Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision des J J, MBA akad. BO, in P, vertreten durch Mag. Ruben Steiner, Rechtsanwalt in 6410 Telfs, Giessenweg 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2022, I407 2260803 1/3E, betreffend Ratenzahlungsersuchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Innsbruck), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber wurde durch mehrere Bescheide und Erkenntnisse zur Rückzahlung von Leistungen nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG) in Raten verpflichtet und stellte mit Schreiben vom 16. Juni 2022 beim Arbeitsmarktservice Innsbruck (AMS) ein Ersuchen um Herabsetzung der Höhe der Raten.
2 Das AMS erließ daraufhin eine als Bescheid bezeichnete und mit 5. September 2022 datierte Erledigung, in deren Spruch festgestellt wurde, dass dem (näher umschriebenen) Ansuchen um Ratenzahlung nicht stattgegeben werde.
3 Der Revisionswerber erhob gegen diese Erledigung Beschwerde, erstattete ein näheres Sachverhaltsvorbringen und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
4 Im vorgelegten Akt des AMS befindet sich eine als Beilage zum Beschwerdeschriftsatz des Revisionswerbers übermittelte Kopie einer Ausfertigung der Erledigung vom 5. September 2022. Auf dieser Kopie der ihrem äußeren Erscheinungsbild nach elektronisch erstellten Erledigung ist die folgende Form der Fertigung ersichtlich:
„Arbeitsmarktservice Innsbruck
Regionale Geschäftsstelle
Schöpfstraße 5, 6010 Innsbruck
[Vor und Nachname der Genehmigenden]
Service für Arbeitskräfte
Abteilungsleiterin“
5 Eine Amtssignatur ist auf dieser Kopie nicht ersichtlich, ebensowenig eine Unterschrift der Genehmigenden oder eine Beglaubigung der Kanzlei.
6 Mit Erkenntnis vom 16. Dezember 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab und erklärte eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig. In der Begründung setzte sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem Sachverhaltsvorbringen des Revisionswerbers (u.a. bezüglich seiner monatlichen Ausgaben) auseinander und verwarf dieses unter Anführung von in der Beweiswürdigung näher dargelegten Gründen.
7 Zur Abstandnahme von der beantragten mündlichen Verhandlung verwies das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass eine mündliche Verhandlung nicht beantragt worden sei, das AMS ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt habe, sich der Sachverhalt „zweifelsfrei aufgrund der Aktenlage ergebe und „der entscheidungsrelevante Sachverhalt“ somit „weder in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig“ sei noch „in entscheidenden Punkten als nicht richtig“ erscheine, weshalb das Verwaltungsgericht davon ausgehe, „dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten“ lasse.
8 Mit Schreiben vom 2. Jänner 2023 (beim Verwaltungsgerichtshof eingelangt am 10. Jänner 2023) beantragte der Revisionswerber die Gewährung der Verfahrenshilfe zur Einbringung einer Revision gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts. Der Verwaltungsgerichtshof gewährte mit Beschluss vom 20. Februar 2023 die Verfahrenshilfe. Mit Schriftsatz des dem Revisionswerber im Rahmen der Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalts vom 23. März 2023 (welcher am gleichen Tag zur Post gegeben wurde) erhob der Revisionswerber gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts Revision und brachte darin zur Darlegung der Zulässigkeit (und in den Revisionsgründen) vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht der Verwaltungsgerichte abgewichen.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Einleitung des Vorverfahrens in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist im Hinblick auf die in der Revision geltend gemachte Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht der Verwaltungsgerichte zulässig.
11 Sie ist aus dem nachfolgenden, vorgelagert wahrzunehmenden Grund auch berechtigt.
12 Der Verfassungsgerichtshof hat im aufhebenden Erkenntnis vom 9. März 2023, G 295/2022 10 u.a., zum einen ausgesprochen, dass „§ 47 Abs. 1 fünfter Satz des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609/1977, idF BGBl. I Nr. 38/2017 ... als verfassungswidrig aufgehoben“ (Spruchpunkt I.) wird, und zum anderen, dass „[d]ie aufgehobene Bestimmung ... in den am 9. März 2023 beim Verwaltungsgerichtshof und beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden“ ist (Spruchpunkt IV.).
13 Im vorliegenden Revisionsfall wurde der Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe zur Einbringung einer Revision bereits vor dem 9. März 2023 gestellt. Die diesbezüglich innerhalb offener Frist erhobene Revision ist auf Grund des § 26 Abs. 3 VwGG als zum Zeitpunkt der Einbringung des Verfahrenshilfeantrages gestellt und somit das Verfahren am 9. März 2023 beim Verwaltungsgerichtshof als anhängig anzusehen (vgl. VwGH 16.9.2009, 2009/09/0112, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur sog. Quasianlassfallwirkung). Der zugrunde liegende Fall ist daher infolge des Ausspruchs des Verfassungsgerichtshofes, dass die aufgehobene Bestimmung in den am 9. März 2023 beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist, einem Anlassfall gleichzuhalten. Der Revisionsfall ist daher nach der durch das aufhebende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes „bereinigten Rechtslage“ zu beurteilen. Folglich ist die Frage der Bescheidqualität der Erledigung des AMS vom 5. September 2022 unter Anwendung von § 18 AVG und unter Außerachtlassung der (aufgehobenen) abweichenden Regelung des § 47 Abs. 1 fünfter Satz AlVG zu beurteilen.
14 Aus der Aktenlage ergeben sich Anhaltspunkte dafür (siehe oben Rn. 4), dass die Erledigung vom 5. September 2022 an den Revisionswerber in Form einer Ausfertigung ergangen ist, die weder eine Amtssignatur noch eine Unterschrift des/der Genehmigenden oder eine Beglaubigung der Kanzlei aufwies und somit den (infolge der dargelegten Rückwirkung auf den Anlassfall auf Grundlage der bereinigten Rechtslage gemäß § 18 AVG zu beurteilenden) Anforderungen an eine wirksame Bescheidausfertigung nicht genügte. Das AMS hat sich zu einem auf die äußere Form der an den Revisionswerber ergangenen Ausfertigung bezogenen Vorhalt des Verwaltungsgerichtshofes dahingehend geäußert, dass die genannte Erledigung zunächst am 5. September 2022 postalisch ergangen und aufgrund eines Vorbringens des Revisionswerbers, dass er „keinen Bescheid erhalten habe“, nochmals am 15. September 2022 versendet worden sei. Zu einer abschließenden Sachverhaltsfeststellung und darauf gestützten Entscheidung in der Sache selbst im Sinne des § 42 Abs. 4 VwGG sieht sich der Verwaltungsgerichtshof angesichts dessen nicht veranlasst; dies wird das Bundesverwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren (allenfalls nach Durchführung notwendiger ergänzender Ermittlungen und Wahrung des Parteiengehörs) vorzunehmen haben. Sollte das Bundesverwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren feststellen, dass die Erledigung dem Revisionswerber nicht (dh. weder beim ersten vom AMS behaupteten noch beim behaupteten zweiten Zustellvorgang) in einer dem § 18 AVG entsprechenden Form zugestellt wurde, wird es den von der belangten Behörde damit intendierten Bescheid als nicht erlassen anzusehen und die dagegen gerichtete Beschwerde zurückzuweisen haben (vgl. VwGH 28.2.2018, Ra 2015/06/0125; 22.4.2021, Ra 2020/18/0442). Sollte das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der vorzunehmenden Ermittlungen hingegen die Zustellung eines den Erfordernissen des § 18 AVG entsprechend ausgefertigten Bescheides feststellen, wird es eine meritorische Entscheidung über die Beschwerde, wie sie mit dem angefochtenen Erkenntnis getroffen wurde, nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung vornehmen dürfen. Der Revisionswerber ist mit dem gegen das angefochtene Erkenntnis erhobenen Vorwurf im Recht, dass er die Durchführung einer Verhandlung (entgegen der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses) beantragt und zu den für die Festsetzung der monatlichen Raten relevanten Tatsachen (die tatsächlichen Aufwendungen zur Bestreitung seiner Lebensverhältnisse) ein konkretes, über die Annahmen des angefochtenen Bescheides hinausgehendes Vorbringen erstattet hatte, so dass auch nicht von einem unstrittigen Sachverhalt ausgegangen werden konnte, der das Bundesverwaltungsgericht allenfalls zur Abstandnahme von der Verhandlung berechtigt hätte.
15 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. Juni 2023
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