Unterbleiben seiner beantragten Einvernahme als Partei zum Inhalt der von ihm ausgeübten Tätigkeit.
1.1 Im Schriftsatz vom 19. Dezember 2024 hat er zwar tatsächlich seine Einvernahme als Partei zum Beweis dafür beantragt, dass seine „zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Reiseberater, konkret als Fachkraft im Ticketverkauf, primär durch persönlichen Kundenkontakt bestimmt war, dies vorwiegend durch aktive Kundenberatung und -information“ (ON 25 S 2).
Zu selben Beweisthema hat er jedoch in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 17. Juli 2025 (nur) auf die bisherigen Beweisergebnisse verwiesen (ON 38.3 S 4), obwohl er persönlich anwesend war, sodass seine Einvernahme unmittelbar möglich gewesen wäre. Er hat damit (erkennbar) auf seine Einvernahme als Partei verzichtet.
1.2Die Feststellungen zum Inhalt dieser Tätigkeit wurden im Übrigen aus einer vom Kläger selbst erstellten Beschreibung übernommen (vgl ON 11 S 6, 7). Abgesehen davon stellt § 255 Abs 4 ASVG nicht auf die konkret vom Versicherten am jeweiligen Arbeitsplatz ausgeübten Tätigkeiten ab, sondern auf die „abstrakte Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RIS-Justiz RS0087658 insb [T5]).
2 In der Tatsachenrüge bekämpft der Kläger die kursiv dargestellten Feststellungen zur Möglichkeit indirekten bzw passiven Kundenkontakts.
2.1 Dabei übersieht er zunächst die diesen unmittelbar vorangehende Feststellung, aus der sich (im Umkehrschluss) die Zumutbarkeit von Kundenkontakt und einfachen Auskunftstätigkeiten ergibt, soweit es sich nicht um direkten persönlichen Kundenkontakt handelt. Durch die angestrebte Feststellung des Gegenteils würde der Sachverhalt in sich widersprüchlich.
2.2 Darüber hinaus weist der Kläger zwar zutreffend darauf hin, dass der neurologisch-psychiatrische Sachverständige in seinem Gutachten – auf Grundlage der diagnostizierten Angststörung mit situativen Panikattacken – zunächst Kundenkontakt und einfache Auskunftstätigkeiten pauschal als nicht zumutbar erachtet hat (ON 6 S 22, 23).
In seiner Argumentation übergeht er jedoch die Ausführungen dieses Sachverständigen in der Gutachtenserörterung, dass „Telefonkontakte, wie sie in einem normalen Geschäftsbetrieb in einem Büro stattfinden, […] keine Auslöser für Panikattacken“ sind (ON 38.3 S 3).
Die kritisierte Feststellung ist daher auch inhaltlich nicht zu beanstanden.
3 In der Rechtsrüge bezieht sich der Kläger ausschließlich „auf Tätigkeiten als Angestellter in der Reisebüro-Branche für einfache administrative Tätigkeiten im Backoffice-Bereich“ und erachtet eine Verweisung auf diese als unzumutbar.
3.1 Die Unzumutbarkeit der Verweisung auf Tätigkeiten im Backoffice-Bereich seiner ehemaligen Dienstgeberin bzw im Ein- und Verkauf behauptet er hingegen nicht (ausdrücklich).
Kann ein Versicherter eine Verweisungstätigkeit ausüben, ist eine Prüfung nicht mehr erforderlich, ob weitere Verweisungstätigkeiten möglich sind (vgl RIS-Justiz RS0084983). Auf die umfangreiche Argumentation zur Unzumutbarkeit der kritisierten Verweisung muss daher an sich nicht näher eingegangen werden.
Der Vollständigkeit halber ist dazu anzumerken:
3.2.1 Soweit der Kläger davon ausgeht, die Tätigkeit im Backoffice-Bereich eines Reisebüros sei mit einem völlig anderen Maß an Verantwortung, einem deutlichen Verlust an Prestige und einer (nicht bloß geringfügigen) Änderung des arbeitskulturellen Umfelds verbunden, weicht er von den unbekämpft gebliebenen gegenteiligen Feststellungen (Urteil S 6) ab.
Die Rechtsrüge ist daher nicht gesetzmäßig ausgeführt (RIS-Justiz RS0043603, insb [T8]).
3.2.2Schon nach dem Wortlaut des § 255 Abs 4 ASVG sind bei der Prüfung „zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen“. Diese Bestimmung gewährt somit keinen Arbeitsplatzschutz, sondern einen Tätigkeitsschutz (vgl RIS-Justiz RS0087658 [T3]). Demgemäß müssen die Tätigkeit und ihr Umfeld (nur) ähnlich sein, aber nicht identisch.
Dass – nach den unbekämpft gebliebenen Feststellungen (vgl Urteil S 4 und 5) – die Tätigkeit als Reiseberater zu etwa zwei Dritteln, jene im Backoffice-Bereich eines Reisebüros hingegen („nur“) zur Hälfte mit Kundenkontakten verbunden ist, die bei Reiseberatern persönlich – und durchaus mit Konfliktpotential verbunden – erfolgen und im Backoffice-Bereich eines Reisebüros (nur) telefonisch, führt daher nicht zur Unzumutbarkeit der Verweisung.
Zum Ausmaß der administrativen – also ohne Kundenkontakt erfolgenden – Tätigkeiten sind zwar im angefochtenen Urteil keine (unmittelbaren) Feststellungen enthalten. Wenn der Kläger zwei Drittel seiner Arbeitszeit mit Kundenkontakten gearbeitet hat, muss er jedoch in der restlichen Arbeitszeit administrative Aufgaben verrichtet haben. Eine in einem Drittel der Arbeitszeit verrichtete Tätigkeit kann nicht als völlig untergeordnet qualifiziert werden. Darüber hinaus hebt er selbst eine tatsächlich verrichtete administrative Tätigkeit – nämlich die Bargeldaufstellung und -abrechnung – als besonders bedeutsam hervor.
3.2.3Dem Umstand, dass die in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten im Vergleich zu der „einen“ ausgeübten Tätigkeit in eine um eine Stufe niedrigere kollektivvertragliche Verwendungsgruppe einzureihen sind, kann keine allein entscheidende Bedeutung zukommen, zumal ein Versicherter gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige hinnehmen muss (RIS-Justiz RS0100022 [T16, T18, T19]). Der Kläger weist allerdings grundsätzlich zutreffend darauf hin, dass eine gravierende Gehaltseinbuße ein Kriterium für die Unzumutbarkeit einer Verweisung darstellen kann (RIS-Justiz RS0120866).
Auch die Prüfung der Frage der Zumutbarkeit einer Gehaltseinbuße hat abstrakt zu erfolgen (RIS-Justiz RS0120866). Zumal der Kläger weiterhin ohne Einschränkung der Tages- und Wochenarbeitszeit und zusätzliche Arbeitspausen erwerbstätig sein kann und auch im Berufungsverfahren nicht behauptet hat, es würden üblicherweise überkollektivvertragliche Entgelte gewährt, ist von den in den relevanten Kollektivverträgen vorgesehenen Mindestgehältern auszugehen. Die im Kollektivvertrag der Angestellten der Reisebüros – nach dem es gleichgültig ist, ob die Dienstzeiten im selben oder einem anderen Unternehmen erworben wurden (vgl Pkt XVIII.A.4) – aktuell in der Verwendungsgruppe B vorgesehenen Mindestgehälter liegen – je nach Gruppendienstjahr – um 5,3 bis 11,5 % unter jenen der Verwendungsgruppe C.
Eine gravierende Gehaltseinbuße ist daher (auch) mit dieser Verweisung nicht verbunden.
4 Die Berufung konnte daher insgesamt nicht zum Erfolg führen.
5Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Umstände, die einen Kostenzuspruch im Berufungsverfahren nach Billigkeit trotz Unterliegens rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
6Die ordentliche Revision ist gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig, weil die Frage, ob eine Verweisungstätigkeit eine „zumutbare Änderung“ der im Sinne des Tätigkeitsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG maßgebenden „einen“ Tätigkeit darstellt, nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden kann (RIS-Justiz RS0100022 [T25, T37, T41]).
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