Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen des S C (auch F I) in W, vertreten durch Dr. Michael Drexler, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hörlgasse 4/5, gegen 1. das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2020, L526 1313924 3/17E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, und 2. den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Jänner 2023, L510 1313924 4/10E, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
I. Die Revision gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. Oktober 2020, L526 1313924 3/17E, wird zurückgewiesen.
II. Das Verfahren über die Revision gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Jänner 2023, L510 1313924 4/10E, wird als gegenstandslos geworden erklärt und eingestellt. Ein Aufwandersatz findet nicht statt.
1 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erteilte dem Revisionswerber, einem türkischen Staatsangehörigen, mit Bescheid vom 11. Dezember 2019 keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und erließ gegen ihn ein befristetes Einreiseverbot. Weiters erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise des Revisionswerbers.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 16. Oktober 2020 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
3 Begründend stützte sich das BVwG im Wesentlichen darauf, dass der Revisionswerber bereits achtmal in Österreich rechtskräftig strafgerichtlich (auch zu mehrjährigen Freiheitsstrafen) verurteilt worden sei.
4 Zuletzt sei der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 30. April 2019 wegen fortgesetzter Gewaltausübung gemäß § 107b Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt worden. Zudem sei gegen ihn gemäß den unbestritten gebliebenen Feststellungen des BVwG am 19. November 2019 Anklage u.a. wegen Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und Fälschung besonders geschützter Urkunden erhoben worden.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.
6 Mit Beschluss des BVwG vom 31. Jänner 2023, L510 1313924 4/10E, wurde u.a. der Antrag des Revisionswerbers vom 20. Jänner 2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung einer Revision gegen das Erkenntnis vom 16. Oktober 2020 gemäß § 46 VwGG abgewiesen. Das BVwG sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 Auch gegen diesen Beschluss erhob der Revisionswerber eine außerordentliche Revision.
8 Wegen des sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges hat der Verwaltungsgerichtshof die beiden Revisionen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
9 I. Zur Revision gegen das Erkenntnis des BVwG vom 16. Oktober 2020:
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 Hat das Verwaltungsgericht wie im gegenständlichen Fall im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig ist, hat die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.
14 Im Revisionsfall wird in der Zulässigkeitsbegründung zunächst ausgeführt, dass der Revisionswerber in der Haft resozialisiert worden sei. Diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass bei der Beurteilung des Wohlverhaltens in erster Linie das gezeigte Verhalten in Freiheit maßgeblich ist (vgl. VwGH 8.11.2022, Ra 2022/21/0105, mwN) und der Revisionswerber erst im Oktober 2022 aus der Strafhaft entlassen wurde.
15 Soweit die Revision auf die Ausführungen des BVwG betreffend die vom Revisionswerber im Jahr 2001 eingegangene (und mittlerweile geschiedene) Scheinehe sowie seine „Scheinkonversion“ zum Christentum Bezug nimmt, zeigt sie keine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf (vgl. VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0384, wonach die fremdenpolizeiliche Feststellung, eine Ehe sei nur zum Schein geschlossen worden, die Nichtigerklärung der Ehe nicht voraussetzt; und VwGH 9.3.2023, Ra 2022/19/0196, wonach betreffend die Annahme einer „Scheinkonversion“ in Zusammenhang mit der Beweiswürdigung eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat). Zudem stellte das BVwG das Eingehen einer Scheinehe und das Vorliegen einer „Scheinkonversion“ lediglich im Rahmen der Darstellung des Verfahrensganges fest und stützte sich in seiner rechtlichen Beurteilung nicht tragend auf diese Aspekte.
16 Weiters ist in Bezug auf die Rückkehrentscheidung eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. VwGH 13.7.2022, Ra 2022/17/0035, mwN). Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/22/0247, mwN).
17 Das BVwG hat auch unter Einbeziehung der vom Revisionswerber ins Treffen geführten Umstände ausreichende Feststellungen, insbesondere zu seinem bisherigen (langjährigen) Aufenthalt in Österreich, seinen familiären Beziehungen und seinen Sprachkenntnissen getroffen, und diese in seine Interessenabwägung eingebunden.
18 Insgesamt gelingt es der Revision nicht, eine Unvertretbarkeit der unter Verwertung des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber erfolgten Gefährdungsprognose und der Interessenabwägung aufzuzeigen.
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
20 II. Zur Revision gegen den Beschluss des BVwG vom 31. Jänner 2023:
21 Wird vom Revisionswerber in der Revision gegen das Erkenntnis vom 16. Oktober 2020 keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend gemacht, so kommt auch der Frage, ob dem Antrag des Revisionswerbers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist stattzugeben wäre, nur mehr theoretische Bedeutung zu, weshalb sich eine Entscheidung über diesen Antrag erübrigt (vgl. VwGH 8.3.2021, Ra 2020/14/0264).
22 Gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG ist eine Revision mit Beschluss als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen, wenn in irgendeiner Lage des Verfahrens offenbar wird, dass der Revisionswerber klaglos gestellt wurde.
23 Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist bei einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 1 B VG unter einer „Klaglosstellung“ nach § 33 Abs. 1 VwGG nicht nur eine solche zu verstehen, die durch eine formelle Aufhebung des beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnisses oder Beschlusses eingetreten ist. Vielmehr liegt ein Einstellungsfall (wegen Gegenstandslosigkeit) insbesondere auch dann vor, wenn der Revisionswerber kein rechtliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung hat und somit materiell klaglos gestellt wurde (vgl. VwGH 11.2.2019, Ra 2018/22/0016, mwN).
24 Das Rechtsschutzinteresse ist immer dann zu verneinen, wenn es (auf Grund der geänderten Umstände) für die Rechtsstellung des Revisionswerbers keinen Unterschied macht, ob die angefochtene Entscheidung aufrecht bleibt oder aufgehoben wird, bzw. wenn die Erreichung des Verfahrenszieles für ihn keinen objektiven Nutzen hat, die in der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen somit insoweit nur (mehr) theoretische Bedeutung haben (vgl. VwGH 22.6.2022, Ra 2021/10/0193).
25 Angesichts der Zurückweisung der Revision gegen das Erkenntnis des BVwG vom 16. Oktober 2020 (vgl. oben unter Pkt. I.) kommt der Frage, ob der Beschluss des BVwG vom 31. Jänner 2023, mit dem der Antrag des Revisionswerbers vom 20. Jänner 2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung einer Revision gegen dieses Erkenntnis abgewiesen worden war, rechtmäßig wäre, bloß theoretische Bedeutung zu.
26 Das diesbezügliche Revisionsverfahren war daher in sinngemäßer Anwendung des § 33 Abs. 1 VwGG als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
27 Mangels einer formellen Klaglosstellung liegt im vorliegenden Fall die Voraussetzung für einen Zuspruch von Aufwandersatz gemäß § 55 VwGG nicht vor. Ein Zuspruch von Aufwandersatz nach § 58 Abs. 2 VwGG setzt jedoch voraus, dass die Entscheidung hierüber keinen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert. Dies ist im Revisionsfall nicht gegeben. Somit wird gemäß § 58 Abs. 2 VwGG nach freier Überzeugung kein Aufwandersatz zuerkannt.
Wien, am 1. Juni 2023
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