Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision des F A, vertreten durch Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. November 2024, W207 2294371 1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang der Anfechtung (Nichtgewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der darauf aufbauenden weiteren Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger arabischer Volksgruppenzugehörigkeit aus einem Heimatort nahe der Stadt Ar Raqqa, stellte am 13. Juli 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, vor der Zwangsrekrutierung durch kurdische Truppen in seiner Heimatregion geflohen zu sein.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asylzur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Syrien zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, dem Revisionswerber drohe im Falle einer Rückkehr nach Syrien keine asylrelevante Verfolgung. Insbesondere müsse er nicht befürchten, bei einer Weigerung, für die kurdischen Truppen zu kämpfen, unverhältnismäßigen Sanktionen ausgesetzt zu sein oder zur Beteiligung an Kampfhandlungen verpflichtet zu werden. Im Übrigen könne der Revisionswerber ungefährdet in seine Heimatregion, die unter Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden stehe und keine sich auf den Revisionswerber auswirkende extreme Gefährdungslage aufweise, gelangen und verfüge dort über ein „Unterstützungsnetzwerk“, das ihn aufnehmen und ihm die Ansiedlung durch (finanzielle) Unterstützungsleistungen, Unterkunft, Ratschläge und Kontakte erleichtern könne.
4 Gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie macht zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. geltend, das angefochtene Erkenntnis weise relevante Begründungsmängel auf, und zwar etwa auch zur Sicherheits und Versorgungslage am Herkunftsort. Das BVwG gehe davon aus, dass der Revisionswerber bei Rückkehr nicht in eine existenzbedrohende Lage geraten würde. Das Erkenntnis zitiere aber gleichzeitig Berichte aus dem Länderinformationsblatt, aus denen hervorgehe, dass mehr als 90 % der syrischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben würden und mindestens 12 Millionen Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmitteln hätten oder sich diese nicht leisten könnten. Die Versorgungslage im Nordwesten und Nordosten Syriens sei besonders angespannt. Von den 2,7 Millionen Menschen in Nordostsyrien seien rund 1,8 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Arbeitslosenquote in Nordsyrien liege bei 85 %. Allein aufgrund dieser Feststellungen sei die oben angeführte Einschätzung des BVwG nicht nachvollziehbar. Den Angaben des Revisionswerbers zufolge würde seine Familie nicht viel besitzen und sei auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zusätzlich gäbe es Unterstützung durch den Bruder im Irak, woraus sich aber nicht der Schluss ziehen lasse, dass diese Unterstützung zur Existenzsicherung des Revisionswerbers ausreichen würde.
5 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Die Revision ist im Sinne des dargestellten Zulässigkeitsvorbringens zulässig; sie ist auch begründet.
7Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sachund Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 14.3.2025, Ra 2024/18/0507, mwN). Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren.
8Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. dazu etwa VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0294, mwN).
9 Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass in der Heimatregion des Revisionswerbers im Nordosten Syriens zwar nach wie vor Bürgerkrieg herrsche, die sicherheitsrelevanten Vorfälle zuletzt aber zurückgegangen seien. Die Lage sei zwar besonders volatil, willkürliche Gewalt erreiche aber nicht ein so hohes Niveau, dass jede zurückkehrende Person davon betroffen sein könnte. Im Falle des Revisionswerbers sei aufgrund seiner persönlichen Umstände auch nicht davon auszugehen, dass er bei Rückkehr aufgrund der angespannten Versorgungslage, wie sie auch von der Revision angesprochen wird, in eine existenzbedrohende Lage geraten würde. Denn seine Kernfamilie (seine Mutter, eine Schwester, seine Ehefrau und ein Bruder) lebe nach wie vor in der Herkunftsregion und es stelle sich die wirtschaftliche Situation seiner Familie dem Revisionswerber zufolge als ausreichend dar. Er könne bei seiner Familie im Herkunftsort wohnen; er sei im erwerbsfähigen Alter, gesund und arbeitsfähig und weise bereits Arbeitserfahrung als Schneider auf (Erkenntnis S. 174).
10 Zu Recht macht die Revision geltend, dass diese Erwägungen mit Begründungsmängeln belastet sind. Das BVwG zieht nicht in Zweifel, dass die Wirtschafts- und Versorgungslage in Bezug auf grundlegende Lebensbedürfnisse wie etwa Nahrung und Unterkunft in der Heimatregion des Revisionswerbers (nach den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Länderfeststellungen, auf die sich auch die Revision bezieht) äußerst schlecht beschaffen sind. Dass der Revisionswerber deshalb bei Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten könnte, verneint das BVwG vor allem unter Hinweis auf das vorhandene familiäre Netzwerk, das ihm Hilfestellung bieten könne. Diesbezüglich traf das BVwG aber unzureichende und zum Teil nicht nachvollziehbare Feststellungen: So geht das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber nach seiner Rückkehr von seinen im Heimatort verbliebenen Familienangehörigen wieder aufgenommen würde und offenbar auch weitere Unterstützung bekäme. Mit den Lebensverhältnissen der Familie setzte sich das BVwG aber nicht näher auseinander. Die Annahme des BVwG, die wirtschaftliche Situation der Familie des Revisionswerbers sei „dem [Revisionswerber] zufolge ... ausreichend“, ist letztlich nicht nachvollziehbar, zumal der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, seine Familie lebe nun in einem Zeltlager und die frühere Landwirtschaft (Schafzucht) existiere nicht mehr. Das BVwG schenkte diesen Angaben zwar mit näherer Begründung keinen Glauben, stellte aber umgekehrt lediglich fest, der Bruder des Revisionswerbers betreibe in der Heimatregion eine in Art und Größe nicht näher umschriebene Landwirtschaft. Zu den tatsächlichen Wohnverhältnissen der Familie enthält das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen. Auch wird nicht näher erläutert, weshalb das BVwG trotz hoher Arbeitslosigkeit in der Region davon ausgeht, dass der Revisionswerber seine geringeBerufserfahrung als Näher (Schneider) existenzsichernd nutzen werde können. Somit lässt sich insgesamt auch nicht nachvollziehen, ob das familiäre Netzwerk des Revisionswerbers in der Heimat tatsächlich in der Lage wäre, die allgemein äußerst angespannte Versorgungslage zu kompensieren, um die reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK zu verneinen.
11Schon deshalb kann das angefochtene Erkenntnis (im Umfang der Anfechtung) keinen Bestand haben. Es war daher insoweit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen eingegangen werden müsste.
12Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 6. November 2025
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