Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. August 2022, 1. W119 2146286 2/13E und 2. W119 2146292 2/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. B A und 2. A S, beide in 5020 Salzburg), zu Recht erkannt:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden im Umfang der Spruchpunkte II. bis IV. hinsichtlich des Erstmitbeteiligten wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften und hinsichtlich der Zweitmitbeteiligten wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben.
1 Der im August 2014 geborene minderjährige Erstmitbeteiligte und seine Mutter, die Zweitmitbeteiligte, sind Staatsangehörige Kirgisistans und stellten erstmals am 25. Juli 2016 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Diese Anträge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheiden vom 19. Dezember 2016 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin III Verordnung Polen zuständig sei, ordnete die Außerlandesbringung der Mitbeteiligten an und erklärte die Abschiebung nach Polen für zulässig.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 2. Februar 2017 als unbegründet ab. Bereits einen Tag zuvor waren die Mitbeteiligten nach Polen überstellt worden.
4 Am 8. März 2020 stellten die Mitbeteiligten in Österreich neuerlich gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz, die von der Zweitmitbeteiligten unter anderem mit der autistischen Störung ihres Sohnes und der Verschlechterung seines Zustandes mangels medizinischer Versorgung in Polen begründet wurden. Außerdem würde ihr Ehemann sie verprügeln.
5 Diese Anträge wies das BFA mit Bescheiden vom 24. November 2020 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte den Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Kirgisistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
6 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt I.), gab jedoch im Übrigen der Beschwerde statt, erkannte den Mitbeteiligten den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.), erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.) und behob die verbleibenden Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt IV.). Ferner sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 In seiner Begründung stellte das BVwG fest, dass der Erstmitbeteiligte an einer globalen Entwicklungsstörung und an frühkindlichem Autismus leide. Im Falle einer Rückkehr nach Kirgisistan laufe der Erstmitbeteiligte Gefahr, aufgrund der mangelhaften Behandlungs und Therapiemöglichkeiten in Kirgisistan in Zusammenhang mit seiner Autismus-Erkrankung einer Situation ausgesetzt zu werden, die nachteilige Auswirkungen auf seine Gesundheit sowie auf seine körperliche und geistige Entwicklung haben könnte. Diese Feststellungen stützte das BVwG beweiswürdigend auf die Angaben der Zweitmitbeteiligten in Zusammenschau mit den von ihr vorgelegten medizinischen Unterlagen und einem Bericht über die Behandlung von Autismus in Kirgisistan. Den Befunden sei so das BVwG weiter zu entnehmen, dass eine Beendigung des bisher in Anspruch genommenen Therapieangebotes in Österreich beim Erstmitbeteiligten zu einem Stillstand in seiner Entwicklung und einer Verschlechterung der Autismus Symptomatik führen würde. Es würden Anhaltspunkte dahingehend vorliegen, dass eine Rückführung des Erstmitbeteiligten in den Herkunftsstaat zu einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen könnte, zumal nicht gesichert erscheine, dass in Kirgisistan die notwendigen Therapien ohne Unterbrechung möglich seien bzw. die Zweitmitbeteiligte in der Lage sein werde, die kostenintensiven Therapiemöglichkeiten für den Erstmitbeteiligten zu finanzieren. Die individuelle Situation des Erstmitbeteiligten als gesundheitlich beeinträchtigtes und besonders vulnerables Kind berge daher bei einer Rückkehr das reale Risiko in sich, Opfer einer Verletzung des Art. 3 EMRK zu werden. Der Zweitmitbeteiligten sei aufgrund ihrer Eigenschaft als Familienangehörige des Erstmitbeteiligten der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
8 Gegen die Spruchpunkte II. bis IV. der angefochtenen Erkenntnisse wendet sich die vorliegende Amtsrevision. Zur Zulässigkeit wird zusammengefasst geltend macht, dass die Beurteilung, ob außergewöhnliche Umstände iSd höchstgerichtlichen Rechtsprechung vorliegen, nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraussetze. Zwar stelle das BVwG eine Erkrankung des Erstmitbeteiligten fest, gehe aber nicht auf die zu erwartenden Auswirkungen im Falle des Fehlens der „notwendigen Therapien“ ein. Aufgrund der getroffenen Feststellungen lasse sich nicht beurteilen, ob der minderjährige Erstmitbeteiligte in Kirgisistan unter qualvollen Umständen sterben würde oder einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt wäre, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde, und somit außergewöhnliche Umstände vorlägen, die die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen erfordern würden. Derartige Feststellungen hätte das BVwG außerdem nur aufgrund eines entsprechenden Sachverständigengutachtens treffen dürfen.
9 Im Rahmen des eingeleiteten Vorverfahrens erstatteten die Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung, in der geltend gemacht wird, dass die Schwelle der Verletzung von Art. 3 EMRK für Kinder niedriger anzusetzen sei als für Erwachsene. Für den Erstmitbeteiligten, der in Österreich Stabilität vorfinde, bedeute jede Änderung Stress und Rückzug.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat ein Fremder im Allgemeinen kein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedoch jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 2.5.2022, Ra 2021/19/0428, 0429, mwN, unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien , 41738/10).
13 Ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, ist eine von der Behörde bzw. vorliegend dem BVwG zu beurteilende Rechtsfrage. Diese Beurteilung setzt aber nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. VwGH 12.7.2021, Ra 2021/01/0114, mwN).
14 Im vorliegenden Fall erkannte das BVwG dem Erstmitbeteiligten wegen einer festgestellten globalen Entwicklungsstörung und seiner Erkrankung an frühkindlichem Autismus den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, ohne diese Entscheidung wie die Amtsrevision zutreffend geltend macht unter Bedachtnahme auf die soeben dargestellten rechtlichen Leitlinien aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung hinreichend zu begründen.
15 Dem angefochtenen Erkenntnis sind keine Feststellungen darüber zu entnehmen, welche medizinische Behandlung der Erstmitbeteiligte aufgrund seiner Erkrankung benötigt und ob der Erstmitbeteiligte in Ermangelung einer allfälligen Behandlung in eine Lage geraten könnte, die im Sinne der zitierten Rechtsprechung die Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Ohne derartige Feststellungen, die auf der Grundlage nachvollziehbarer Beweise zu treffen wären, kann das vom BVwG erzielte Ergebnis nicht nachvollzogen werden.
16 In diesem Zusammenhang bringt die Amtsrevision auch zu Recht vor, dass das BVwG die Auswirkungen einer Rückführung des Erstmitbeteiligten in den Herkunftsstaat nicht ohne Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen hätte beurteilen dürfen:
17 Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann „notwendig“ iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. erneut VwGH Ra 2021/01/0114, mwN).
18 Allein auf Basis der vom Erstmitbeteiligten vorgelegten ärztlichen Befunde und ohne Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen ist weder erkennbar noch überprüfbar, ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, dass der Erstmitbeteiligte mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.
19 Lediglich der Vollständigkeit halber sei außerdem angemerkt, dass die Zuerkennung von subsidiärem Schutz einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK bedarf und es nicht ausreicht, eine derartige Verletzung wie das BVwG argumentierte in einer bloß nachteiligen Auswirkung auf die Gesundheit sowie die körperliche und geistige Entwicklung zu erblicken.
20 Soweit in der Revisionsbeantwortung vorgebracht wird, die Schwelle für die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK sei im Falle des Erstmitbeteiligten aufgrund seiner Minderjährigkeit niedriger als für Erwachsene anzusetzen, ist dem zu entgegen, dass das BVwG im fortgesetzten Verfahren nach der Rechtsprechung der Höchstgerichte ohnedies die Verpflichtung hat, unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die bei einer Rückkehr zu erwarten sind, durchzuführen und sich nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes substantiiert mit den die Sicherheits und Versorgungslage für Kinder betreffenden Länderinformationen im Herkunftsstaat auseinandersetzen (vgl. zuletzt VwGH 17.7.2023, Ra 2022/19/0184, mwN).
21 Das den Erstmitbeteiligten betreffende Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang, nämlich soweit damit über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgesprochen wurde und rechtlich davon abhängende Aussprüche getätigt wurden, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Der Umstand, dass das einen Familienangehörigen betreffende Erkenntnis aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 15.6.2021, Ra 2020/19/0344 bis 0346, mwN). Das die Zweitmitbeteiligte betreffende Erkenntnis war daher im spruchgemäßen Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 25. Juli 2023
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