Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des K S A C, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf Dietrich Straße 19/5, gegen das am 16. Oktober 2019 verkündete und am 4. November 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, G301 2219362 1/12E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Venezuela und Syrien und stellte am 5. November 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Zu seinen Fluchtgründen brachte der Revisionswerber vor, er habe in Venezuela gelebt, wo sein Vater, nachdem dieser ein Stück Land verkauft habe, von einer militanten Gruppe mit „mafiöser Struktur“ namens „Nationale Befreiungsarmee (ELN)“ unter Androhung der Entführung des Revisionswerbers bedroht worden sei. Seine Familie seien Araber und er sei in Venezuela aus diesem Grund diskriminiert, beschimpft und geschlagen worden. Zur vorgebrachten Bedrohung durch die ELN legte der Revisionswerber drei Briefe vor und verwies darauf, dass sowohl in den Drohbriefen als auch im Zuge eines Drohanrufs rassistische Formulierungen verwendet worden seien („Türke“, „verdammter Araber“ und „Mucio“).
3 Mit dem Bescheid vom 16. April 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.), erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Venezuela zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
4 Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde.
5 Mit Spruchpunkt A) I. des am 16. Oktober 2019 verkündeten und am 4. November 2019 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde im Umfang der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab. Mit Spruchpunkten A) II. und A) III. gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde hinsichtlich der Abweisung des Antrags im Umfang der Zuerkennung von subsidiärem Schutz Folge, erkannte dem Revisionswerber diesen Status zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter. Mit Spruchpunkt A) IV. hob das Bundesverwaltungsgericht die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids (III., IV., V. und VI.) ersatzlos auf.
6 Die Abweisung der Beschwerde begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass eine gegen den Revisionswerber gerichtete und vom Herkunftsstaat ausgehende (oder diesem zurechenbare) Verfolgung aus asylrelevanten Gründen im Sinne der GFK „weder im Verfahren vor der belangten Behörde noch im Verfahren vor dem BVwG vorgebracht bzw. glaubhaft gemacht“ worden sei. Der Revisionswerber habe im gesamten Verfahren „das Vorliegen allfälliger Probleme mit staatlichen Behörden des Herkunftsstaates“ ausdrücklich verneint. Zum Vorbringen, wonach er sich in Venezuela nicht mehr sicher gefühlt habe und sich im Fall der Rückkehr weiterhin vor möglichen Bedrohungen fürchte, sei festzuhalten, dass diese subjektive Furcht für sich genommen nicht ausreiche, um von einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK ausgehen zu können. Zur vorgebrachten Gefahr, von Angehörigen einer kriminellen Gruppierung entführt oder sogar getötet zu werden, sei festzuhalten, „dass auch bei Wahrunterstellung und Annahme der Glaubhaftigkeit“ diese Verfolgungsgefahr „weder in einem kausalen Zusammenhang mit einem in der GFK abschließend genannten Verfolgungsgründe“ stehe, noch von staatlichen Organen ausgehe „oder dem Herkunftsstaat sonst zurechenbar wäre“. Bei einer Verfolgung durch Privatpersonen handle es sich weder um eine von einer staatlichen Behörde ausgehende noch um eine dem Staat zurechenbare Verfolgung, die von den staatlichen Einrichtungen geduldet würde. Vielmehr handle es sich dabei um eine private Auseinandersetzung, „deren Ursache nicht im Zusammenhang mit einem der in der GFK abschließend angeführten Verfolgungsgründe“ stehe, sondern „aus anderen Beweggründen“ bestehe, insbesondere aus kriminellen, persönlichen oder gesellschaftlichen Motiven.
7 Weder in der Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung sei „die staatliche Schutzfähigkeit als solche“ thematisiert oder in Frage gestellt worden. So sei auch nicht konkret dargelegt worden, dass und weshalb dem Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat „überhaupt kein staatlicher Schutz vor der behaupteten privaten Verfolgung“ zuteil werden könne.
8 Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass sich Venezuela in einer politisch äußerst instabilen Lage befinde, die aktuell von einer massiven politischen und mittlerweile auch von zahlreichen gewaltsamen Vorfällen begleiteten Auseinandersetzung zwischen dem amtierenden Staatspräsidenten Nicolás Maduro und den ihm gegenüber loyalen staatlichen Institutionen einerseits und dem Präsidenten der venezolanischen Nationalversammlung Juan Guaidó und dessen Anhängern andererseits geprägt sei. Überdies herrsche in Venezuela eine als äußerst prekär zu qualifizierende Versorgungs- und Sicherheitslage, die weitgehend durch die Politik von Präsident Nicolás Maduro und das Verhalten der ihm untergebenen staatlichen Einrichtungen verursacht und verschuldet sei. Im gesamten Staatsgebiet, insbesondere auch in der Hauptstadt Caracas und den übrigen großen Städten, herrsche ein permanenter Mangel an Grundnahrungsmitteln und Medikamenten sowie sonstigen notwendigen Gütern des täglichen Bedarfs wie Hygieneartikel. Zur allgemeinen Sicherheitslage sei festzuhalten, dass der Alltag von einer ausufernden Kriminalität und zahlreichen Fällen massiver und auch willkürlich ausgeübter Gewalt geprägt sei, wobei die staatlichen Einrichtungen „immer stärker nicht in der Lage oder nicht willens“ seien, dagegen tätig zu werden. Durch eine Rückführung nach Venezuela drohe dem Revisionswerber somit „durch die direkte Einwirkung und durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur“ ein reales Risiko einer unmenschlichen Behandlung und damit einer Verletzung von nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten.
9 Das Bundesverwaltungsgericht erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für unzulässig.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit bringt der Revisionswerber vor, die Revision hänge von einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung ab, weil das Bundesverwaltungsgericht unter anderem dadurch von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, dass es sich mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, seine arabischstämmige Familie werde aus rassistischen Gründen zum Opfer von Erpressungsversuchen der „Nationalen Befreiungsarmee“ (ELN), nicht auseinandergesetzt habe und in aktenwidriger Weise davon ausgegangen sei, dass er eine Bedrohung aus einem in der GFK genannten Verfolgungsgrund nicht einmal behauptete habe. Diese auf einer aktenwidrigen Annahme beruhende Beweiswürdigung sei unschlüssig. Weiters wendet sich die Revision gegen die Annahme der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden Venezuelas.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
13 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig; zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG liegt als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0711, mwN).
14 Die Beweiswürdigung ist damit nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0350, mwN).
15 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 24.6.2020, Ra 2019/20/0536, mwN).
16 Eine vollständige Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände lässt die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts vermissen. Wenn sich diese tragend darauf stützt, der Revisionswerber habe keine Bedrohung „aus einem der in der GFK abschließend genannten Verfolgungsgründe“ behauptet, übergeht das Verwaltungsgericht wie die Revision zutreffend aufzeigt jenes Vorbringen, mit dem der Revisionswerber unter Vorlage entsprechender Beweismittel auf die mit der Androhung seiner Entführung verbundenen Drohungen der „Nationalen Befreiungsarmee“ (ELN) sowie darauf hingewiesen hat, dass die Bedrohung (auch) auf die arabische Volksgruppenzugehörigkeit des Revisionswerbers (und seiner Familie) zurückzuführen sei. Die Behauptung einer auf solche Weise motivierten Bedrohung kann nicht von vornherein als unerheblich qualifiziert werden, weil sie eine asylrelevante Verfolgung „aus Gründen der Rasse“ im Sinne von Art. 1 GFK darstellen kann.
17 Das Vorbringen, dass die geltend gemachte Gefährdung mit der Androhung einer Entführung des Revisionswerbers verbunden gewesen sei, gibt das Verwaltungsgericht zwar wieder, führt aber über die pauschale Behauptung des Gegenteils hinaus keine Begründung dafür an, warum daraus „keine Anhaltspunkte“ für eine den Revisionswerber „selbst“ unmittelbar drohende Verfolgungsgefahr „hervorgehe“. Aus der Begründung des Verwaltungsgerichts lässt sich (mangels näherer Auseinandersetzung mit den Aussagen des Revisionswerbers) auch nicht erkennen, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers eine ausreichende Konkretisierung abspricht.
18 Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei Vermeidung der dargelegten Mängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können.
19 Die als Alternativbegründung angeführten Überlegungen, dass der Revisionswerber nicht dargetan habe, dass ihm „kein staatlicher Schutz vor der behaupteten privaten Verfolgung“ zuteil werden könne, sind schon vor dem Hintergrund der oben wiedergegebenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewährung von subsidiärem Schutz nicht ohne Weiteres tragfähig.
20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. März 2021
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