Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr. Aichinger als Vorsitzenden sowie die Richterin Mag. Staribacher und den Richter Mag. Trebuch LL.M. als weitere Senatsmitglieder in der Strafvollzugssache des A*wegen Absehens vom Strafvollzug wegen Auslieferung nach § 4 StVG über die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14. April 2025, GZ **-119, nichtöffentlich den
Beschluss
gefasst:
Der Beschwerde wird dahin Folge gegeben, dass der angefochtene Beschluss aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wird.
Begründung:
Der kroatische Staatsangehörige A* wurde mit Urteilen des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. November 2021 zu AZ ** (ON 67) wegen der Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG und § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG sowie der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs 1 zweiter Fall, Abs 2 und Abs 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vom 7. September 2023 zu AZ ** (ON 86) wegen der Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG, § 12 zweiter und dritter Fall StGB und nach § 28a Abs 1 fünfter und sechster Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG sowie der Geldwäscherei nach §§ 12 zweiter Fall, 165 Abs 2 und Abs 4 erster und zweiter Fall StGB idF BGBl I Nr. 117/2017 unter Bedachtnahme (§ 31 StGB) auf das erstgenannte Urteil zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Der Verurteilte verbüßt derzeit in der Justizanstalt ** die mit dem erstangeführten Urteil verhängte Freiheitsstrafe, im Anschluss daran wird – voraussichtlich ab 17. Mai 20 26 , 10.15 Uhr, - die mit dem zweitangeführten Urteil verhängte Zusatzstrafe vollzogen (ON 91).
Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 24. März 2025 zu AZ ** (ON 113) wurde die vereinfachte Übergabe des Verurteilten an die kroatischen Behörden zur Strafverfolgung (wegen fortgesetzter Straftat der Urkundenfälschung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, bedroht mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren [vgl. ON 112; ON 114 S 2]), angeordnet, seine tatsächliche Übergabe jedoch bis zur Beendigung der Strafhaft in den beiden genannten Verfahren aufgeschoben.
Mit Eingabe vom 27. März 2025 (ON 114) beantragte A* das vorläufige Absehen vom Strafvollzug gemäß § 4 StVG, „um die Auslieferung nach Kroatien zu ermöglichen und eine Doppelbestrafung bzw. Schlechterstellung im Verhältnis zur hypothetischen Gesamtverurteilung durch ein österreichisches Gericht zu vermeiden.“ Sein Verhalten während der Haftzeit sei beanstandungsfrei gewesen, er habe aktiv an seiner Resozialisierung gearbeitet und liege die Durchführung des Strafverfahrens in Kroatien ebenfalls im Interesse der allgemeinen Strafverfolgung.
Die Staatsanwaltschaft Wien erhob keinen Einwand gegen ein vorläufiges Absehen vom Strafvollzug gemäß § 4 StVG (ON 118).
Mit dem angefochtenen Beschluss wies der Erstrichter den Antrag – unter Berücksichtigung, dass zwei Drittel der Strafzeit am 17. Jänner 2026 verbüßt sein werden, - aus generalpräventiven Erwägungen ab. Dabei ging er erkennbar von einer insgesamt zu verbüßenden Gesamtfreiheitsstrafe und den „vorliegenden Anlasstaten“, dabei u.a. von den beiden Verurteilungen insgesamt zugrunde liegenden Suchtgiftmengen („… Einfuhr von 41 Kilogramm Kokain nach Österreich, die Überlassung bzw. Verschaffung von 31 Kilogramm Kokain an andere, der Besitz [mit Inverkehrsetzungsvorsatz] von 10 Kilogramm Kokain ...“) aus.
Gegen den abweisenden Beschluss richtet sich die rechtzeitige Beschwerde des Verurteilten (ON 121) mit dem Begehren, gemäß § 4 StVG vom weiteren Vollzug der Freiheitsstrafe vorläufig abzusehen.
Die Oberstaatsanwaltschaft Wien hat sich einer Stellungnahme enthalten.
Nach § 4 erster Satz StVG ist vom Vollzug einer über einen Verurteilten verhängten Freiheitsstrafe vorläufig abzusehen, wenn dieser an eine ausländische Behörde ausgeliefert wird, es sei denn, dass es aus besonderen Gründen des unverzüglichen Vollzugs bedarf, um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken.
Im Gegensatz zur bedingten Entlassung gemäß § 46 StGB ist ein Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung bzw - im Anwendungsbereich des EU-JZG - Übergabe nach § 4 StVG weder von der Verbüßung eines bestimmten Teils der Freiheitsstrafe (RIS-Justiz RS0134296) noch von Voraussetzungen persönlicher Natur, sondern einzig und allein von Erfordernissen der Generalprävention abhängig, wobei auf die Bedeutung und Schwere der Tat, das dadurch verursachte Aufsehen und die Höhe der Strafe Bedacht zu nehmen ist (vgl Mayerhofer/Salzmann,Nebenstrafrecht StVG § 4 E 2; Pieber in WK 2StVG § 4 Rz 12 ff; Drexler/Weger, StVG 5 § 4 Rz 2 f; Göth-Flemmich/Riffel in WK 2ARHG § 37 Rz 7).
Die besonderen generalpräventiven Gründe sind gegen die voraussichtliche Höhe der im Ausland zu erwartenden Strafe (in dem Zusammenhang ist auch auf die Rechtslage zur bedingten Entlassung im Ausland abzustellen) abzuwägen ( Pieber aaO § 4 Rz 13; Drexler/Weger aaO § 4 Rz 3; Göth-Flemmich/Riffel aaO § 37 Rz 7). Generalpräventive Bedenken gegen ein Absehen werden idR dann nicht bestehen, wenn den Auszuliefernden im Ausland eine Strafe erwartet, deren Ausmaß zumindest der im Inland noch nicht vollzogenen Freiheitsstrafe entspricht oder sie sogar übersteigt (vgl Mayerhofer/Salzmann aaO § 4 E 4; Pieber aaO § 4 Rz 13; Göth-Flemmich/Riffel aaO § 37 Rz 7). Soll der Verurteilte zur Strafverfolgung ausgeliefert werden, ist eine Prognose im Hinblick auf das Ausmaß der Strafe vorzunehmen. Eine – ohnehin nicht verlässlich mögliche – Beurteilung der Verurteilungswahrscheinlichkeit ist hingegen nicht verlangt (OLG Wien 19 Bs 262/16t; Pieber aaO § 4 Rz 13).
Liegt diese Voraussetzung bereits vor Beginn des Strafvollzugs vor, ist vom Vollzug der gesamten Strafe abzusehen ( Pieber aaO § 4 Rz 13).
Entscheidungen nach § 4 StVG stehen nach § 7 Abs 1 StVG dem Vorsitzenden (Einzelrichter) des erkennenden Gerichts zu. Für das Verfahren nach § 4 StVG gelten, soweit im Einzelnen nichts anderes angeordnet wird, nach § 7 Abs 2 erster Satz StVG die Bestimmungen der StPO sinngemäß.
Erkennendes Gericht ist im Regime der sinngemäß anzuwendenden StPO jenes, das die Strafe - und einen allfälligen Widerruf bedingter Strafnachsicht oder bedingter Entlassung - ausgesprochen hat (RIS-Justiz RS0101517 [T1]). Eben dieses Verständnis ist § 7 Abs 1 StVG zu unterstellen (14 0s 4/23d [Rz 13]; Pieber aaO § 3 Rz 6; Jerabek/Ropper , WK-StPO § 494a Rz 15).
Sind mehrere Strafurteile zu vollziehen, hat somit der Vorsitzende (Einzelrichter) jedes der in diesem Sinn erkennenden Gerichte über ein Absehen vom Vollzug der von diesem verhängten Freiheitsstrafe (oder eines Teils davon) zu entscheiden (14 Os 4/23d [Rz 14]; PieberaaO § 4 Rz 5). Dies gilt auch, wenn (wie hier) über mehrere Straftaten eines Täters – trotz Sanktionierungsmöglichkeit in einem einzigen – in zeitlich getrennten Urteilen entschieden und gemäß § 31 Abs 1 StGB eine Zusatzstrafe verhängt wurde, weil die Entscheidungen selbständige Urteile mit – demnach gesondert zu behandelnden – selbständigen Strafaussprüchen bleiben, für die nur bezüglich der Strafhöhe die besonderen Vorschriften der §§ 31, 40 StGB gelten (14 Os 4/23d [Rz 15]; RS0090578 [T2]; Ratzin WK² StGB § 31 Rz 7; PieberaaO Rz 5) und § 7 Abs 1 StVG insoweit keine Sonderregelung enthält.
Für die Beurteilung des Vorliegens generalpräventiver Bedenken gegen ein (vorläufiges) Absehen vom Strafvollzug nach § 4 StVG ist die – den Gegenstand ein und derselben Strafvollzugsanordnung (§ 3 Abs 1 erster Satz StVG) bildende (vgl RIS-Justiz RS0132035) – „verhängte Freiheitsstrafe“ maßgebend. Eine diesbezügliche Prüfung auf Basis der Zusammenrechnung mehrerer in verschiedenen Verfahren verhängter Freiheitsstrafen (oder Strafteile) kommt selbst dann nicht in Betracht, wenn es sich um – eben nicht den Gegenstand ein und derselben Strafvollzugsanordnung bildende – Sanktionen handelt, die mit im Verhältnis des § 31 Abs 1 StGB stehenden Strafurteilen ausgesprochen wurden (14 Os 4/23d [Rz 18 mwN]).
Demgegenüber hat der Erstrichter in der Begründung der Entscheidung die über A* in beiden Verfahren ausgesprochenen, zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehenden Freiheitsstrafen im Ergebnis zusammengerechnet, auf dieser Basis einen „Stichtag“ für das Absehen vom Strafvollzug zum – zudem vor dem voraussichtlichen Beginn des gegenständlich zu beurteilenden Strafvollzugs (am 17. Mai 2026) gelegenen – Zeitpunkt der Verbüßung von zumindest zwei Dritteln der solcherart gebildeten Gesamtstrafe (17. Jänner 2026) festgesetzt, bei der Beurteilung generalpräventiver Kontraindikation auch die dem Vorurteil zugrundeliegenden strafbaren Handlungen ins Kalkül gezogen und eine Prognose über die in Kroatien zu erwartende (Zusatz)Strafe unterlassen. Dem dargestellten Prüfungsmaßstab des § 4 erster Satz StVG hat er damit aber nicht entsprochen.
Auch hätte die in § 4 StVG normierte Prüfung generalpräventiver Hindernisse die Beischaffung des Aktes AZ ** des Landesgerichts für Strafsachen Wien und Einsichtnahme insbesondere in den europäischen Haftbefehl des Gespanschaftsgerichts Zagreb vom 6. Februar 2025 zur Zahl ** erfordert, um an Hand des Sachverhaltes und Tatzeitraumes überhaupt eine Prognose zum Ausmaß der in Kroatien zu erwartenden (Zusatz)Strafe vornehmen zu können.
Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 89 Abs 2a Z 3 StPO zu kassieren und dem Erstgericht die Ergänzung des Verfahrens durch Beischaffung des Übergabeaktes und neuerliche Beschlussfassung aufzutragen. Dabei werden in die generalpräventiven Erwägungen nur die vom gegenständlichen Verfahren umfassten Suchtgiftmengen (Schmuggel und Überlassung von jeweils insgesamt 16 Kilogramm Kokain und weiteren unbekannten Mengen) sowie die Sammlung und Weiterleitung von Erlösen aus Suchtgiftgeschäften in der Höhe von zumindest 278.500 Euro im Rahmen einer international agierenden kriminellen Vereinigung einzubeziehen und die zu gegenständlicher Strafe errechneten Vollzugszeiten zu berücksichtigen sein.
Rückverweise