L502 2291619-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.11.2025 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 04.06.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 05.06.2023 erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Im Zuge dessen wurde sein türkischer Personalausweis behördlich sichergestellt.
3. Am 03.08.2023 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein Untersuchungsbericht der Landespolizeidirektion Niederösterreich ein.
4. Am 13.02.2024 übermittelte das Arbeitsmarktservice (AMS) dem BFA eine Beschäftigungsbewilligung zugunsten des BF.
5. Am 04.04.2024 wurde er vor dem BFA zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Ihm wurde die Möglichkeit einer Stellungnahme zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zum Herkunftsstaat eingeräumt, worauf er verzichtete.
6. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 04.04.2024 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde sein Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat abgewiesen (Spruchpunkt II). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI).
7. Mit Information des BFA vom 09.04.2024 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.
8. Gegen den ihm am 22.04.2024 persönlich zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner zugleich bevollmächtigten vormaligen Vertretung vom 06.05.2024 fristgerecht Beschwerde erhoben.
9. Die Beschwerdevorlage des BFA langte am 08.05.2024 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das Beschwerdeverfahren der nun zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.
10. Das BFA brachte am 10.01.2025 beim BVwG eine bescheidmäßige Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung zugunsten des BF in Vorlage.
11. Am 23.10.2025 gab seine nunmehrige Vertretung ihre Bevollmächtigung gegenüber dem BVwG bekannt.
12. Mit Eingabe vom selben Tag setzte seine vormalige Vertretung das BVwG über die Auflösung der Vollmacht in Kenntnis.
13. Seine Vertretung erstattete mit schriftlicher Eingabe vom 10.11.2025 eine Stellungnahme und legte zugleich mehrere Beweismittel vor.
14. Das BVwG führte am 12.11.2025 eine mündliche Verhandlung in der Sache des BF in dessen Anwesenheit und der seiner Vertretung durch. In der Verhandlung wurden ihm Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht.
15. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus dem Strafregister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem Betreuungsinformationssystem, dem AJ-Web sowie dem Zentralen Melderegister.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Türken sowie der Glaubensgemeinschaft des Islam an. Er ist ledig und kinderlos.
Er wurde in der südostanatolischen Provinz Gaziantep geboren und wuchs dort in der im Landkreis XXXX gelegenen Ortschaft XXXX auf, wo er auch bis zur Ausreise aus der Türkei lebte.
Er besuchte in der Türkei acht Jahre die Grundschule, sechs Monate ein Lyzeum in XXXX und weitere sechs Monate ein Lyzeum in der Nachbarortschaft XXXX . Er wechselte das Lyzeum, weil einerseits im Lyzeum in XXXX Unterrichtsfächer in arabischer Sprache abgehalten wurden und er deshalb Schwierigkeiten beim Lernen hatte und er andererseits dort in einem Internat untergebracht war und Heimweh hatte. Er beendete den Schulbesuch vorzeitig um arbeiten und Geld verdienen zu können. Er war anschließend bei einem Bauunternehmen in Bursa als Baggerfahrer beschäftigt und wurde zur Erfüllung von Bauaufträgen in verschiedenen Städten, wie Bursa, Ankara, Istanbul und Antalya, eingesetzt.
Er hat den in der Türkei verpflichtend vorgesehenen Wehrdienst absolviert.
In seiner Herkunftsregion leben nach wie vor seine Eltern, ein Bruder und eine Schwester. Sie wohnen in einem im Eigentum der Eltern stehenden Haus. Sein Vater geht in Deutschland einer saisonalen Erwerbstätigkeit als Baggerführer nach und kehrt in den Wintermonaten in die Türkei zurück. Seine Mutter ist Hausfrau. Seine minderjährigen Geschwister besuchen die Schule. Er steht mit seinen Familienangehörigen regelmäßig in Kontakt.
Er hat die Türkei zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2023 illegal verlassen und reiste schlepperunterstützt über mehrere Länder bis in das österreichische Bundesgebiet, wo er im Gefolge seiner unrechtsmäßigen Einreise am 04.06.2023 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.
1.2. Er spricht Türkisch und verfügt über einfache Deutschkenntnisse. Er hat bislang weder eine Deutsch- noch eine Integrationsprüfung absolviert.
Er ist in Österreich weder Mitglied in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation. Er ist bislang keiner ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen.
Er bezog von 05.06.2023 bis 14.06.2023 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 13.02.2024 wurde zu Gunsten des BF eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Küchenhilfe bzw. Hilfskoch für die Zeit vom 13.02.2024 bis 12.02.2025 für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 40 Wochenstunden erteilt. Mit Bescheid des AMS vom 09.01.2025 wurde die Beschäftigungsbewilligung für den Zeitraum 13.02.2025 bis 12.02.2026 verlängert. Seit 01.03.2024 geht er bei diesem Arbeitgeber bis dato einer entsprechenden Beschäftigung nach.
Er ist gesund und voll erwerbsfähig.
Er lebt im Bundesgebiet in einer Unterkunft, die ihm sein Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Den Mietzins bestreitet er mit seinem eigenen Erwerbseinkommen.
In Österreich leben vier Onkel mütterlicherseits sowie Cousins und Cousinen des BF, mit denen er ein gutes Verhältnis hat und die er in seiner Freizeit besucht. Es konnte weder ein besonderes Naheverhältnis noch ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und seinen Verwandten festgestellt werden. Er führt im Bundesgebiet mit einer österreichischen Staatsangehörigen eine Beziehung. Die beiden führen weder einen gemeinsamen Haushalt noch haben sie gemeinsame Kinder. Seine Freundin arbeitet an einem Check-In Schalter eines Flughafens. Zwischen ihnen besteht kein finanzielles oder anderweitiges Abhängigkeitsverhältnis.
Er hat im Bundesgebiet im Übrigen normale soziale Kontakte.
Er ist im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Er hat seinen Herkunftsstaat nicht aufgrund individueller Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte verlassen und ist auch bei einer Rückkehr in die Türkei nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.
Insbesondere ist er keiner staatlichen Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung ausgesetzt. Er ist kein Unterstützer der Gülen-Bewegung und er wird auch nicht als ein solcher von den staatlichen Behörden angesehen.
1.4. Er ist bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.
1.5. Zur aktuellen Lage in der Türkei wird festgestellt:
Länderspezifische Anmerkungen
Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z. B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.
Sicherheitslage
Aktuelle Situation angesichts der formalen Auflösung der PKK
Die offizielle Auflösung der PKK am 12.5.2025 ist ein wichtiger Schritt zur Beendigung des bewaffneten Konflikts. Die Waffenruhe, die im Zuge der Auflösung ausgerufen wurde, hat das Potenzial, die Sicherheitslage in der Türkei zu entspannen. Es bleibt jedoch ungewiss, ob alle PKK-nahen Gruppierungen die Entscheidung zur Auflösung mittragen, oder es dennoch zu gewaltsamen Zwischenfällen kommt. Die Erklärung vom 12.5.2025 betrifft zunächst nur die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) sowie ihre militärischen Verbände. Die Schwesterparteien im Irak, Syrien und Iran sind hingegen nicht aufgelöst worden [Stand: Anfang Juli 2025] (FES 16.6.2025; vgl. DlF 13.5.2025).
Die Auflösung wird laut Quellen weitreichende politische und sicherheitspolitische Folgen für die Region haben, darunter auch für den benachbarten Irak und Syrien. Laut Quellen, die mit den Verhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung vertraut sind, gibt es noch einige ungelöste Fragen (Majalla 11.5.2025). - Die kurdische Region in Syrien (Rojava) bleibt beispielsweise ein zentraler Streitpunkt zwischen der türkischen Regierung einerseits und der PKK sowie der syrisch-kurdischen PYD (Partei der Demokratischen Union - Partiya Yekîtiya Demokrat) andererseits, denn die türkische Regierung hat die PYD, YPG (Volksverteidigungseinheiten - Yekîneyên Parastina Gel) und die SDF (Demokratischen Kräfte Syriens) stets als Ableger der PKK betrachtet. Die PKK wiederum sieht in Rojava ihr ideologisches und strategisches Projekt (BPB 16.6.2025). Offen bleiben [Stand: Anfang Juli 2025] das Wann und Wo sowie die Aufsicht der Übergabe der Waffen, die mögliche Rückkehr der PKK-Kämpfer und die Zukunft der Führungskader. So soll der türkische Geheimdienst MİT laut Berichten diese Waffenübergabe an Orten in der Türkei, aber auch in Syrien und dem Irak überwachen. PKK-Kämpfer, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, soll die Rückkehr ohne Strafverfolgung ermöglicht werden, während Führungspersönlichkeiten in Drittländern Exil eröffnet werden soll (TM 15.5.2025). Die PKK ist hauptsächlich im Nordirak ansässig, weshalb die Beteiligung sowohl der Zentralregierung in Bagdad als auch der Regionalregierung Kurdistans (KRG) in Erbil für den Erfolg der Bemühungen um Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung unerlässlich ist. Sowohl die KRG-Behörden als auch Bagdad haben angeboten, die nächsten Schritte zu unterstützen. Sie könnten bestimmte Aufgaben bei der Einsammlung und Vernichtung von Waffen, der Überprüfung der Einhaltung der Vereinbarungen sowie der Umsiedlung und Wiedereingliederung der Mitglieder in das zivile Leben übernehmen (ICG 16.5.2025).
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Gülen-Bewegung, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete [Anm.: nun aufgelöste] PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38).
Entwicklungen bis zur Auflösung der PKK
Zwischen 2016 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten - YPG (die syrische Schwesterorganisation der PKK) verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024). Die Zusammenstöße in der Türkei dauerten auch in den Jahren 2023 und 2024 an, wenn auch mit geringerem Tempo als in den Vorjahren (DFAT 16.5.2025, S. 10f.). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 30.10.2024, S. 58).
Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betrafen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinden. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
Opferbilanz
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023a).
Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum 4.6.2025 7.227 (4.851 PKK-Kämpfer, 1.501 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.065], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 649 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen. - Seit der formalen Auflösung der PKK haben sich die Zusammenstöße deutlich reduziert. - Während im Jänner noch 16 und im Februar noch zwölf Tote verzeichnet wurden, sanken die monatlichen Opferzahlen seit März 2025 in den einstelligen Bereich [siehe Grafik] (ICG 5.6.2025).
Die Türkei setzte ihr Vorgehen gegen die PKK trotz der von der Gruppe erklärten Waffenruhe fort. So wurden im Irak und in Syrien laut offizieller Verlautbarung des Verteidigungsministeriums im März 2025 insgesamt 26 "Terroristen" neutralisiert (AP 6.3.2025; vgl. ORF 13.3.2025). Ende Mai wurden im Nord-Irak zwei PKK getötet (ICG 6.2025).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Divergierende Einschätzungen der Gülen-Bewegung
Die Gülen-Bewegung ist eine religiöse Bewegung, die in den 1960er Jahren in der Türkei auf der Grundlage der Predigten des muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen entstand, einem ehemaligen radikalen islamistischen Prediger, der im Oktober 2024 im Exil in den Vereinigten Staaten verstarb. Die Bewegung, auch bekannt als Cemaat ("Gemeinschaft") oder Hizmet ("Dienst"), entwickelte sich zu einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, an der religiöse, bildungsbezogene und soziale Organisationen beteiligt sind. Ihre Gegner, darunter auch ehemalige Anhänger, äußern Bedenken hinsichtlich des sektenähnlichen, geheimnisvollen und undemokratischen Charakters der Bewegung (DFAT 16.5.2025, S. 20). Fethullah Gülen war das charismatische Zentrum des weltweit aktiven Netzwerks (Dohrn/BPB 27.2.2017), mit Unterstützern in 140 Ländern (DFAT 16.5.2025, S. 20). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wurde, der einen toleranten Islam förderte, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhob (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wurde, beschrieben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regierte und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebte (Dohrn/BPB 27.2.2017).
Stärke und Präsenz der Gülen-Bewegung
Die Gülen-Bewegung ist keine fest umrissene Organisation. Man kann bzw. konnte nicht offiziell Mitglied werden. Vor ihrem Verbot bildete die Bewegung eine lose Ansammlung von religiösen, erzieherischen und sozialen Einrichtungen. Die diffuse Organisationsform der Bewegung macht es schwierig, ihre genaue Größe zu bestimmen. Um 2010 schätzte man, dass zwischen acht und zehn Millionen Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise in die Gülen-Bewegung involviert waren (MBZ 2.2025a, S. 45). Auch weil die Gülenisten in der Türkei zu einer verdeckten Existenz bestimmt waren, war es unmöglich, die aktuelle Größe dieser Bewegung im Land zu ermitteln (MBZ 31.8.2023, S. 41). Die Expertenschätzungen hinsichtlich der Mitgliederanzahl variieren stark. - So z. B. nennt das Carnegie Endowment for International 2013 eine Zahl von drei Millionen Sympathisanten (CEIP 24.10.2013), während die Expertin Caroline Tee die Zahl der treuen Anhänger vor 2016 auf eine halbe bis zwei Millionen schätzt (MBZ 2.2025a, S. 45).
Obwohl die Bewegung nicht offen in der Parlamentspolitik engagiert war, war sie äußerst einflussreich. Neben Schulen, Studienzentren und religiösen Diskussionszentren betrieb sie Unternehmen und Medien, darunter eine Nachrichtenagentur, einen Verlag und mehrere Fernsehsender. Seit Anfang der 1970er Jahre nutzten die Gülenisten ihre Netzwerke, um Anhänger in wichtige Regierungspositionen zu bringen, darunter in die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste (DFAT 16.5.2025, S. 20). Die Präsenz von Gülenisten im öffentlichen Dienst umfasste, je nach Bereich, zwischen 1,5 % und 11,3 % aller Beamten. Auffallend war die Präsenz von Gülenisten im Bildungswesen, wo sie etwa 18 % aller privaten Wohnheime und 11 % aller Privatschulen beeinflussten. Unter den höheren Bürokraten scheint (vor dem Putschversuch) der Anteil der Gülenisten in der Justiz 30 % und bei der Polizei 50 % erreicht zu haben (MIT-CIS 18.3.2019).
Historische Kooperation zwischen Gülen-Bewegung und AKP-Regierung
Jahrzehntelang waren Gülen und Präsident Erdogan politisch auf einer Linie, und die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung war kein Verbrechen. Die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung wurde aufgrund der engen Beziehung zwischen Erdoğan und Gülen indirekt von der AKP gefördert (DFAT 16.5.2025, S. 20). Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach. Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014; vgl. Cagaptay o.D., S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay o.D., S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014).
Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Terrororganisation
Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (BPB 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung verfolgte ferner unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung Journalisten strafrechtlich und zerschlug Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern und enteignete diese teilweise (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Die Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Kassationsgericht die Gülen-Bewegung als bewaffnete terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 1.2.2018, S. 8; vgl. Sabah 17.6.2017).
Verbindungen zu Einrichtungen der Gülen-Bewegung
In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen. Die herausragende Qualität und der gute Ruf dieser Institutionen zogen sowohl engagierte Gülenisten als auch solche an, die der Bewegung nicht angehörten. Daher waren in der Vergangenheit Millionen von Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden. Angesichts dieses früheren Umfanges der Gülen-Bewegung war es nicht immer klar, wie die türkischen Behörden entschieden, gegen welche Gülenisten sie vorgehen sollten (MBZ 31.8.2023, S. 42). Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrichtung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolgedessen persönliche Probleme mit den Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den Behörden vermeiden, indem sie Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich "FETÖ-Börse") bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener beruflicher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (MBZ 2.3.2022, S. 36, 38).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Fethullah Gülen selbst verurteilte den Putschversuch und leugnete jede Beteiligung (MBZ 2.2025a, S. 45). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. UKHO 1.2.2018, S. 6). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Ausmaß der Verfolgung
Viele der nach dem Putschversuch von 2016 festgenommenen Personen sollen in Haft gefoltert worden sein. Amnesty International und Human Rights Watch dokumentierten Fälle von Schlägen, Zwangsstellungen, Verweigerung von Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung, Scheinhinrichtungen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Die Folter wurde in der Regel von Polizisten verübt, häufig während Verhören in informellen Haftanstalten und manchmal unter Aufsicht von Polizeiarztinnen und -ärzten. Zu den Opfern gehörten Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Soldaten und andere Beamte. Die Inhaftierten waren auch anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter die Verweigerung des Zugangs zu oder der Wahl von Rechtsanwälten und die Inhaftierung über lange Zeiträume ohne Anklage. Im Jahr 2019 gab es glaubwürdige Berichte über das Verschwinden und die Folterung mutmaßlicher Gülen-Anhänger, die ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums waren (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Laut Medienberichten zum achten Jahrestag (2024) des Putschversuches im Juli 2016 wurden seither 705.172 Personen, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden, gerichtlich belangt. 125.456 Personen wurden verurteilt und 104.448 Personen freigesprochen. Inhaftiert sind 13.251 Gülen-Mitglieder, darunter 10.365 rechtskräftig Verurteilte. Gegen 61.796 Personen laufen noch Ermittlungen. 23.052 befinden sich in Verfahren vor unteren Gerichten. 357.205 Ermittlungen wurden ohne Anklageerhebung abgeschlossen. 1.634 vermeintliche Gülen-Mitglieder wurden in 289 Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, weitere 1.366 erhielten lebenslange Haftstrafen und 1.891 verbüßen unterschiedlich lange Gefängnisstrafen (TR-Today 15.7.2024; vgl. TM 10.4.2021). Im Dezember 2023 bestätigte das Kassationsgericht (Oberstes Appellationsgericht) die erschwerte lebenslange Haft in 77 Fällen. Von in Summe 469 Verurteilungen bestätigte das Gericht 430, während 39 freigesprochen wurden (Duvar 19.12.2023; vgl. TM 19.12.2023).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 540.000 Personen (zeitweise) festgenommen (SCF 5.10.2020). Annähernd 23.900 Armeeangehörige (TR-Today 15.7.2024), darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte (SCF 5.10.2020), 40.000 Polizeibeamte (TR-Today 15.7.2024) und mehr als 5.000 Akademiker wurden entlassen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022, S 2; vgl. SCF 5.10.2020). Seit Juli 2016 hat die Regierung etwa 1.000 Unternehmen beschlagnahmt oder Verwalter für diese ernannt, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden, zuletzt auch 2025. Seit 2016 (bis 2023) wurden Vermögenswerte im Wert von rund 50 Milliarden US-Dollar von mutmaßlichen Gülen-Anhängern beschlagnahmt (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Die türkischen Behörden machten unmittelbar nach dem Tode von Fethulla Gülen am 20.10.2024 klar, dass sie ihren Kampf gegen die Gülen-Bewegung unvermindert fortsetzen würden. Bereits am 21.10.2024 kündigte Außenminister Hakan Fidan an, dass die Regierung in ihrem Kampf gegen die Gülen-Bewegung nicht nachlassen werde (MBZ 2.2025a, S. 45f.). Das Verteidigungsministerium forderte die Gülen-Anhänger auf, sich unverzüglich zu ergeben (Duvar 22.10.2024). Die systematische Strafverfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhängeri dauert folglich weiterhin an. Die sogenannten "Säuberungsmaßnahmen" zielen darauf ab, diese Personen aus allen relevanten Institutionen zu entfernen (BAMF 4.11.2024b, S. 4; vgl. TM 3.12.2024). Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Im Juli 2024 nannte Justizminister Yerlikaya die Zahl von 9.738 Personen, welche etwa innerhalb eines Jahres bei 6.025 Einsätzen festgenommen wurden (HDN 15.7.2024; vgl. AnA 17.7.2024), wobei die Gerichte die Inhaftierung von rund 1.500 Personen anordneten und über 1.750 Freigelassene gerichtliche Aufsichtsmaßnahmen verhängten (TM 26.5.2024; vgl. BAMF 29.7.2024, S. 10).
Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Herbst 2024 [letzte Teilaktualisierung der Länderinformationen] angeführt, wobei es nicht bloß um die Anzahl, sondern auch um die Art der Vorwürfe und Personengruppen geht. - Weiter zurückliegende Beispiele finden sich in älteren Versionen der Länderinformationen zur Türkei:
Mitte Oktober 2024 wurden 13 Personen mit Verbindung zur Gülen-Bewegung in Manisa festgenommen, und gleichzeitig gab die Generalstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt Ankara bekannt, dass zwölf von 33 Verdächtigen, die im Zusammenhang mit der Unterwanderung der türkischen Land- und Luftstreitkräfte festgenommen worden waren, sich für eine Zusammenarbeit mit den Behörden entschieden und 133 Personen als Mitglieder der Gülen-Bewegung identifizierten (DS 16.10.2024). Innenminister Yerlikaya gab Mitte November bekannt, dass bei Einsätzen in 66 Provinzen 459 Verdächtige festgenommen wurden. Laut Minister seien die Verdächtigen auch an der Propaganda der Gülen-Bewegung [offizielle Diktion der Quelle: "Terrorgruppe"] in den sozialen Medien beteiligt gewesen und hätten über öffentliche Telefone miteinander kommuniziert, eine Methode, die häufig eingesetzt würde, um nicht entdeckt zu werden. Sie nutzten auch ByLock, so der Innenminister (DS 19.11.2024; vgl. SCF 19.11.2024). Im Dezember 2024 gab es mehrere Verhaftungswellen: Am 10. Dezember wurden 24 Verdächtige festgenommen. 21 von ihnen sollen 2012 an der Manipulation öffentlicher Personalauswahlprüfungen beteiligt gewesen sein. Ein weiterer Verdächtiger, angeblich der Buchhalter der Stadt Konya, wurde als Nutzer von ByLock verhaftet, während gegen zwei weitere Verdächtige ermittelt wird, weil sie sich in Gülen-Studentenwohnheimen aufhielten und die ByLock-App verwendeten (DS 10.12.2024). Am 18. Dezember wurden laut Innenminister in neun Provinzen 41 vermeintliche Gülen-Mitglieder als Bestandteil eines angeblich geheimen Netzwerkes in der Armee bzw. den Behörden verhaftet, die überdies laufende Verbindungen zu hochrangigen flüchtigen Gülen-Funktionären gehabt hätten (DS 18.12.2024). Und am 24. Dezember wurden 31 Gülen-Verdächtige in der Provinz Izmir festgenommen (DS 24.12.2024).
Auch 2025 setzten sich die Verhaftungen von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern oder -Unterstützern fort. - Am 7. Jänner wurde berichtet, dass 22 von 37 gesuchten Verdächtigen festgenommen wurden. Sie waren vermeintlich Teil eines Firmennetzwerkes, welches die Gülenbewegung finanziert. Sie wurden laut Behördenangaben durch Aussagen ehemaliger Gülen-Mitglieder, die mit den Behörden zusammengearbeitet haben, sowie durch Finanzermittlungen und Untersuchungen digitaler Beweise, die bei früheren Ermittlungen sichergestellt wurden, identifiziert. Die Verdächtigen hätten über Kuriere Bargeld sowohl an Gülen-Mitglieder, die wegen ihrer Verbindungen zur Gruppe inhaftiert sind, als auch an deren Familien übermittelt (DS 7.1.2025; vgl. SCF 10.1.2025, TM 10.1.2025). Bereits am 10. Jänner verkündete der Innenminister die Verhaftung weiterer 63 Personen bei Operationen in 38 Provinzen (SCF 10.1.2025; vgl. TM 10.1.2025), und am 14. Jänner die Festnahme von weiteren 110 Verdächtigen in 23 Provinzen, welche zum akademischen und militärischen Netzwerk der Gülen-Bewegung gehören sollen (DS 14.1.2025; vgl. SCF 14.1.2025). Bereits am 18. Jänner vermeldete das Innenministerium die Festnahme von 47 Verdächtigen in 23 Provinzen im Rahmen der "KISKAÇ-35"-Operationen (TC-İB 18.1.2025) und am 24.1.2025 die Festnahme im Zuge der "KISKAÇ-36"-Operationen von 71 Verdächtigen in 23 Provinzen (TC-İB 24.1.2025; vgl. DS 24.1.2025, SCF 24.1.2025). Am 21.2.2025 verhaftete die Polizei insgesamt 353 Personen, darunter auch zehn Beamte, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Die Verdächtigen wurden bei Razzien in 31 Städten festgenommen. Ihnen wird laut Innenminister vorgeworfen, eine Döner-Kebab-Restaurantkette benutzt zu haben, um Geld für die Gülenbewegung zu sammeln (DS 21.2.2025; vgl. SCF 21.2.2025, C8 22.2.2025). Bei Operationen zwischen dem 19. und 27. März in 27 Provinzen wurden 73 Personen festgenommen. Hiervon wurden 48 inhaftiert, 16 unter richterlicher Aufsicht freigelassen und gegen den Rest wurde weiter ermittelt. Innenminister Yerlikaya sagte, die Festgenommenen stünden im Verdacht, über Münztelefone Kontakt zu halten, die verschlüsselte Nachrichten-App ByLock zu benutzen und Inhalte der Gülen-Bewegung in sozialen Medien zu verbreiten. Einige Personen wurden auch beschuldigt, Teil der angeblichen "militärischen und aktuellen Strukturen" der Gülen-Bewegung zu sein oder sie finanziell zu unterstützen (TM 4.4.2025; vgl. TC-İB 4.4.2025). Am 5. Mai verkündete die Polizei von Ankara die Verhaftung von 33 vermeintlichen Gülenisten, wovon 20 in öffentlichen Einrichtungen arbeiteten. Die Verdächtigen sollen für die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Überprüfung deren Loyalität zuständig gewesen sein (DS 5.5.2025; vgl. Hürriyet 5.5.2025). In der ersten Mai-Hälfte wurden in weiteren Operationen in 47 Provinzen, vor allem in Gaziantep, 225 Verdächtige festgenommen. Am 10.5.2025 wurden vier weitere vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet, wobei die Behörden behaupteten, dass es sich um eine Gruppe handle, die Reisen von jungen Türken in Länder des Balkans (Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Montenegro) organisiere, wo diese in Kursen indoktriniert und rekrutiert würden (DS 11.5.2025; vgl. TR-Today 11.5.2025, TC-İB 6.5.2025). Bereits am 16.5.2025 gab das Innenministerium die Verhaftung weiterer 101 Personen bei Razzien in 27 Provinzen bekannt. Den Inhaftierten wurde vorgeworfen, über Münztelefone Kontakt zu Mitgliedern der Bewegung aufgenommen, die Bewegung finanziell unterstützt und Propaganda in sozialen Medien verbreitet zu haben (TC-İB 16.5.2025; vgl. SCF 16.5.2025). Und am 23.05.2025 wurden zeitgleich in 36 Provinzen Razzien gegen mutmaßliche Angehörige der Gülen-Bewegung durchgeführt, wobei 56 Militärangehörige in Untersuchungshaft genommen wurden (BAMF 26.5.2025, S. 9; vgl. DS 23.5.2025). Und Mitte Juni wurd innerhalb von zwei Tage 56 Personen festgenommen, wobei der Fokus auf die Zerschlagung der laut Behördenangaben geheimen Infrastruktur der Bewegung, ihrer Rekrutierungsbemühungen unter Jugendlichen und ihrer Fluchthelferringe, die illegale Grenzübertritte ermöglichten, gelegt wurde (SCF 17.6.2025). In der zweiten Junihälfte erfolgte eine größere Verhaftungswelle, bei der fast 250 Personen in über 40 Provinzen festgenommen wurden, darunter 163 aktive Militärangehörige inklusive mehreren Offizieren sowie 21 aktive und ehemalige Polizisten (SCF 24.6.2025; vgl. BIRN 24.6.2025, TM 24.6.2025).
Gefahren für Rechtsvertreter
Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AlMon 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020). Siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen.
Verfolgung von Nicht-Gülen-Mitgliedern als Gülenisten
Mitunter werden "Nicht-Gülenisten" als Gülen-Mitglieder oder -Anhänger gebrandmarkt und von den Behörden als solche behandelt. In diesem Fall könnten beispielsweise Oppositionelle, Gewerkschaftsaktivisten, Journalisten und Akademiker, die sich kritisch über Regierung äußern, in Betracht kommen (MBZ 2.2025a, S. 50). Beispielsweise wurde die Anwältin Dilek Ekmekçi strafrechtlich verfolgt und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft genommen. Sie hatte sich u. a. kritisch über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in staatlichen Einrichtungen geäußert (MBZ 2.2025a, S. 50; vgl. MLSA 24.10.2024, Agos 31.1.2025). Ende Jänner 2025 entschied das Gericht die Freilassung von Ekmekçi nach 152 Tagen Haft. Sie wurde jedoch wegen "wissentlicher und vorsätzlicher Unterstützung einer illegalen Organisation" zu einem Jahr und 13 Monaten verurteilt und mit einer Ausreisesperre belegt (MLSA 31.1.2025; vgl. Agos 31.1.2025).
Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz
Menschenrechtsbeobachter haben ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass die türkische Regierung keine klaren Kriterien veröffentlicht hat, anhand derer Personen mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden können (DFAT 16.5.2025, S. 20; vgl. AA 20.5.2024). - Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.1.2019, S. 10). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 20.5.2024, S. 6f.; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 38, JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.1.2019, S. 11); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Weitere Kriterien sind u. a.: die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.1.2019, S. 11; vgl. Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 20.5.2024, S. 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019). Siehe zu den Kriterien weiter unten das Urteil des EGMR vom 3.12.2024 als Beispiel!
Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, welche die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrechterhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (MBZ 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Istanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (MBZ 2.3.2022, S. 38).
Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (MBZ 2.3.2022, S. 39). Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (MBZ 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u. a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Kriterien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden (MBZ 2.3.2022, S. 39). Selbst Personen, die keine Gülenisten waren, wie Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und linke Gewerkschaftsmitglieder, wurden beschuldigt, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 31.8.2023, S. 43).
Anlässlich des Todes von Fethullah Gülen am 20.10.2024 wurden Personen, die öffentlich ihr Beileid zum Ausdruck brachten strafrechtlich wegen Terrorismusunterstützung verfolgt. So wurde der Chefredakteur der Zeitung Yeni Asya, Kazım Güleçyüz, wegen einer diesbezüglichen Beileidsbekundung auf der Plattform "X" mit den Worten: "Allah habe ihn selig" festgenommen (DTJ 28.10.2024; vgl. NaT 24.10.2024). Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft ordnete die Verhaftung von insgesamt 15 Verdächtigen an, von denen tatsächlich vier festgenommen wurden, weil sie Gülen in sozialen Medien nach seinem angeblichen Tod gelobt hatten (NaT 24.10.2024).
Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen (MBZ 2.2025a, S. 52). So wurde nebst Selahaddin Gülen, ein Neffe Fetullah Gülens, der bereits 2021 vom Nationale Nachrichtendienst MİT von Kenia in die Türkei verbracht wurde, auch Asiye Gülen, eine Nichte Fetullah Gülens, und deren Ehemann im Juni 2023 in Istanbul festgenommen (MBZ 31.8.2023, S. 45). Und Mitte Juli 2023 verhafteten die Istanbuler Polizei und der Geheimdienst MİT Selman Gülen, einen weiteren behördlich gesuchten Neffen Fetullah Gülens, die Frau des Ersteren, Nur Gülen, sowie deren Eltern (DS 14.7.2023). Generell sind Familienangehörige mutmaßlicher Gülen-Anhänger betroffen gewesen, unter anderem durch Reiseverbote und/oder Passbeschlagnahmungen, das Einfrieren von Vermögenswerten und die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst (DFAT 16.5.2025, S. 21). Es gab jedoch auch mehrere Fälle von Familien, die einen Gülen-Unterstützer in ihren Reihen hatten, ohne dass die Angehörigen Probleme mit den türkischen Behörden hatten (MBZ 2.3.2022, S. 41).
Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, das sog. "FETÖ-Meter" (TM 5.3.2021). Diese Kriterien sind in vier Kategorien gruppiert, nämlich: jene, die unmittelbar den Kernbereich des Privatlebens der profilierten Person betreffen; diejenigen, die sich auf das Berufsleben (ab der Kadettenzeit) der Person beziehen; diejenigen, die sich auf das soziale Umfeld und die Zugehörigkeit der profilierten Person beziehen; diejenigen, die sich auf die Verwandten der profilierten Person beziehen (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021). Zu den Kritierien gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool u. a. etwa eine Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 21). Die Entlassenen verlieren ihr Einkommen und ihre Sozialleistungen, darunter auch den Zugang zu Krankenversicherung und Pensionsleistungen (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren, und Bekannte innerhalb des sozialen Umfeldes von Gülen-Mitgliedern brechen die Kontakte ab (MBZ 31.8.2023, S. 44f.). Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden (MBZ 2.3.2022, S. 41). Infolgedessen haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder auch ihren Arbeitsplatz verloren oder fanden keine (neue) Anstellung (MBZ 31.8.2023, S. 46). Auch das "FETÖ-Meter" wurde als Instrument, vor allem in der Armee, eingesetzt, um Personen zu entlassen. Zu Entlassungen kam es selbst aufgrund einer Verwandtschaft (Ehepartners, Geschwister) mit einem angeblichen Gülen-Mitglied, das z. B. ein Konto bei der Asya Bank hatte oder ein angeblicher ByLock-Benützer war (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 21-26). In der amtlichen Kundmachung vom März 2022 wurde bereits klargestellt, dass alle Personen, die wegen (angeblicher) Verbindungen zum Terrorismus zwangsweise entlassen worden waren, in einer Datenbank der Sozialversicherung, Sosyal Güvenlik Kurumu (SGK), erfasst wurden. Diese Registrierung erschwerte es entlassenen Mitarbeitern, eine neue Stelle zu finden. Wenn sie sich auf eine neue Stelle bewarben, konnten potenzielle Arbeitgeber sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor die Registrierung über ein SGK-Portal einsehen. Sie waren oft nicht geneigt, Personen mit einer solchen Registrierung einzustellen (MBZ 2.2025a, S. 51f.). Es gab in der Vergangenheit Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (MBZ 18.3.2021, S. 43).
Urteile des EGMR und der türkischen Höchstgerichte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine "in flagranti"-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S. 14). Und Anfang September 2022 entschied der EGMR, dass die Untersuchungshaft von 230 Richtern und Staatsanwälten nach dem gescheiterten Putsch 2016 rechtswidrig war und dass die Türkei jedem Antragsteller 5.000 Euro Schadenersatz zahlen muss. Bei 209 Beschwerdeführern habe die Untersuchungshaft nicht in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren stattgefunden, während bei den übrigen 21 Klägern die Verdachtsmomente keine Begründung für die Verhängung einer Untersuchungshaft konstituierten (TM 6.9.2022).
Am 25.6.2024 entschied der EGMR (Duymaz und andere gegen die Türkei), dass für die Untersuchungshaft von 314 Personen nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß, da keine Gründe vorlagen, die einen hinreichenden Verdacht begründen konnten, dass die Betroffenen eine Straftat begangen hätten. Der EGMR erklärte auf der Grundlage der Gerichtsdokumente, dass die Mehrheit der Antragsteller als Nutzer der Messaging-App ByLock identifiziert wurde. Einige wurden aufgrund von Zeugenaussagen oder Konten bei der Gülen-nahen Bank Asya verdächtigt, mit der Gülen-Bewegung in Verbindung zu stehen, und einige aufgrund des Besitzes von Gülen-nahen Publikationen und/oder US-Ein-Dollar-Scheinen mit einer "F"-Seriennummer die den Anfangsbuchstaben des Vornamens "Fetullah" bezeichnet, während andere aufgrund ihrer Beschäftigung bei und/oder Mitgliedschaft in Gülen-nahen Einrichtungen und Organisationen verdächtigt wurden. Der EGMR hat jedoch mehrmals klargestellt, dass solche Aktivitäten bzw. Umstände nicht ausreichen, um zu beweisen, dass jemand ein Verbrechen begangen hat. - Das Gericht verurteilte Ankara zudem zur Zahlung von 5.000 Euro Schadenersatz sowie von Kosten und Auslagen (TM 25.6.2024; vgl. ECHR 25.6.2024).
Der EGMR verurteilte am 3.12.2024 in zwei getrennten Sammelurteilen (Kesler und andere vs. die Türkei / Sert und andere vs. die Türkei) erneut wegen der Verhaftung und Untersuchungshaft von insgesamt 379 Personen nach einem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Der EGMR sah keine ausreichenden Gründe für ihre Inhaftierung vorliegen. Den Klägern wurde die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, weil sie die ByLock-Messanger-App nutzten, Konten bei der Bank Asya unterhielten, Gülen-bezogene Publikationen und US-Ein-Dollar-Scheine mit einer Seriennummer "F" (angeblich für "Fethullah") und/oder ihre Beschäftigung bei und/oder Mitgliedschaft in Institutionen und Organisationen, die alle von der türkischen Regierung als mit der Gülen-Bewegung verbunden angesehen werden. Darüber hinaus wurden Zeugenaussagen, die auf Verbindungen zur Bewegung hinweisen, Social-Media-Beiträge, die Teilnahme an oder die Abhaltung religiöser Versammlungen, die Kommunikation mit leitenden Führungskräften der Gülen-Bewegung, die Erleichterung der Kommunikation zwischen Gülen-Mitgliedern, der Aufenthalt in Gülen-nahen Häusern und die Durchführung verschiedener anderer Aktivitäten auf mutmaßlichen Befehl der Bewegung von den türkischen Gerichten auch als strafrechtliche Beweise gegen die Antragsteller verwendet. Das EGMR entschied, dass die Türkei gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß, da es in den Fällen aller 379 Kläger keine ausreichenden Gründe für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gab. Das EGMR entschied, dass die Türkei 363 der 379 Kläger jeweils 5.000 Euro als Entschädigung für immaterielle Schäden sowie für Kosten und Auslagen zahlen muss. - Mit der jüngsten Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass die Türkei die Rechte von insgesamt 2.732 Personen in 62 verschiedenen Anträgen im Zusammenhang mit den Rechtsverletzungen nach dem Putschversuch verletzt hat. Die Türkei wurde in diesen Fällen zur Zahlung von insgesamt 12.563.538 Euro an immateriellen Schäden und Kosten verurteilt (TM 3.12.2024; vgl. ECHR 3.12.2024a, ECHR 3.12.2024b).
Der EGMR entschied am 11.2.2025, dass die Türkei in drei verschiedenen Fällen das Recht von 120 Richtern und Staatsanwälten auf ein faires Verfahren verletzt hat. Die Urteile – Olcay und andere vs. die Türkei, Benli und andere vs. die Türkei - der Fall Benli betraf sechs Richter und leitende Inspektoren des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) und des Justizministeriums - sowie Tosun und andere vs. die Türkei – betrafen die Amtsenthebungen von Richtern sowohl vor als auch nach dem Putschversuch im Jahr 2016. Den betroffenen Richtern wurde kein Rechtsweg zur Anfechtung ihrer Entlassung ermöglicht, was sie dazu veranlasste, ihren Fall vor den EGMR zu bringen. Der EGMR entschied einstimmig, dass die Richter einen legitimen Anspruch darauf hatten, ihre Entlassung anzufechten, und dass die Verweigerung einer gerichtlichen Überprüfung ihre Grundrechte beeinträchtigte und gegen Artikel 6 § 1 (Recht auf Zugang zu einem Gericht) verstieß. Das Gericht verurteilte die Türkei, jedem Antragsteller 3.000 Euro Schadenersatz zu zahlen (TM 11.2.2025; vgl. Politurco 11.2.2025).
Das Kassationsgericht (i. e. Oberstes Appellationsgericht) sprach am 21.6.2022, sechs Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei, 71 ehemalige Militärschüler frei, die wegen Beteiligung am Umsturzversuch zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren (Spiegel 23.6.2022; vgl. Bianet 22.6.2022).
Im Februar 2024 beschloss der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof), dass 450 Richter und Staatsanwälte, die seinerzeit zwangsweise entlassen worden waren, wieder eingestellt werden sollten. Präsident Erdoğan äußerte öffentlich seinen Unmut darüber und bezeichnete die Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichtes als "inakzeptabel". Nach dieser Entscheidung leitete der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) eine neue Untersuchung gegen 387 Richter und Staatsanwälte ein (HDN 19.2.2024; vgl. MBZ 2.2025a, S. 51).
Das Verfassungsgericht ordnete am 22.01.2025 per Beschluss die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den ehemaligen Lehrer Hasan Sarıcı an, der nach dem Putschversuch im Jahr 2016 per Regierungserlass aus seinem Amt entlassen und wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war. Die Verurteilung Sarıcıs vor dem Ersten Hohen Strafgerichtshof in Kırklareli basierte auf seiner Mitgliedschaft in einer Gülen-nahen Gewerkschaft, Finanztransaktionen bei der Bank Asya und einem Abonnement der Zeitung Zaman. Als Begründung für die Wiederaufnahmeanordnung führte das Höchstgericht Verstöße gegen Verfassungsrechte und unzureichende Beweise an. Nebst der Feststellung von Verfahrenslücken betonte das Verfassungsgericht, dass Sarıcıs angebliche Aktivitäten zum Zeitpunkt seiner Verurteilung kein Verbrechen darstellten. Das Gericht konnte demnach keinen direkten Zusammenhang zwischen Sarıcıs Handlungen und einer mutmaßlichen aktiven Teilnahme an kriminellen Aktivitäten herstellen. Das Verfassungsgericht betonte, dass für die strafrechtliche Verantwortlichkeit klare Beweise für Vorsatz und aktive Teilnahme an organisatorischen Aktivitäten erforderlich seien (BAMF 3.2.2025, S. 9; vgl. SCF 22.1.2025). In der Begründung stellte das Höchstgericht fest, dass es keine konkreten Beweise dafür gab, ob der Antragsteller wusste, dass die Gülen-Bewegung eine terroristische Organisation war, bevor sie als solche eingestuft wurde, das heißt, dass Sarıcı vernünftigerweise nicht vorhersehen konnte, dass er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde (YŞ 23.1.2025).
ByLock und spezielle Münztelefone
ByLock ist eine Handy-Applikation zum verschlüsselten, sicheren Austausch schriftlicher und gesprochener Nachrichten. Sie wird von der türkischen Regierung als eines der wichtigsten Indizien für eine Unterstützung bzw. Nähe zur Gülen-Bewegung betrachtet. Zudem sei ByLock laut Behörden von der Gülen-Bewegung verwendet worden, um den Putschversuch vom Juli 2016 vorzubereiten (BAMF 4.11.2024b, S. 6). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018, S. 8). Trotzdem urteilte das Verfassungsgericht im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020; vgl. BAMF 4.11.2024b, S. 6). Allerdings hatte die Generalversammlung des Verfassungsgerichts zuvor in seiner Entscheidung vom 20.6.2017 festgehalten, dass die Verbindung einer Person zur Gülen-Bewegung im Falle der Nutzung von Bylock mit Beweisen in Form von technischen Daten unterlegt werden müsse. Das Verfassungsgericht geht von einer ByLock-Nutzung aus, wenn ein Abgleich von User-ID und Einträgen des Telekommunikationsanbieters positiv ausfällt (BAMF 4.11.2024b, S. 6). Im Jahr 2021 legte schließlich auch das Kassationsgericht Leitlinien für die Anwendung des ByLock-Kriteriums fest. Dieses Kriterium kann nur dann gegen Verdächtige verwendet werden, wenn schlüssige Beweise dafür vorliegen, dass sie selbst die Anwendung verwendet haben und nicht jemand anderes. Trotzdem haben sich fallweise Gerichte unterer Instanzen nicht an diese Leitlinie gehalten. Infolgedessen wurden die Urteile gegen zahlreiche Personen, die der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung für schuldig befunden wurden, später entweder vom Kassationsgericht oder vom Verfassungsgericht aufgehoben (MBZ 31.8.2023, S. 23; vgl. BAMF 4.11.2024b, S. 7).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UNHRC 18.9.2019).
Am 20.7.2021 entschied der EGMR, dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 § 3 (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 § 4 (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest (ECHR 20.7.2021, S. 1).
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschied im September 2023 neuerlich in einem Fall (Yüksel Yalçınkaya vs. Türkei), dass die Verurteilung eines Lehrers wegen seiner Verbindungen zur Gülen-Bewegung und somit als Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt durch ein türkisches Gericht aufgrund von Aktivitäten wie der Nutzung von ByLock oder eines Kontos bei der Asya-Bank rechtswidrig war. Das EGMR kritisierte die Verwendung der verschlüsselten Messaging-App "ByLock" als Beweismittel durch die Türkei als weitreichend und willkürlich und ohne die notwendigen Garantien für ein faires Verfahren. Darüber hinaus wies das Gericht auf erhebliche Verfahrensmängel im Prozess hin, darunter die Tatsache, dass ihm kein Zugang zu Beweismitteln gewährt und keine unabhängige Prüfung von Daten gestattet wurde (TM 26.9.2023; vgl. SCF 23.7.2024, BAMF 29.7.2024, S. 10). Nichtsdestotrotz werden vermeintliche Gülen-Anhänger weiterhin wegen einstiger Verwendung von Bylock oder des Besitzes eines Kontos bei der Asya Bank verhaftet, so im Juli 2024 (BAMF 29.7.2024, S. 10). Im Falle des Beispiels von Yüksel Yalçınkaya setzte sich bei der Neuverhandlung des Verfahrens im September 2024 das 2. Landgericht in Kayseri über den EGMR hinweg und verurteilte Yalçınkaya erneut aufgrund derselben Anklage (TALI 15.9.2024; vgl. HRW 16.1.2025).
Asya Bank
Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei der Asya Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fethullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018).
Gülen-Schulen
Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt(e) die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an (NZZ 14.2.2020). 2024 betrieb gemäß Eigenangaben die Maarif-Stiftung 460 Bildungseinrichtungen mit 50.000 Schülern in 52 Ländern (Maarif 2024; vgl. DS 5.1.2024).
Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen
Im Ausland lebende türkische Staatsangehörige, die mutmaßlich Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, können überwacht und observiert werden, insbesondere wenn sie bekannt sind und nachweislich die Gülen-Bewegung unterstützen. Die Überwachung kann online oder physisch erfolgen, auch durch Personen, die für den türkischen Staat oder in dessen Auftrag handeln (DFAT 16.5.2025, S. 22).
Laut Medienberichten wurden weltweit 1.774 Auslieferungsanträge für 1.637 Personen an 115 Länder gesendet. 132 Personen wurden an die Türkei ausgeliefert oder abgeschoben (TR-Today 15.7.2024). Es gibt glaubwürdige Berichte, wonach die Regierung versucht, mit Hilfe von sog. INTERPOL-Red Notices bestimmte Personen außerhalb des Landes ins Visier zu nehmen, denen ohne Beweise Verbindungen zum Terrorismus unterstellt werden (USDOS 22.4.2024). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vgl. Ahval 5.6.2021). Das Europäische Parlament verurteilte im Juni 2022 (wie schon zuvor im Mai 2021) die Auslieferung durch Drittstaaten bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).
Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 1.9.2020).
Amnestie - Rehabilitierung - Haftentlassungen
Die Erfahrungen der Entlassenen sind nicht einheitlich. Einige entlassene Beamte wurden wieder in hohe Positionen berufen, andere sind in der Privatwirtschaft erfolgreich. Es gibt rechtliche Mechanismen, mit denen angeklagte Gülen-Anhänger politisch rehabilitiert oder rehabilitiert werden können, insbesondere wenn ihre Verbindungen zur Gülen-Bewegung nur geringfügig oder zufällig waren, wie beispielsweise das bloße Herunterladen der Bylock-App. Die entsprechenden Quellen betonten jedoch, dass diese Verfahren willkürlich, zeitaufwendig und nicht immer erfolgreich seien (DFAT 16.5.2025, S. 22).
Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei vom Februar 2022 1.244 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (AnA 17.2.2022).
Die Zahl der Inhaftierten vermeintlichen Gülenisten ist gesunken. - So befanden sich im November 2021 noch 22.340 Gülenisten in Untersuchungshaft oder im Gefängnis. Bis Juli 2022 war diese Zahl bereits auf 19.252 gesunken und schrumpfte Mitte Juli 2024 auf 13.251. Dieser Rückgang ist darauf zurückzuführen, dass immer mehr Gülenisten ihre Haftstrafen bereits verbüßt haben. Denn die durchschnittliche Strafe betrug 7,5 Jahre, die sich überdies bei "guter Führung" um ein Sechstel reduzieren ließ. Hinzukommt, dass sich die Anzahl der Verhaftungen reduzierte, von rund 22.500 im Jahr 2021 auf etwas mehr als 9.600 im Jahr 2023 (MBZ 2.2025a, S. 46f.).
Bewegungsfreiheit
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 41).
So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 26.2.2025, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 4.2025, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Dennoch bestätigten Quellen des niederländischen Außenministeriums, dass in den meisten Fällen mit politischer Dimension, die im Kontext des Strafrechts als "Terrorfälle" gelten, ein Ausreiseverbot verhängt wird. In Fällen mit politischem Kontext sind insbesondere kurdische Aktivisten und (angebliche) Gülenisten betroffen. Die Häufigkeit von Ausreiseverboten in Fällen mit einer politischen Dimension gilt als "weit verbreitet" und "systematisch". Jedoch gibt es Fälle von unauffälligen politischen Aktivisten, gegen die kein Ausreiseverbot verhängt wurde (MBZ 2.2025a, S. 37).
Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024). Im Februar 2025 untersagte ein Istanbuler Gericht zwei leitenden Funktionären des Wirtschaftsverbands TUSIAD im Rahmen einer Untersuchung ihrer Äußerungen zur Demokratie, die Erdogan als Untergrabung der Regierung bezeichnet hatte, die Ausreise ins Ausland. Auf der Generalversammlung der Organisation hatten TUSIAD-Präsident Orhan Turan und Omer Aras, der Vorsitzende der türkischen Bankensparte der QNB, das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten kritisiert (REU 20.2.2025). Drei Monate später wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Das Verfahren lief hingegen weiter, wobei der Staatsanwalt bis zu fünf Jahren Haft forderte (HDN 20.5.2025; vgl. Bianet 22.5.2025).
Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden. Die Strafrichter machen von den Einschränkungsmöglichkeiten großzügig Gebrauch. Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, welche sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-Devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem", das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 16.5.2025, S. 41).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27; vgl. UKHO 10.2019a, S. 49).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen [Stand Juni 2025]. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 31.1.2025).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.4.2025). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.4.2025). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 24.4.2025). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.4.2025).
Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, können selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 4.2025, S. 15).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem mit Griechenland, Kirgistan, Pakistan, Rumänien, Syrien und der Ukraine ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 4.2025, S. 62). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 23.6.2025; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 23.6.2025).
(Quelle: Länderinformationen aus dem COI-CMS der Staatendokumentation des BFA zur Türkei, Version 10 vom 06.08.2025)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die vom BF im Laufe des Verfahrens vorgelegten Beweismittel, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG sowie die Einholung von Auskünften des Melderegisters, des Strafregisters, des Betreuungsinformationssystems, des AJ-Webs und des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister.
2.2. Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des BF ergaben sich aus seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben in Zusammenschau mit dem im Original vorgelegten türkischen Personalausweis, der einer Dokumentenuntersuchung unterzogen und als unbedenklich eingestuft wurde.
Die Feststellungen zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Herkunft, seinen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat, seinen im Herkunftsland verbliebenen Angehörigen, seiner Ausreise aus der Türkei, seinem Aufenthalt im Bundesgebiet, zum vormaligen Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung, zu seiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet und zu seiner strafgerichtlichen Unbescholtenheit in Österreich ergaben sich aus einer Zusammenschau seiner persönlichen Angaben und der im Behörden- und Gerichtsakt einliegenden Bescheinigungsmittel betreffend seiner legalen Erwerbstätigkeit sowie aus den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.
Zum festgestellten Bildungsweg wird festgehalten, dass der BF im verwaltungsbehördlichen Verfahren bloß allgemein angab, ein Jahr lang ein Gymnasium besucht zu haben (vgl. AS 4) bzw. keine weitere Differenzierung seiner nach der Grundschulzeit eingeschlagenen schulischen Laufbahn vornahm. In der Verhandlung vor dem BVwG erklärte er, dass er zunächst für ein halbes Jahr in ein Lyzeum in XXXX und später in ein Lyzeum in der Nachbarortschaft seines Heimatdorfes gegangen sei. Den Schulwechsel begründete er mit Lernschwierigkeiten in auf arabischer Sprache gehaltenen Unterrichtsgegenständen und seinem Heimweh. Obwohl es dem BF im Lyzeum in der Nachbarortschaft gut gegangen sei, habe er den Schulbesuch abgebrochen, weil er Geld verdienen wollte (vgl. OZ 10, Seite 6). Dass er infolge einer Schulschließung seinen Schulbesuch beenden habe müssen, wie der BF im verwaltungsbehördlichen Verfahren und in der Beschwerde andeutete (vgl. AS 7, 170), erhärtete sich in der Verhandlung sohin nicht.
Die Feststellung der absolvierten Wehrdienstzeit beruht auf seinen Angaben und den von ihm vorgelegten Lichtbildern (OZ 9). Aufgrund widersprüchlicher Zeitangaben zum Beginn und Ende des Wehrdienstes (Juni 2022 bis Februar 2023, OZ 10, Seite 6; September 2022 bis März 2023, OZ 10, Seite 8) konnte der genaue Zeitraum seiner Wehrdienstzeit nicht festgestellt werden.
Im Zuge der Erstbefragung gab er an, die Türkei am 01.06.2023 verlassen zu haben (AS 6). In der mündlichen Verhandlung vermeinte er hingegen, nach seiner Wehrdienstzeit im März 2023 zunächst in sein Heimatdorf zurückgekehrt zu sein und nach einem Monat ins Ausland gegangen zu sein (OZ 10, Seite 8). Aufgrund dieser widersprüchlichen Zeitangaben war kein genauer Ausreisezeitpunkt aus der Türkei festzustellen.
Angesichts seiner Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet seit Juni 2023 und seiner seit März 2024 ausgeübten Erwerbstätigkeit war davon auszugehen, dass er zumindest über einfache Deutschkenntnisse und über normale soziale Kontakte verfügt. Zwar behauptete vor der belangten Behörde einen Deutschkurs besucht zu haben (AS 65), entsprechende Bescheinigungsmittel legte er allerdings nicht vor. Auch sonst brachte er im gesamten Verfahren keine Nachweise in Vorlage, die eine Teilnahme an einem Deutschkurs oder eine erfolgreich absolvierte Deutsch- oder Integrationsprüfung belegt hätten. Im Verfahren ergaben sich auch keine Hinweise darauf, dass er zu Freunden oder Bekannten Beziehungen unterhält, die über ein übliches Freundschaftsverhältnis hinausgehen. Empfehlungs- oder Unterstützungsschreiben von Freunden wurden von ihm nicht vorgelegt.
Seinen Ausführungen war zu entnehmen, dass Verwandte in Österreich leben. In der Verhandlung schilderte er, dass er sie in seiner Freizeit besuche und er mit ihnen ein gutes Verhältnis hat (OZ 10, Seite 4). Dass zwischen ihnen ein besonderes Naheverhältnis und/oder ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis besteht, machte er damit nicht geltend.
Die Feststellungen zu seiner Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen gründen auf seinen Angaben im Zuge der Beschwerdeverhandlung. Dort führte er erstmals aus, eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen zu führen, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Beziehung erst nach der Erlassung des bekämpften Bescheides eingegangen wurde. Abgesehen von der bloßen Bekundung, seine Freundin heiraten zu wollen, kamen keine stichhaltigen Hinweise für eine baldige Eheschließung hervor. Aus den Schilderungen des BF ging nicht hervor, dass zwischen ihm und seiner Freundin ein besonders Abhängigkeitsverhältnis besteht. Sie führen keinen gemeinsamen Haushalt; seine Freundin wohne in Wien, er hingegen in XXXX .
2.3. Zur Feststellung fehlender individueller Verfolgung des BF vor der Ausreise bzw. der fehlenden Gefahr einer solchen pro futuro oben gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:
2.3.1. In seiner Erstbefragung am 05.06.2023 gab er zu seinen Ausreisegründen befragt an, dass er von seinem Vater in ein Gymnasium geschickt worden sei, das „anscheinend“ der Gülen-Bewegung angehört habe. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 seien diese Schulen gesperrt worden und habe er das Gymnasium nicht mehr besuchen können. Die Lehrer seien verhaftet und die Schüler als Verräter abgestempelt worden. Deswegen sei er von der Regierung und von der Gesellschaft unterdrückt und ausgeschlossen worden. Im September 2022 sei er zum Militärdienst gegangen. Ihm sei vorgeworfen worden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Deshalb sei er zu schlechten Diensten eingeteilt worden. Er habe Gefangene ins Krankenhaus eskortieren müssen. Eines Tages habe er feststellen müssen, dass ein Gefangener ein Lehrer seines Gymnasiums gewesen sei. Der Lehrer habe ihn erkannt und ihm Unterlagen gegeben, die er zur Familie des Lehrers bringen hätte sollen. Er sei aber von den Offizieren erwischt worden und habe danach zwei Monate in einer Einzelzelle verbringen müssen. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst sei er des Öfteren von Sicherheitskräften zur Einvernahme mitgenommen worden. Diese Behandlungen hätten nicht aufgehört, deshalb habe seine Familie entschieden, dass er sich in Sicherheit bringen und die Türkei verlassen solle. Das seien alle seine Antragsgründe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, verhaftet oder getötet zu werden.
Bei der behördlichen Einvernahme am 04.04.2024 führte er zu seinen Antragsgründen zunächst aus, dass seine im Bundesgebiet wohnhaften Onkeln bei ihren Aufenthalten in der Türkei immer erzählt hätten, wie schön es in Österreich sei. Deswegen sei er nach Österreich gekommen. Über Nachfrage, ob er weitere Antragsgründe geltend machen wolle, erwiderte er, dass er Probleme in Bezug auf FETÖ gehabt habe. Diese Probleme habe es 2016 gegeben. Er sei in einer der FETÖ-Schulen gegangen. Er habe dort eine religiöse Ausbildung erhalten. Dann habe es den Putschversuch gegeben. Von da an seien sie („wir“) diskriminiert worden, aber das hätten sie („wir“) nicht gewusst, sie („wir“) hätten nur die Schule besucht. In dem Dorf sei man immer wieder diskriminiert worden oder, wenn man in die Ferne gegangen sei und seine Meinung gesagt habe, dann habe es geheißen „Ach mein Freund, lass das mal“. Sie hätten ihnen nie zugehört, sie („wir“) ihnen aber schon. Deswegen sei er auch im Jahr 2022 in Bursa von unbekannten Personen verprügelt worden. Er sei dabei „nicht wirklich besonders“ verletzt worden und habe eine Anzeige bei der Polizei erstattet. Ob die Täter von der Polizei ausgeforscht worden seien, wisse er nicht. Zuletzt habe er Probleme mit der Gendarmerie gehabt. Er sei beim Militärdienst gewesen. Am 06.02. sei das Erdbeben gewesen und er habe immer minderwertige Arbeiten machen müssen, wie etwa sauber machen oder in der Küche arbeiten. Sie hätten ihn immer als FETÖ-Anhänger gesehen. Er sei dann in der Küche eines Gefängnisses stationiert gewesen. In der Nacht des Erdbebens seien alle Kommandanten ins Erdbebengebiet gefahren. Diejenigen, die in der Dienststelle verblieben seien, hätten die Gefangenen zum Arzt und zu den Untersuchungen eskortieren müssen. Das habe er dann zusammen mit einem Kommandanten gemacht. Er habe bemerkt, dass der Gefangene, den sie zum Arzt gebracht haben, sein Lehrer gewesen sei. Sein Lehrer habe ihn heimlich gefragt, ob er eine Mappe seiner Familie bringen könne. Sein vermutlich an Krebs erkrankter Lehrer habe ihm am nächsten Tag, als er ihn wieder zum Arzt gebracht habe, eine Mappe überreicht, die er in der Toilettenanlage des Krankenhauses versteckt habe. Er habe nicht vorgehabt, die Mappe der Familie des Lehrers zu überreichen. Er sei aber den Inhalt der Mappe betreffend neugierig gewesen und habe daher seine Dienststelle verlassen und sei ins Krankenhaus zurückgegangen. Die dortigen Bediensteten seien über seine Anwesenheit verwundert gewesen und hätten ihn verfolgt. Er sei auf die Toilette gegangen um die Mappe zu holen. Im nächsten Moment sei die Toilette gestürmt worden und sei er in eine Zelle geworfen worden, weil sie ihn mit der Mappe in der Hand gesehen hätten. Er habe zu diesem Zeitpunkt nur noch einen Monat seines Wehrdienstes abzuleisten gehabt. Er sei letztlich erst nach sechs Wochen aus dem Wehrdienst entlassen worden, weil er davon noch zwei Wochen in der Zelle gewesen sei. Über Nachfrage führte er aus, dass er „ganz normal“ aus dem Wehrdienst entlassen worden sei.
In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass er der Gülen-Mitgliedschaft bezichtigt werde und er deshalb ins Visier der türkischen Sicherheitskräfte geraten sei, zumal er eine Gülen-Schule bzw. ein Gülen-Gymnasium besucht habe und während des Militärdienstes einem ehemaligen Lehrer dieser Schule, der inhaftiert gewesen sei, Unterstützung geleistet habe und dabei erwischt worden sei. Es wurde weiter dargelegt, dass er das XXXX besucht habe, welches von der Gülen-Bewegung geleitet und „mittels Präsidentendirekten“ geschlossen worden sei. Er sei insgesamt zwei Wochen in der Zelle gewesen, weshalb sein Wehrdienst um diese Zeit verlängert worden sei. Die belangte Behörde habe sich mit seiner Verfolgung nach der Entlassung aus dem Wehrdienst nicht auseinandergesetzt. Im Zeitraum von März 2023 bis Juni 2023 sei er weiterhin von türkischen Sicherheitskräften verfolgt worden. So sei er beispielsweise einmal – glaublich im April 2023 – von der Gendarmerie zum Gendarmerieposten gebracht und zu seinem Lehrer sowie zur Gülen-Bewegung befragt worden. Insbesondere sei er zum Lehrer XXXX und zur Person des Herrn XXXX befragt worden. Diese Personen seien ebenfalls aus der Türkei – glaublich nach Deutschland – geflüchtet. Der Letztgenannte habe ihn in seiner Einvernahme als Gülen-Anhänger identifiziert, weshalb er aus der Türkei flüchten habe müssen. Diese Tatsache habe er über die Familie des Herrn XXXX erfahren. Aufgrund seiner unterstellten Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung werde er wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verfolgt und müsse er im Falle der Rückkehr mit einer Festnahme rechnen.
Im Wege seiner Rechtsvertretung brachte er mit schriftlicher Stellungnahme vom 10.11.2025 vor, dass er im Umfeld der Gülen-Bewegung sozialisiert worden sei, da er ein Gymnasium der Gülen-Bewegung besucht habe. Erneut führte er aus, dass er im Zuge des Militärdienstes bei der Unterstützung eines Gülen-Anhängers, der als Lehrer an seinem ehemaligen Gymnasium tätig gewesen sei, von Offizieren erwischt worden sei und auch noch nach Ableistung des Militärdienstes des Öfteren von Sicherheitskräften einvernommen worden sei. Vor dem Hintergrund der einschlägigen Länderberichte zur Gülen-Bewegung sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er unmittelbar nach seiner Rückkehr inhaftiert werde. Es sei zu erwarten, dass aufgrund seiner geschilderten Verbindungen zur Gülen-Bewegung gegen ihn zumindest strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet und mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen ihn eine Anklage erhoben werde. Zugleich legte er drei Fotos, die ihn während der Ableistung des Wehrdienstes, ein Foto während der Schulzeit, einen Screenshot eines Facebook-Postings mit Bild seiner ehemaligen Schule sowie einen fremdsprachigen online-Zeitungsartikel über die Schließung einer FETÖ-Schule in XXXX zeigten, vor.
In der Verhandlung vor dem BVwG schilderte er, dass er sich 2022 in Bursa in eine Auseinandersetzung eingemischt habe. Der Grund für die Auseinandersetzung sei sein Freund gewesen, nicht er. Die anderen hätten über Religion geredet und sein Freund habe genauso wie er eine „FETÖ-Schule“ besucht. Man habe sie als „FETÖ-Anhänger“ beschimpft. Zwei Personen hätten auf ihn eingeschlagen, er habe aber keine starken Verletzungen davongetragen. Er sei mit seinen Freunden zur Polizei gegangen und habe Anzeige erstattet. Die Polizisten hätten gesagt, dass es am Tatort keine Kameras gebe und sie lügen würden, woraufhin sie weggeschickt worden seien. Angesprochen auf den Vorfall während seiner Wehrdienstzeit, schilderte er, dass sein vormaliger Lehrer ihm Unterlagen gebracht habe und er in eine Zelle gesteckt worden sei, weil man diese Unterlagen sichergestellt habe. Nachdem sein Lehrer aus der Haft entlassen worden sei, habe er ihm diese Unterlagen gegeben. Sie seien gemeinsam ins Krankenhaus gegangen und er habe diese Unterlagen in der Toilette oben versteckt. Die Kommandanten seien in die Toilette gekommen und hätten ihn durchsucht. Sie hätten dann die offene Stelle oben gesehen und dort die Unterlagen entdeckt, woraufhin er festgenommen worden sei. Er sei in einem kleinen Raum einvernommen worden. Man habe ihn gefragt, was er mit diesen Unterlagen vorgehabt habe und wohin er sie bringen hätte sollen. Er habe den Kommandanten erzählt, dass er sie der Familie des Lehrers übergeben hätte sollen. Er sei gefragt worden, wie er mit der Familie Kontakt aufnehmen hätte sollen. Er erwiderte, sein Lehrer habe ihm während seiner Haft gesagt, dass die Telefonnummer seiner Familie in den Unterlagen sei. Den Inhalt dieser Unterlagen habe er sich nicht angeschaut. Ihm sei daraufhin vorgeworfen worden, dass er Unterlagen eines Beschuldigten mitgenommen habe. Er sei deshalb zwei bis zweieinhalb Wochen in einem kleinen Zimmer festgehalten worden und habe nur drei Mahlzeiten bekommen. Er sei im Laufe des März 2023 aus dem Wehrdienst entlassen worden. Er habe insgesamt sechs Monate und zusätzlich zwei Wochen aufgrund seines Arrests gedient. Er sei danach in sein Heimatdorf zurückgekehrt und nach einem Monat ins Ausland gegangen, weil es jedes Mal irgendwelche Probleme gegeben habe.
2.3.2. Der BF konnte nicht glaubhaft darlegen, dass er wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung von den türkischen Sicherheitskräften/Behörden oder von Dritten in relevanter Weise verfolgt wurde bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit verfolgt wird.
Den nachfolgenden Überlegungen war vorauszuschicken, dass er zu keinem Zeitpunkt behauptete, selbst Gülenist bzw. Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Dass seine Eltern oder sonstige Verwandte in der Türkei der Gülen-Bewegung angehören, behauptete er ebenfalls nicht. Er brachte jedoch vor, der Gülen-Mitgliedschaft bezichtigt worden zu sein, weil er ein Gymnasium bzw. ein Lyzeum (vgl. AS 7, 170; OZ 9) besucht habe, das („anscheinend“ AS 7) der Gülen-Bewegung zugeschrieben worden sei. Die „ganzen Probleme“ hätten im Jahr 2015 nach dem sechsmonatigen Schulbesuch begonnen (vgl. OZ 10, Seite 8). Aufgrund des Schulbesuches bzw. der damit unterstellten oppositionellen Gesinnung sei er beim Militär, bei seiner Arbeit und im Dorf diskriminiert worden (vgl. OZ 10, Seite 8). Außerdem sei er ins Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten, weil er einem vormaligen Lehrer seines Gymnasiums während seiner Wehrdienstzeit unterstützt habe. Schließlich behauptete er auch (ausschließlich in der Beschwerde), dass ihn ein Freund als Gülen-Anhänger in einer Einvernahme identifiziert habe.
2.3.2.1. Das BVwG gibt zunächst zu bedenken, dass der BF lediglich sechs Monate ein Lyzeum in XXXX besucht habe, das angeblich der Gülen-Bewegung zugerechnet worden sei. Er habe den Schulbesuch dort nicht infolge des Putschversuches im Jahr 2016 und einer damit einhergehenden Schulschließung abbrechen müssen, sondern weil er Lernschwierigkeiten und Heimweh gehabt habe (siehe bereits oben unter 2.2.). Dass das Lyzeum in der Nachbarortschaft, wo er seinen Schulbesuch für weitere sechs Monate fortgesetzt habe, auch eine Gülen-Schule gewesen sei, war seinen Ausführungen nicht zu entnehmen (siehe insbesondere die mit Schriftsatz vom 10.11.2025 vorgelegten Beweismittel, die sich ausschließlich auf das Lyzeum in XXXX beziehen [Foto zeigend den BF im Internat; Screenshot eines Facebook-Postings mit Bild seiner angeblichen ehemaligen Schule in XXXX ; online-Zeitungsartikel über die Schließung einer „FETÖ-Schule“ in XXXX ]). Darüber hinaus beendete er auch den Schulbesuch in XXXX freiwillig, weil er Geld verdienen wollte.
Das BVwG hegt daher bereits grundsätzliche Zweifel daran, dass er wegen dieser kurzen Schulzeit an einer angeblichen Gülen-Schule in XXXX als vermeintlicher Gülenist angesehen wurde, zumal er auch aus eigenem Entschluss den Schulbesuch dort abbrach. Die Ansicht, dass er im Umfeld der Gülen-Bewegung sozialisiert worden sei, da er ein Gymnasium der Gülen-Bewegung besucht habe, wie im Schriftsatz seiner Vertretung vom 10.11.2025 behauptet wurde, teilt das BVwG angesichts des behaupteten sechsmonatigen Schulbesuchs nicht. Seine Rechtsvertretung legt mit ihrer pauschalen, keinen Bezug zur konkreten Situation des BF herstellenden Behauptung, dass allein der Besuch von Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung ausreiche, um in der Türkei strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilung ausgesetzt zu sein, nicht dar, weshalb gerade er von einer solchen Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit betroffen sein sollte. Der bloße Verweis auf die allgemeine Berichtslage zum Vorgehen der türkischen Behörden gegen (vermeintliche) Gülenisten kann die Glaubhaftmachung einer konkreten, individuell gegen den BF gerichteten Verfolgung nicht ersetzen (vgl. VwGH 24.01.2023, Ra 2022/20/0328, mwN).
2.3.2.2. Der angeblich im Jahr 2022 in Bursa erfolgten tätlichen Auseinandersetzung, bei der er von unbekannten Personen als „FETÖ-Anhänger“ beschimpft und laut eigenen Angaben nicht wirklich verletzt worden sei, mangelt es bereits an einem zeitlichen und kausalen Konnex zur Ausreise im Jahr 2023 und war daher zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht nicht geeignet. Aus seinen Angaben ergibt sich, dass dieser Vorfall ihn nicht zu einer sofortigen Ausreise veranlasste, sondern er vielmehr mit der Erstattung einer polizeilichen Anzeige das Auslangen fand, auch wenn die Polizei – offensichtlich aufgrund fehlender Anknüpfungspunkte (Anzeige gegen unbekannte Personen, fehlende Kameraüberwachung am vermeintlichen Tatort) – keine zielführenden Ermittlungen zur Ausforschung der Täter setzte. Dass die Polizisten seine Anzeige gar nicht entgegengenommen hätten, konnte er nicht glaubhaft machen. Denn erstmals in der Verhandlung brachte er gesteigert – und damit nicht glaubhaft – vor, die Polizisten hätten ihn der Lüge bezichtigt und ihn sowie seine Freunde weggeschickt.
2.3.2.3. Hinsichtlich der behaupteten schlechten Behandlung während der Wehrdienstzeit fehlt es auch diesem Vorbringen an einem zeitlichen Bezug zur Ausreise sowie an der für eine Verfolgung erforderlichen Eingriffsintensität. Er brachte vor, dass er als „FETÖ-Anhänger“ angesehen worden sei und er immer minderwertige Arbeiten machen habe müssen, wie etwa Reinigungs- und Küchendienste (vgl. AS 63) bzw. habe er Gefangene ins Krankenhaus eskortieren müssen (vgl. AS 7). Nach der Judikatur des VwGH ist nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295). Derartiges kann im Hinblick auf die von ihm als minderwertig beschriebenen Arbeiten nicht erblickt werden. Der BF wurde auch vom Wehrdienst im Februar 2023 bzw. März 2023 (siehe bereits oben unter 2.2.) entlassen, sodass es auch jedenfalls an einer Aktualität einer Verfolgung mangelt.
2.3.2.4. Der behauptete Vorfall, der sich während seiner Wehrdienstzeit im Zusammenhang mit einem ehemaligen Lehrer seines Gymnasiums ereignet habe, erwies sich als nicht glaubhaft. Der BF war nicht in der Lage diesen Vorfall und die daran anknüpfenden Sanktionen bzw. Konsequenzen schlüssig und widerspruchsfrei zu schildern. In seinen Schilderungen traten mehrere Ungereimtheiten auf, sodass von einem bloßen Tatsachenkonstrukt auszugehen war.
Er schilderte den Handlungsverlauf sowohl vor der belangten Behörde also auch vor dem BVwG. Dabei waren mehrere Abweichungen zu erkennen, die Zweifel an dem behaupteten Vorfall aufkommen ließen. So gab er vor der belangten Behörde an, dass er die Mappe bzw. die Unterlagen am nächsten Tag, als er den Lehrer wieder zum Arzt gebracht habe, von ihm erhalten habe (AS 63). In der Verhandlung führte er hingegen aus, dass ihm der Lehrer die Unterlagen überreicht habe, nachdem er aus der Haft entlassen worden sei (OZ 10, Seite 7). Abweichend schilderte er auch die Szene, bei der er angeblich von den Krankenhausbediensteten bzw. den Kommandanten auf der Toilette auf frischer Tat ertappt worden sei. So behauptete er vor der belangten Behörde, dass sie ihn mit der Mappe in seiner Hand erwischt hätten (AS 63). Dazu in Widerspruch stand seine Schilderung vor dem BVwG: Demnach hätten sie ihn zunächst durchsucht und dann die offene Stelle oben in der Toilette gesehen und dort die Unterlagen entdeckt (OZ 10, Seite 7 f). Widersprüchlich äußerte er sich auch zur Dauer seiner Festnahme. So sei er zwei Monate lang (AS 7), später jedoch zwei Wochen (AS 63; OZ 10, Seite 8) lang in Einzelhaft gewesen.
Seinen Schilderungen konnte auch nicht nachvollziehbar entnommen werden, dass er aufgrund dieses Vorfalls als Gülenist oder als Unterstützer eines Gülenisten in Arrest genommen worden sei oder in weiterer Folge strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn wegen einer vermeintlichen Mitgliedschaft bei der „FETÖ“ oder wegen einer Nähe zur Gülen-Bewegung eingeleitet worden seien. Auf die Frage, was ihm konkret vorgeworfen worden sei, entgegnete er lediglich, dass ihm die Mitnahme von Unterlagen eines Beschuldigten angelastet worden sei (OZ 10, Seite 8). Dass er selbst als Angehöriger der Gülen-Bewegung verdächtigt worden sei und deshalb zwei Wochen in Arrest verbringen habe müssen, war seinen Ausführungen sohin nicht zu entnehmen. Mit der Einschätzung des BVwG, dass er in Wirklichkeit nicht als Gülenist wahrgenommen wurde, steht auch in Einklang, dass er letztlich „ganz normal“, gemeint ohne weitere Konsequenzen, aus dem Wehrdienst entlassen worden sei (vgl. AS 63), auch wenn sich seine Wehrdienstzeit um die Dauer des zweiwöchigen Arrests verlängert haben möge.
2.3.2.5. Insofern er in der Erstbefragung behauptete, nach seiner Wehrdienstzeit von den Sicherheitskräften „des Öfteren“ einvernommen worden zu sein, erwies sich dieses Vorbringen im Ergebnis als substanzlos. In der behördlichen Einvernahme deutete er bloß vage an, zuletzt mit der Gendarmerie Probleme gehabt zu haben (AS 63). Um welche Probleme es sich dabei konkret gehandelt habe, führte er nicht näher aus. Die in der Beschwerdeschrift vertretene Ansicht, dass er vor der belangten Behörde nicht ausreichend zu seinen Antragsgründen befragt worden sei (AS 170), teilt das BVwG nicht. Im Lichte der erfolgten Belehrung über seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren (vgl. AS 60) war von ihm jedenfalls zu verlangen, dass er die Gründe für das Verlassen seines Herkunftslandes bei der belangten Behörde eigeninitiativ, detailliert und vollständig schildert, zumal es sich beim BF um eine volljährige und einvernahmefähige Person handelt, die eine neunjährige Schulbildung genossen hat.
Dass er erstmals in der Beschwerdeschrift ein detailliertes Vorbringen zu den vermeintlich nach der Wehrdienstzeit erfolgten Befragungen durch türkische Sicherheitskräfte erstattete (vgl. AS 171), legt nahe, dass er sein Vorbringen „nachzubessern“ versuchte. Dass es sich dabei um ein nachträgliches Gedankenkonstrukt handelte, zeigte sich deutlich in der Beschwerdeverhandlung. Denn dort verneinte er die Frage, ob es abgesehen von den geschilderten Problemen während des Wehrdienstes sonstige Probleme mit türkischen Behörden gegeben habe (OZ 10, Seite 9). Erst über Vorhalt seines Beschwerdevorbringens, wonach er einmal von der Gendarmerie mitgenommen und verhört worden sei, behauptete er, dass dies richtig sei, gleichzeitig führte er – in Widerspruch zu seinen bisherigen Behauptungen (arg.: „des Öfteren“) – aus, dass es nur diese eine Einvernahme gegeben habe (OZ 10, Seite 10). Schließlich schilderte er auch den Inhalt der behaupteten Einvernahme anders als in der Beschwerde. Vor dem BVwG behauptete er, dass er gefragt worden sei, welchen Beruf er ausüben und wo er sich aufhalten werde. Dass er über die Gülen-Bewegung einvernommen worden sei – wie der Beschwerdeschrift zu entnehmen ist (AS 171) – erwähnte er nicht. Auch die Frage, ob er zu seinem früheren Lehrer und zur Person XXXX befragt worden sei, verneinte er ausdrücklich (vgl. OZ 10, Seite 10), wiewohl in der Rechtsmittelschrift Gegenteiliges behauptet wurde.
In der Verhandlung stellte sich das Beschwerdevorbringen, wonach XXXX bei einer Einvernahme ihn als Gülen-Anhänger identifiziert habe (vgl. AS 171), als frei erfunden heraus, wie nachfolgender Auszug veranschaulicht:
„RI: In der Beschwerde wird die zuletzt genannte Person, XXXX , betreffend erwähnt, dass er sie bei einer Einvernahme als Gülen-Anhänger genannt habe. Was ist damit gemeint?
P: Wo soll er das erwähnt haben?
RI: Das habe ich gerade Sie gefragt.
P: Von dem weiß ich nichts. Ich habe nur gesagt, dass er sich derzeit in Deutschland aufhält.“ (OZ 10, Seite 9 f)
In einer Gesamtschau seiner Ausführungen in der Verhandlung erhärtete sich sohin der Eindruck, dass es sich bei seinem Vorbringen in der Beschwerde um ein bloßes Tatsachenkonstrukt handelte. Ein nachvollziehbares schlüssiges Verfolgungsszenario konnte er nicht glaubhaft geltend machen.
2.3.2.6. Nur vage blieb auch seine Antwort auf die Frage, ob es einen konkreten Anlass für seine Ausreise aus der Türkei gegeben habe. Ihm zufolge habe es „jedes Mal irgendwelche Probleme gegeben“, man habe ihm Probleme gemacht, wenn er irgendwo beschäftigt gewesen sei und auch mit Dorfbewohnern habe er Probleme gehabt. Selbst über mehrmaliges Nachfragen war er aber nicht in der Lage ein substantiierteres Vorbringen zu den behaupteten Problemen bzw. Diskriminierungen zu erstatten:
„RI: Sie reden immer von Problemen, was meinen Sie damit?
P: Die ganzen Probleme begannen 2015, nach 6 Monaten Schulbesuch.
RI: Aber konkret, was meinen Sie mit Problemen?
P: Diskriminierung.
RI: Diskriminierung in welcher Form?
P: Man hat uns beschuldigt, weil wir die Schule von diesen besucht haben. Ich meine damit, weil wir die Schule von Fetullah Gülen besucht haben.
RI: Reden Sie von Ihren Geschwistern oder Freunden?
P: Ich meine damit mich und meine Schulfreunde.
[…]
RI: Abgesehen davon, dass man Ihnen das vorgehalten hat, dass Sie diese Schule besucht haben, gab es sonst noch Probleme mit den Leuten aus Ihrem Dorf?
P: Ansonsten keine anderen Probleme.“ (OZ 10, Seite 8 f)
Nur vage schilderte er auch die vermeintlichen Probleme bei der Arbeit:
„RI: Wenn Sie sagen, dass potenzielle Arbeitgeber nachgeschaut haben, welche Schulen Sie besucht haben, was hat sich dann daraus ergeben?
P: In der Türkei muss man die Schulbestätigung vorlegen, wenn man eine Arbeit sucht. Auch wenn man grundsätzlich von einem Arbeitgeber gut behandelt wird, weil man meine Arbeit schätzt, ändert sich dieser Umgang plötzlich sobald man wahrnimmt, welche Schule ich besucht habe. Dann nimmt man Abstand zu mir und behandelt mich plötzlich schlechter als zuvor.“ (OZ 10, Seite 10 f)
Diesen Ausführungen ist jedenfalls kein Geschehen zu entnehmen, das einen ungerechtfertigten Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des BF erkennen ließe.
2.3.3. Zusammengefasst war daher festzuhalten, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte aufgrund eines sechsmonatigen Schulbesuches in einem Gülen-Gymnasium, eines im Zuge des Wehrdienstes ereigneten Vorfalls mit einem ehemaligen Lehrer dieser Schule oder aus sonstigen Gründen als vermeintlicher Gülenist oder Unterstützer der Gülen-Bewegung nachhaltig ins Blickfeld der türkischen Behörden geraten zu sein. Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise oder die Gefahr einer solchen bei einer Rückkehr konnte er damit nicht glaubhaft darlegen.
2.4. Die Annahme, dass der BF bei einer Rückkehr auch insoweit keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre, als er etwa in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, stützt sich darauf, dass es sich bei ihm um einen gesunden, arbeitsfähigen Mann mit neunjähriger Schulbildung und Berufserfahrung als Baggerfahrer handelt, sodass mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass er bei einer Rückkehr neuerlich für seinen Unterhalt sorgen kann. Abgesehen davon verfügt er in der Türkei über ein familiäres Auffangnetz. Es kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er von seiner Familie – zumindest anfangs – eine Unterstützung bei seiner Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft und in den türkischen Arbeitsmarkt erhält. Es kann angenommen werden, dass er zumindest vorübergehend wieder bei seiner Familie leben kann, die nach wie vor in seinem Heimatdorf im Familienhaus wohnhaft ist. Dass seine in der Türkei verbliebenen Familienangehörigen von einer existenzbedrohenden Notlage betroffen seien, kam nicht hervor. Dass er in seiner Heimat bei einer Rückkehr eine neue Lebensgrundlage findet, war im Lichte dessen als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen.
2.5. Die vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen stützen sich auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 06.08.2025 (Version 10). Die Länderfeststellungen stellen sich in den für die gg. Entscheidung wesentlichen Aspekten als ausreichend und tragfähig dar.
Die allgemeine Sicherheitslage in der Türkei war im Lichte dessen nicht dergestalt einzuschätzen, dass schon mit der bloßen Anwesenheit für jeden Zurückkehrenden das reale Risiko verbunden wäre, Opfer eines Terroranschlags oder sonstiger gewaltsamer Auseinandersetzungen zu werden. Daraus ergab sich außerdem, dass im Herkunftsstaat des BF aktuell kein landesweiter bewaffneter Konflikt ausgetragen wird, der eine gravierende Gefährdung indizieren würde.
Der BF trat den in der Verhandlung eingebrachten Länderberichten auch nicht substantiiert entgegen. Das in der Stellungnahme seiner Rechtsvertretung vom 10.11.2025 zitierte Länderinformationsblatt wurde ohnehin der Entscheidung zugrunde gelegt. Wie bereits oben ausgeführt wurde, vermochte der BF nicht glaubhaft darzulegen, aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung verfolgt zu werden, sodass auf die weiteren zitierten Berichte nicht näher einzugehen war.
3. Rechtliche Beurteilung:
Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.
Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.
Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 59 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, 1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Mit Datum 1.1.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 53/2019.
Mit dem BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G) idF BGBl. I Nr. 68/2013, in Kraft getreten mit 1.1.2014, wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als Rechtsnachfolger des vormaligen Bundesasylamtes eingerichtet. Gemäß § 3 Abs. 1 BFA-VG obliegt dem BFA u.a. die Vollziehung des BFA-VG und des AsylG 2005 idgF.
Gemäß § 7 Abs. 1 Z. 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Zu A)
1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG hat die Behörde einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht. Darüber hinaus darf keiner der in § 6 Abs. 1 AsylG genannten Ausschlussgründe vorliegen, andernfalls der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden kann.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Im Hinblick auf die Neufassung des § 3 AsylG 2005 im Vergleich zu § 7 AsylG 1997 wird festgehalten, dass die bisherige höchstgerichtliche Judikatur zu den Kriterien für die Asylgewährung in Anbetracht der identen Festlegung, dass als Maßstab die Feststellung einer Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK gilt, nunmehr grundsätzlich auch auf § 3 Abs. 1 AsylG 2005 anzuwenden ist.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH 21.09.2000, Zl. 2000/20/0241; VwGH 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 19.04.2001, Zl. 99/20/0273; VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).
1.2. Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung einer Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder eine solche bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat.
Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, war davon auszugehen, dass dem BF keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (vgl. VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).
Die belangte Behörde kam daher zu Recht zum Ergebnis, dass der BF weder bis zur Ausreise einer individuellen Verfolgung durch staatliche Organe oder Dritte im Herkunftsstaat ausgesetzt war noch der Gefahr einer solchen für den Fall der Rückkehr ausgesetzt wäre.
1.3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.
2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.
2.2. Zu den Kriterien für die allfällige Zuerkennung von subsidiärem Schutz hat sich der Verwaltungsgerichtshof zuletzt in seinem Erkenntnis vom 26.06.2019, Ra 2019/20/0050 bis 0053-10, unter Bezugnahme auf seine vorgehende Judikatur in grundsätzlicher Weise geäußert.
Hatte er zuvor in seinem Erkenntnis vom 6. November 2018, Ra 2018/01/0106, näher dargelegt, dass der Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Weiteren kurz: StatusRL) betreffend den Status des subsidiär Schutzberechtigten im Sinn der Auslegung der Bestimmung des Art. 15 lit. b iVm Art. 3 StatusRL entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) und somit fehlerhaft umgesetzt hat (siehe Rn. 45 der Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses), und in diesem Erkenntnis auch darauf verwiesen, dass zur Erfüllung dieser Verpflichtung es der Grundsatz der unionskonformen Auslegung von den mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichten verlangt, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht, so stellte er dem gegenüber, dass die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen findet und nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (Rn. 47 ff. der Entscheidungsgründe).
Im zitierten Erkenntnis Ra 2018/01/0106 hat der VwGH sodann die Frage, ob § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer dem Unionsrecht (im Sinn der zu Art. 15 StatusRL ergangenen Rechtsprechung des EuGH) Genüge tuenden Auslegung zugänglich ist, ausdrücklich dahingestellt gelassen (Rn. 60 der Entscheidungsgründe). Auch im Beschluss vom 21. November 2018, Ra 2018/01/0461, wurde lediglich darauf hingewiesen, dass es der StatusRL widerspreche, einem Fremden den Status des subsidiär Schutzberechtigten unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat zuzuerkennen.
Den genannten Entscheidungen war somit – ungeachtet des jeweils vorhandenen Hinweises auf die Unionsrechtswidrigkeit des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 – nicht zu entnehmen, dass der Verwaltungsgerichtshof damit seine bisherige zum Umfang des Anwendungsbereiches des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ergangene Rechtsprechung als nicht mehr beachtlich angesehen hätte.
Zwischenzeitig hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit der Frage, ob in Bezug auf den Status des subsidiären Schutzes eine unionsrechtskonforme Lösung gefunden werden kann (und allenfalls das Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung in Erwägung zu ziehen sein wird), in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, beschäftigt. Er ist dort zum Ergebnis gelangt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der StatusRL in Übereinstimmung gebracht würde, die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Damit würde der StatusRL zu Unrecht eine ihr im gegebenen Zusammenhang nicht zukommende unmittelbare Wirkung zugeschrieben.
Infolge dessen ist an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten.
2.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. zum Ganzen VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist (vgl. VwGH 11.08.2021, Ra 2020/18/0309; VwGH 21.02.2017, Ra 2017/18/0008). Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH 26.01.2021, Ra 2020/14/0587, mwN; VwGH 23.9.2020, Ra 2020/01/0146, jeweils mit Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 183 und 189 ff). Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (VwGH 23.03.2017, Ra 2017/20/0038, mit Verweis auf die Beschlüsse vom 21.02.2017, Ro 2016/18/0005 und Ra 2017/18/0008 bis 0009, unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 183 und Rz 189 ff).
2.4. Aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergab sich nicht, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 für den BF vorliegen:
Stichhaltige Hinweise darauf, dass er im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, kamen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervor. Der vom BF geltend gemachte Fluchtgrund im Zusammenhang mit einer ihm unterstellten Mitgliedschaft bei bzw. Unterstützung der Gülen-Bewegung und einer ihm damit zumindest unterstellten oppositionellen Gesinnung konnte von ihm nicht glaubhaft gemacht werden.
Wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung bereits dargelegt wurde, liegt im gg. Fall auch eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), nicht vor. Dies zum einen angesichts seiner eigenen Selbsterhaltungsfähigkeit, die aus seiner Arbeitsfähigkeit, seiner neunjährigen Schulbildung und seiner bereits erworbenen Berufserfahrung als Baggerfahrer resultiert, zum anderen in Anbetracht der familiären Anknüpfungspunkte des BF in der Türkei. Seinem Vorbringen zu den Lebensumständen vor der Ausreise konnte nicht entnommen werden, dass diese von einer fehlenden Lebensgrundlage geprägt gewesen wären.
Es kam auch keine gravierende Erkrankung des BF hervor. Ein, die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigendes Krankheitsbild liegt daher nicht vor.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde er somit nicht in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl. Nr. 210/1958 idgF, oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. Nr. 138/1985 idgF, und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, BGBl. III Nr. 22/2005 idgF, verletzt werden.
Auch konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
2.5. Vor diesem Hintergrund erwies sich letztlich die Annahme des Bundesamtes, es lägen im gg. Fall keine stichhaltigen Gründe für die Annahme des realen Risikos einer Gefährdung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG vor, als mit dem Gesetz in Einklang stehend, und geht auch das BVwG in der Folge von der Zulässigkeit der Abschiebung des BF in dessen Herkunftsstaat aus.
2.6. Insoweit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.
3.1. § 10 Abs. 1 AsylG lautet:
(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. […]
2. […]
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. […]
5. […]
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
§ 57 AsylG 2005 lautet:
(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1.wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3.wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
[…]
§ 58 Abs. 1 AsylG 2005 lautet:
(1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. […]
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. […]
4. […]
5. […]
§ 52 FPG lautet:
(1) […]
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. […]
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. […]
4. […]
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) – (8) […]
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaats, in den der Drittstaatsangehörigen abgeschoben werden soll, aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
(10) – (11) […]
§ 9 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
[…]
Art. 8 EMRK lautet:
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
3.2. Der gg. Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz wurde vom BFA zu Recht gemäß §§ 3 und 8 AsylG abgewiesen, die dagegen vom BF erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom heutigen Tag als unbegründet abgewiesen. Die Einreise des BF in das Gebiet der europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Der Aufenthalt des BF stützte sich danach bloß auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer seines nunmehr abgeschlossenen Verfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel des drittstaatsangehörigen Fremden ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des BF im Bundesgebiet mehr vor und fällt er damit nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.
Es lagen keine Umstände vor, dass dem BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargetan.
Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 war diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
3.3. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts des BF auf Achtung seines Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00).
Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua).
Wie der Verfassungsgerichtshof in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:
die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),
das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),
die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),
die Bindungen zum Heimatstaat,
die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie
auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).
In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).
Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10).
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Asylantragstellers dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).
Nach der Rechtssprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
3.4. Im Bundesgebiet leben vier Onkel sowie Cousins und Cousinen des BF. Es konnte kein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und seinen Verwandten festgestellt werden.
Er führt in Österreich eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen. Eine Eheschließung ist beabsichtigt, bislang aber nicht vollzogen worden. Die beiden haben keine gemeinsamen Kinder und führen auch keinen gemeinsamen Haushalt. Es konnte auch kein finanzielles oder anderweitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen festgestellt werden, sodass in einer Gesamtschau die Beziehung keine derartige Intensität aufweist, um von einem Eingriff in ein von Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben ausgehen zu können. Freilich ist ungeachtet der Verneinung eines schützenswerten Familienlebens seine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen im Rahmen der Abwägung gemäß Art. 8 EMRK als Aspekt des schützenswerten Privatlebens zu berücksichtigen.
Er hält sich seit seiner unrechtmäßigen Einreise im Juni 2023 in Österreich auf. Ihm kam nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht nach dem AsylG zu. Sein erst seit zweieinhalb Jahren bestehender Aufenthalt in Österreich war überdies dadurch in seinem Gewicht abgeschwächt, dass er seinen Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchte, er konnte alleine durch die Stellung seines Antrages jedoch nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung des Aufenthalts ausgehen.
Im gegenständlichen Verfahren waren im Übrigen auch keine unverhältnismäßig langen Verfahrensgänge festzustellen, die dem BFA oder dem BVwG zur Last zu legen wären. Von einer maßgeblichen Integration bzw. Verfestigung seiner Interessen angesichts einer erheblichen Aufenthaltsdauer war daher nicht auszugehen.
Trotz des zweieinhalbjährigen Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet erzielte er keine außergewöhnlichen Integrationsschritte. Er verfügt lediglich über einfache Deutschkenntnisse. Er hat bislang weder eine Deutsch- noch eine Integrationsprüfung absolviert. Er ist in Österreich weder Mitglied in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation. Er ging bislang auch keiner ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Zu seinen Gunsten sind bei der Interessensabwägung seine unselbständige Erwerbstätigkeit sowie seine Selbsterhaltungsfähigkeit im Bundesgebiet zu beachten. Seine Erwerbstätigkeit stellt allerdings für sich genommen keinen außergewöhnlichen Integrationsschritt dar. Hinzukommt, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z. 8 BFA-VG maßgeblich zu relativieren ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende außergewöhnliche Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Sicht waren somit nicht feststellbar.
Bei der Interessensabwägung war auch seine Beziehung mit seiner österreichischen Staatsangehörigen zu berücksichtigen. Die beiden sind nicht verheiratet, führen keinen gemeinsamen Haushalt und haben auch keine gemeinsamen Kinder. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen war nicht festzustellen. Dem BF und seiner Freundin musste zudem sein unsicherer Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet bewusst sein. Die Beziehung ging der BF erst nach Erlassung des bekämpften Bescheids ein, denn weder brachte er in der behördlichen Einvernahme noch in der Beschwerde vor eine Beziehung im Bundesgebiet zu führen. Erstmals in der Verhandlung vor dem BVwG erstattete er ein dahingehendes Vorbringen. Wie bereits erwähnt, ist es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z. 8 BFA-VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 30.07.2020, Ra 2020/20/0130, mwN). Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste, und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründete Lebensgemeinschaft (VwGH 05.08.2020, Ra 2020/14/0199 mwN). Die Schutzwürdigkeit seines Privatlebens in Österreich war aufgrund dessen auch nur in geringem Maße gegeben. Im Übrigen ist es ihm und seiner Freundin möglich nach seiner Ausreise den Kontakt mittels moderner Kommunikationsmittel (wenn auch in reduzierter Form) aufrechtzuerhalten und bleibt es ihm unbenommen in Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen mit einem gültigen Aufenthaltstitel neuerlich in das Bundesgebiet einzureisen.
Er hat im Bundesgebiet im Übrigen normale soziale Kontakte. Soweit er über private Bindungen in Österreich verfügt, werden diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass er hierdurch gezwungen wird, den Kontakt zu jenen Personen, die ihm in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Ihm steht es frei, die sozialen und freundschaftlichen Kontakte anderweitig (etwa telefonisch oder durch Urlaubsaufenthalte gegebenenfalls auch in einem Drittstaat etc.) aufrecht zu erhalten.
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, 98/18/0420).
Er verbrachte demgegenüber den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat, wurde dort sozialisiert und spricht Türkisch als Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Er hat in der Türkei neun Jahre lang die Schule besucht. Er verfügt über Berufserfahrung als Baggerfahrer in der Türkei. Er ist gesund und arbeitsfähig, weshalb auch seine Selbsterhaltungsfähigkeit in der Türkei angenommen werden kann. Ebenso war festzustellen, dass er dort über Bezugspersonen in Form seiner Familie verfügt, auf deren Unterstützung er im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Es deutet nichts darauf hin, dass es ihm im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.
Der sohin nur sehr schwachen Rechtsposition des BF im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich stehen die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes gegenüber.
3.5. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG war davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des BF im Bundesgebiet dessen persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet jedenfalls überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht bewirkt wird. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden, die im gegenständlichen Fall den Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, rechtfertigen würden.
4. Schließlich sind im Hinblick auf § 52 Abs. 9 iVm. § 50 FPG keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass eine Abschiebung des BF in die Türkei unzulässig wäre (vgl. oben die Erwägungen und Feststellungen zur Frage der Gewährung subsidiären Schutzes).
5. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung in den Herkunftsstaat vorlagen, war auch die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III, IV und V des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
6. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 2 erster Satz FPG.
Es waren keine besonderen Umstände iSd § 55 Abs. 2 und 3 FPG feststellbar, derentwegen eine längere Ausreisefrist geboten wäre, weshalb auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt VI des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen war.
7. Es war sohin spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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