Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des J R, vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Barnabitengasse 3/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Februar 2024, G313 2240880 1/30E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1974 geborene Revisionswerber, ein slowakischer Staatsangehöriger, hält sich seit November 2005 (mit einer etwa halbjährigen Unterbrechung im Jahr 2011) durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich auf. Im Juni 2011 wurde ihm eine Anmeldebescheinigung ausgestellt. Ab dem Jahr 2010 befand sich der Revisionswerber mit einer österreichischen Staatsbürgerin in einer Lebensgemeinschaft, der eine im November 2011 geborene Tochter entstammt. Einen minderjährigen Sohn der Lebensgefährtin aus einer früheren Beziehung behandelte der Revisionswerber wie sein leibliches Kind. Im Bundesgebiet leben auch seine Mutter und sein Bruder, die beide über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen. Zuletzt lebte der Revisionswerber gemeinsam mit einem Freund in einer Wohnung in Wien.
2 Im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich wurde der Revisionswerber wiederholt straffällig: Er wurde durch das Landesgericht Wiener Neustadt zunächst mit Urteil vom 10. Juli 2018 wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten und dann mit Urteil desselben Gerichts vom 12. April 2019 wegen Sachbeschädigung nach § 125 StGB, Hehlerei nach § 164 Abs. 1 und 2 StGB und unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 und 2 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten und zu einer unbedingten Geldstrafe rechtskräftig verurteilt. Dem zweiten Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe im Dezember 2018 die Badezimmertür im Wohnhaus seiner Lebensgefährtin eingetreten. Darüber hinaus habe er Ohrringe und eine Halskette, die aus einem Postshop entwendet worden seien, gekauft und im Jänner 2019 ein fremdes Kraftfahrzeug, das er mit einem eigenmächtig aus der Jacke des Fahrzeughalters entnommenen Schlüssel in Betrieb genommen habe, benützt.
3 Nachdem die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin im Jahr 2019 endgültig zerrüttet war, wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 20. Oktober 2020 wegen versuchter schwerer Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 erster Fall StGB, wegen gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 erster Fall StGB sowie wegen Hausfriedensbruchs nach § 109 Abs. 3 Z 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten rechtskräftig verurteilt, wobei unter einem die bedingte Nachsicht der mit seiner ersten Verurteilung im Jahr 2018 verhängten sechsmonatigen Freiheitsstrafe widerrufen wurde. Diesem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe sich im Juni 2020 durch das Aufbrechen des Badezimmerfensters mit Gewalt den Eintritt in das Haus seiner vormaligen Lebensgefährtin verschafft, wobei er gegen sie Gewalt zu üben beabsichtigt und sie durch gefährliche Drohung zur Abstandnahme von der Verständigung der Polizei zu nötigen versucht habe, indem er ein Küchenmesser auf eine weitere im Haus befindliche (näher genannte) Person gerichtet und mit deren Tötung gedroht habe.
4 Daraufhin erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 23. Februar 2021 gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und sprach aus, dass gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt werde.
5 Eine gegen den Revisionswerber mit Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 17. Juni 2020 erlassene einstweilige Verfügung, mit der ihm unter anderem die Kontaktaufnahme mit der früheren Lebensgefährtin, deren Sohn und der gemeinsamen Tochter untersagt worden war, wurde mit Beschluss vom 31. Mai 2021 um zwölf Monate verlängert. Am 6. Juni 2021 wurde der Revisionswerber aus der Freiheitsstrafe (bedingt) entlassen.
6 Ein im Zusammenhang mit der gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 erhobenen Beschwerde gestellter Antrag des Revisionswerbers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 20. Juli 2022 als unzulässig zurückgewiesen, wobei der Verwaltungsgerichtshof diesen Beschluss nach Erhebung einer Revision mit dem Erkenntnis VwGH 2.3.2023, Ra 2022/21/0152, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufhob. Hinsichtlich des Verfahrensverlaufes ab der Beschwerdeerhebung bis zum Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 2. März 2023 wird auf dessen Entscheidungsgründe verwiesen.
7 Im fortgesetzten Verfahren führte das BVwG, das zunächst dem Wiedereinsetzungsantrag des Revisionswerbers mit Beschluss vom 17. April 2023 stattgegeben hatte, am 10. Oktober 2023 eine mündliche Verhandlung durch, in deren Rahmen auch die vormalige Lebensgefährtin des Revisionswerbers einvernommen wurde. Schließlich gab das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 13. Februar 2024 der Beschwerde gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 insofern Folge, als es die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf zwei Jahre herabsetzte; im Übrigen wies es die Beschwerde aber (implizit) als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 In seiner Begründung stellte das BVwG im Wesentlichen dem eingangs dargestellten Sachverhalt entsprechend neben den dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftaten auch seine persönlichen und familiären Verhältnisse fest und führte daran anknüpfend rechtlich aus, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Revisionswerber wegen seines mehr als zehnjährigen (rechtmäßigen) Aufenthalts im Bundesgebiet nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG („nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“) zulässig sei. Eine solche Gefährdung sah das BVwG für gegeben an und verwies dazu insbesondere auf das hohe Aggressionspotenzial des Revisionswerbers, das sich durch die Begehung gesteigerter Gewaltdelikte in Form von einschlägigen Rückfällen während offener Probezeit, in mehreren Kontakt und Betretungsverboten seit Beginn der Beziehung mit seiner (früheren) Lebensgefährtin im Jahr 2010 sowie an Hand der Erlassung und Verlängerung einer einstweiligen Verfügung zum Schutz vor Gewalt manifestiert habe. Überdies habe sich der Revisionswerber in der Verhandlung vor dem BVwG auch wenig einsichtig gezeigt und die Schuld für sein Fehlverhalten bei Anderen gesucht, weshalb ein längerer Wohlverhaltenszeitraum in Freiheit zum Beweis der Bereitschaft, sich „an die Vorschriften der österreichische Rechtsordnung zu halten“, erforderlich sein werde. Anschließend legte das BVwG mit näherer Begründung dar, dass nach einer Abwägung gemäß § 9 BFA VG die privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers keine Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes rechtfertigen könnten. Das Aufenthaltsverbot sei aber angesichts seiner familiären und privaten Verhältnisse auf zwei Jahre herabzusetzen, zumal bei den Verurteilungen des Revisionswerbers der Strafrahmen nicht ausgeschöpft worden und dem Erstvollzug der Freiheitsstrafen „eine erhöhte spezialpräventive Wirkung“ zu attestieren sei; außerdem sei der Revisionswerber vorzeitig (gemeint: schon nach der Hälfte der insgesamt zu verbüßenden Freiheitsstrafe) bedingt entlassen worden. Damit werde auch der Aussage der früheren Lebensgefährtin in der Beschwerdeverhandlung Rechnung getragen, der zufolge sie vom Revisionswerber seit seiner Haftentlassung „eigentlich in Ruhe gelassen“ worden sei und es ihm ihrer Meinung nach jetzt „besser“ gehe.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
10 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit wendet sich die Revision unter Berufung auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Gerichtshofs der Europäischen Union gegen die fallbezogene Beurteilung des BVwG, dass die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG erfüllt seien. Damit erweist sich die Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
11 Im vorliegenden Fall ging das BVwG zutreffend davon aus, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG nur dann zulässig ist, wenn aufgrund dessen persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Mit dieser Bestimmung soll Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie (§ 2 Abs. 4 Z 18 FPG) umgesetzt werden, wozu der Gerichtshof der Europäischen Union bereits judizierte, dass hierauf gestützte Maßnahmen auf „außergewöhnliche Umstände“ begrenzt sein sollten; es sei vorausgesetzt, dass die vom Betroffenen ausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen „besonders hohen Schweregrad“ aufweise, was etwa bei bandenmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln der Fall sein könne (vgl. etwa VwGH 30.11.2023, Ro 2022/21/00 13, Rn. 14, u.a. mit dem Hinweis auf VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0250 , Rn. 9, wo auf EuGH [Große Kammer] 23.11.2010, Tsakouridis , C 145/09, insbesondere Rn. 40, 41 und 49 ff, sowie daran anknüpfend EuGH [Große Kammer] 22.5.2012, P.I. , C 348/09, Rn. 19 und 20 sowie Rn. 28, verwiesen wurde, wobei im zuletzt genannten Urteil im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, der zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe geführt hatte darauf hingewiesen wurde, dass eine Ausweisungsverfügung vor dem Hintergrund des Art. 28 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie [nur] gerechtfertigt sein kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten „besonders schwerwiegende Merkmale“ aufweist). Auch die Revision beruft sich zu Recht auf diese Rechtsprechung.
12 „Besonders schwerwiegende Merkmale“ in diesem Sinne in Bezug auf die Art und Weise der vom Revisionswerber begangenen strafbaren Handlungen werden auf Basis der getroffenen Feststellungen auch wenn das Fehlverhalten des Revisionswerbers nicht verharmlost werden kann vom BVwG nicht aufgezeigt. Überdies hat das BVwG zur Begründung der (deutlich) reduzierten Dauer des Aufenthaltsverbotes selbst zugunsten des Revisionswerbers ins Treffen geführt, dass bei der Verhängung der gegen den Revisionswerber ausgesprochenen Freiheitsstrafen der jeweilige Strafrahmen nicht annähernd ausgeschöpft worden sei, sondern sich die Strafhöhen eher im unteren Drittel des Strafrahmens bewegten. Erst bei seiner letzten Verurteilung wurde die Freiheitsstrafe erstmals unbedingt verhängt, wobei das BVwG auch diesem Umstand und dem „Erstvollzug“ eine die Gefährdungsprognose maßgeblich relativierende Bedeutung zugemessen hat. Wie das BVwG des Weiteren zur Begründung der Herabsetzung der Aufenthaltsverbotsdauer hervorhob, hat die frühere Lebensgefährtin des Revisionswerbers worauf sich das BVwG im angefochtenen Erkenntnis durch die wörtliche Zitierung dieser Passagen erkennbar bezog als Zeugin in der Beschwerdeverhandlung ausgesagt, dass der Revisionswerber seit der Haftentlassung keinen Grund mehr zur Klage gegeben habe, sich sehr um seine Tochter bemühe und es ihrer Einschätzung nach geschafft habe, von Drogen und Glücksspiel, mit denen er in der Vergangenheit in Kontakt geraten sei, loszukommen, zumal er so die Zeugin ohne Drogen ein sehr ruhiger Mensch und der Kontakt zu seiner Tochter für ihn wichtig sei, um auf „der geraden Linie“ zu bleiben (Seite 10 des Protokolls der Verhandlung vom 10. Oktober 2023). Diese Aussage gewinnt auch im Lichte der vom BVwG selbst ins Treffen geführten Rechtsprechung zum Wohlverhalten in Freiheit als maßgebliches Kriterium für den Gesinnungswandel eines Straftäters (vgl. dazu etwa VwGH 2.3.2023, Ra 2020/21/0018, Rn. 13) insofern an Gewicht, als der zeitliche Abstand zwischen der bedingten Entlassung aus der Strafhaft im Juni 2021 und der Verhandlung, in der die Aussage gemacht wurde, bereits deutlich mehr als zwei Jahre betrug. Auch darauf hätte das BVwG nicht erst bei der Reduktion der Dauer des Aufenthaltsverbots, sondern schon bei der Gefährdungsprognose ausreichend Bedacht nehmen müssen.
13 Angesichts all dessen kam die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Revisionswerber gemessen an den Voraussetzungen für eine aktuelle Gefährdungsprognose nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG entgegen der Ansicht des BVwG nicht in Betracht. Das macht die Revision zutreffend geltend.
14 Schon deshalb war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
15 Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Mai 2024
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