IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER über die Beschwerde des litauischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 16.06.2023, Zl. XXXX , betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B)Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF) reiste im Jahr 2019 in das Bundesgebiet ein.
Am XXXX .2020 wurde der BF wegen einer Ordnungsstörung und wegen Anstandsverletzung angezeigt und verwaltungsrechtlich nach dem Tiroler Landespolizeigesetz bestraft.
Am 09.03.2020 wurde dem BF von der PI XXXX eine Verständigung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 09.03.2020 ausgehändigt, in der er nachweislich darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (Aufenthaltsverbot) gegen ihn eingeleitet wurde. Der BF wurde aufgefordert, sich dazu zu äußern und Fragen zu seinem Privat- und Familienleben und seinem Aufenthalt in Österreich zu beantworten. Der BF erstattete keine Stellungnahme.
Mit Bescheid des BFA vom XXXX .2020, Zl. XXXX wurde der BF gemäß § 66 Abs 1 FPG iVm § 55 Abs 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen. Gleichzeitig wurde dem BF gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit erteilt.
Am XXXX .2020 wurde der BF in XXXX festgenommen und an die Bundesgrenze zu Italien außerlandesgebracht.
Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , rechtskräftig am XXXX .2020, wurde der BF wegen der Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und der Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 300 Tagessätzen zu je EUR 4,00, im Uneinbringlichkeitsfall zu 150 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
Mit dem Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , rechtskräftig am XXXX .2021, wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 100 Tagessätzen zu je EUR 4,00, im Uneinbringlichkeitsfall zu 50 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.
Am XXXX .2022 berichtete die PI XXXX der Staatsanwaltschaft XXXX , dass der BF im Verdacht stehe, am XXXX .2021 in der Notschlafstelle in XXXX eine Körperverletzung begangen zu haben.
Die von der Staatsanwaltschaft XXXX am XXXX .2022 unter der AZ. XXXX , erfolgte Anklageerhebung gegen den BF wegen des Verdachts wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 StGB führte zu keiner Verurteilung.
Mit dem Schreiben des BFA vom 09.10.2023 wurde der BF aufgefordert, sich zu der beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu äußern und Fragen zu seinem Privat- und Familienleben und seinem Aufenthalt in Österreich zu beantworten. Am 13.10.2023 langte eine handschriftliche Stellungnahme beim BFA ein.
Am 30.10.2023 fand die niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA statt.
In weiterer Folge wurde der BF mit Schreiben des BFA vom 06.06.2024 erneut aufgefordert, Änderungen in Hinblick auf sein Privat- und Familienleben, aktuellen Gesundheitszustand und seinen Aufenthalt in Österreich bekanntzugeben. Eine Stellungnahme langte nicht ein.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein dreijähriges Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.), erteilte ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit seinen strafgerichtlichen Verurteilungen sowie den verwaltungsrechtlichen Bestrafungen und dem Fehlen familiärer, sozialer und beruflicher Bindungen in Österreich begründet. Wegen den wiederholten Berichten zu Eigentumsdelikten, den fortgesetzten Übertretungen und der andauernden Lebenssituation in Obdachlosigkeit und Mittelosigkeit sei es beim BF nur eine Frage der Zeit, bis er wieder ein Verhalten setze, welches fremdes Eigentum sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde. Das Verhalten des BF stelle gegenwärtig eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Die Abwägung ergebe, dass aufgrund seines Verhaltens das Interesse des BF an einem Aufenthalt in Österreich hinter das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit zurücktrete.
Dagegen richtet sich die erhobene Beschwerde mit den Anträgen, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen sowie den Bescheid zur Gänze zu beheben. Hilfsweise wird noch ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass sein Lebensmittelpunkt in Österreich sei, der BF hier arbeiten und mit Hilfe des Obdachlosenvereins XXXX wieder Fuß fassen wolle. Er sei körperlich stark angeschlagen, leide an einer Leberzirrhose, das rechte Knie- und rechtes Hüftgelenk müssten getauscht werden, daher sitze er im Rollstuhl und sei nicht in der Lage eine körperliche Arbeit auszuführen. Er wolle jedoch eine Arbeit finden, die im Sitzen ausgeführt werden könne. In der Notschlafstelle habe er mehrere Freunde gefunden, die ihn bei der Bewältigung des Alltags unterstützen würden. Der BF habe die Straftaten aufgrund seiner Alkoholsucht und aus seiner Not heraus begangen. Er bereue seine Straftaten sehr und konsumiere derzeit keinen Alkohol. In Litauen habe er niemanden mehr. Der BF sei lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt worden und verbüße derzeit die Ersatzfreiheitsstrafe.
Das BFA legte am 19.07.2024 dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens mit dem Antrag vor, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Mit Teilerkenntnis des BVwG vom 22.07.2024, GZ: G310 2295863-1/4Z, wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG zuerkannt.
Feststellungen:
Der BF ist ein am XXXX in XXXX /Litauen geborener litauischer Staatsangehöriger. Er ist geschieden. Seine Muttersprache ist litauisch, er spricht auch russisch, ein bisschen polnisch und slowakisch.
Der BF ist im Besitz eines bis zum XXXX .2022 gültigen Reisepasses und eines bis zum XXXX .2026 gültigen Personalausweises der Republik Litauen.
In Litauen leben noch sein Bruder und seine Schwester. Seine Eltern sind bereits verstorben. Vor seiner Ausreise war der BF im Sicherheitsdienst tätig und besaß einen Waffenschein.
Berücksichtigungswürdige familiäre oder private Kontakte sind in Österreich nicht vorhanden.
Der alkoholkranke BF ist auf einem Auge erblindet, benötigt aufgrund seiner Hüftprobleme einen Rollstuhl und leidet an einer Leberzirrhose. Zudem hat er Probleme mit seinem rechten Knie sowie mit dem Herzen und leidet an Gastritis. In der Justizanstalt wurden ihm Medikamente verabreicht.
Der BF ist aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme derzeit eingeschränkt arbeitsfähig.
Seit XXXX 2019 liegen, wenn auch nicht durchgehend, Wohnsitzmeldungen des BF im Bundesgebiet vor. Zuletzt war er von XXXX .2022 bis XXXX .2022, von XXXX .2023 bis XXXX .2023 und von XXXX .2023 bis XXXX .2024 in einer Obdachlosenunterkunft in XXXX gemeldet. Seit XXXX .2024 verfügt der BF über keinen Wohnsitz mehr in Österreich.
Eine Anmeldebescheinigung wurde von ihm nie beantragt.
Der BF war von XXXX .2019 bis XXXX .2019 sowie XXXX .2019 bis XXXX .2019 als Arbeiter bei der XXXX in XXXX beschäftigt. Der BF wurde vom Obdachlosenverein XXXX unterstützt und bekam Essen von karitativen Einrichtungen.
Mit dem Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 100 Tagessätzen zu je EUR 4,00 verurteilt.
Dem Urteil lag zugrunde, dass er am XXXX .2019 in XXXX versucht hat, Verfügungsberechtigten eines Lebensmittelgeschäftes fremde bewegliche Sachen, nämlich vier Flaschen russischen Vodka, 1 Packung Gillete-Einwegrasierer, 1 Schoko-Riegel und zwei Tafeln Schokolade im Gesamtwert von EUR 34,32 mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich durch die Zueignung unrechtmäßig zu bereichern.
Bei der Strafbemessung wurden die Unbescholtenheit und der Umstand, dass es beim Versuch geblieben ist, als mildernd und keine Umstände als erschwerend gewertet.
Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , wurde der BF wegen der Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, § 83 Abs 1 StGB, der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 300 Tagessätzen zu je EUR 4,00 verurteilt.
Dem Urteil lag zugrunde, dass er in XXXX
I. der R.G.
1. am XXXX .2019 mit Gewalt, indem er ihr die Hand verdrehte, wodurch sie ihren Haustürschlüssel fallenlassen musste, zu einer Handlung, nämlich der Herausgabe ihres Haustürschlüssels genötigt,
2. vorsätzlich am Körper verletzt und zwar
a) zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen XXXX 2018 und XXXX 2019, indem er sie grob am Kiefer packte, wodurch sie Hämatome und über die Gewaltanwendung hinausgehende Schmerzen am Kiefer erlitt;
b) am XXXX .2019, indem er sie an den Haaren zog und ihr Schläge sowie Tritte gegen Gesicht und Körper versetzte, wodurch sie Prellungen im Bereich der Hüfte und über die Gewaltanwendung hinausgehende Schmerzen im Kopfbereich erlitt;
c) am XXXX .2019, indem er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hat, wodurch sie eine kleine Platzwunde an der Innenseite der rechten Wange erlitt;
II. am XXXX .2019 eine fremde Sache beschädigt, indem er mit einem unbekannten Gegenstand auf die Windschutzscheibe des Pkw’s der E.K. schlug und dadurch zumindest ein Sprung in der Scheibe verursachte;
II. E.R. fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern und zwar
1. am XXXX .2020, indem er aus der frei zugänglichen Kassa eines Hofladens einen Bargeldbetrag von ca. EUR 20,00 entnahm;
2. am XXXX .2020, indem er aus der frei zugänglichen Kassa eines Hofladens einen Bargeldbetrag sowie aus eben diesem Hofladen eine Salamiwurst im Wert von insgesamt ca. EUR 15,00 entnahm.
Bei der Strafbemessung wurde das umfassende und reumütige Geständnis mildernd gewertet, erschwerend wirkten sich die einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen von vier Vergehen sowie weitere Begehen trotz anhängigen Strafverfahren aus.
Die von der Staatsanwaltschaft XXXX am XXXX .2022 unter der AZ. XXXX , erfolgte Anklageerhebung gegen den BF wegen des Verdachts wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 StGB führte zu keiner Verurteilung und der BF wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2023 freigesprochen.
Laut der Bezirkshauptmannschaft XXXX mussten gegen den BF 2019 zwei Betretungs- und Annährungsverbote nach § 38a SPG unter den GZ. XXXX und XXXX ausgesprochen werden.
Bei der Landespolizeidirektion XXXX sind wegen Schwarzfahrens nach Art III Abs 1 Z 2 EGVG unter den GZ. XXXX und XXXX zwei Verwaltungsstrafverfahren dokumentiert.
Der BF verbüßte seine Ersatzfreiheitsstrafen aufgrund der Uneinbringlichkeit der Geldstrafen von XXXX .2023 bis XXXX .2023 sowie von XXXX .2024 bis XXXX .2024 in der Justizanstalt XXXX .
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG.
Die Feststellungen basieren insbesondere auf den Angaben des BF vor dem BFA und in der Beschwerde sowie den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), Strafregister sowie den Sozialversicherungsdaten und den eingeholten ECRIS-Auszügen.
Die Identität des BF wird durch seinen litauischen Reisepass und Personalausweis, von den jeweils eine Kopie im Verwaltungsakt vorliegt, belegt. Kenntnisse der litauischen Sprache sind aufgrund der Herkunft des BF naheliegend, seine weiteren Sprachkenntnisse beruhen auf seinen eigenen Angaben gegenüber dem BFA.
Die Angaben zu seinem Privat- und Familienleben resultieren aus seinen Angaben gegenüber dem BFA, in der Stellungnahme und Beschwerde.
Die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand beruhen auf den Angaben des BF gegenüber dem BFA, in der Stellungnahme und Beschwerde, und den vorgelegten medizinischen Befunden. Die Medikamentenverabreichung geht aus der Behandlungsmitteilung der JA XXXX vom 30.10.2023 hervor. Daraus folgt, dass er derzeit aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nur eingeschränkt arbeitsfähig ist.
Die Wohnsitzmeldungen in Österreich ergeben sich aus dem ZMR, aus dem auch ersichtlich ist, dass er mehrmals als obdachlos gemeldet war und aktuell über keinen Wohnsitz in Österreich verfügt.
Das Vorhandensein einer Anmeldebescheinigung oder eine entsprechende Antragstellung lässt sich weder den Verwaltungsakten noch dem IZR entnehmen.
Die Erwerbstätigkeiten des BF ergeben sich aus seinen Sozialversicherungsdaten.
Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilungen des BF, zu den zugrundeliegenden Taten und den Strafbemessungsgründen gehen aus dem Strafregister und den Strafurteilen hervor.
Im Akt befindet sich die Benachrichtigung des BG XXXX vom XXXX .2023, wonach der BF von der Anklage wegen des Verdachts auf Körperverletzung freigesprochen wurde.
Aus dem Schreiben der BH XXXX vom XXXX .2023 geht hervor, dass gegen den BF 2019 zwei Betretungs- und Annährungsverbote eingetragen sind.
Die verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen wegen Schwarzfahrens beruhen auf das Schreiben der LPD XXXX vom XXXX .2023.
Die Verbüßung der Strafhaft ergibt sich aus dem ZMR sowie der Vollzugsinformation.
Es sind keine Anhaltspunkte für eine Integration des BF in Österreich zutage getreten, die über die Feststellungen hinausgeht, sodass dazu keine weiteren Feststellungen getroffen werden.
Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den BF als EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen EWR-Bürger, der den Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG auch unbefristet erlassen werden, so z.B. bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren (§ 67 Abs 3 Z 1 FPG).
Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen oder verwaltungsrechtliche Bestrafungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0091).
§ 67 FPG dient der Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG; vgl § 2 Abs 4 Z 18 FPG), und zwar insbesondere der Umsetzung von deren Art 27 und 28 (VwGH Fr 2016/21/0020), und ist in erster Linie in Fällen schwerer Kriminalität anzuwenden (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht § 67 FPG K1).
Hier hat sich der BF weder seit zehn Jahren im Bundesgebiet aufgehalten noch das unionsrechtliche Recht auf Daueraufenthalt erworben. Daher ist der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 zweiter bis vierter Satz FPG („tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“) anzuwenden.
Der Gesinnungswandel eines Straftäters ist grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich in Freiheit wohlverhalten hat. Dieser Zeitraum ist nach den Grundsätzen der Judikatur umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit - etwa in Hinblick auf das der strafgerichtlichen Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten oder einen raschen Rückfall - manifestiert hat (VwGH 30.04.2020, Ra 2019/20/0399).
Obwohl der BF im Inland straffällig wurde, weist sein Verhalten noch nicht eine solche Schwere auf, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vorliegt, die ein Aufenthaltsverbot rechtfertigen würde. Er wurde im Bundesgebiet nur wegen nicht allzu schwerwiegenden Straftaten bestraft, wobei mit Geldstrafen das Auslangen gefunden und der Strafrahmen bei weitem nicht ausgenutzt wurde. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich der BF seit 2020 strafgerichtlich nichts mehr zu Schulden kommen hat lassen. Selbst die zuletzt verhängten Verwaltungsstrafen machen ein Aufenthaltsverbot des gesundheitlich beeinträchtigten BF ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens nicht notwendig.
Zwar wird nicht verkannt, dass mit seinem strafrechtlich relevanten Fehlverhalten eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einhergeht, aber es ist dennoch zu berücksichtigen, dass er sich seit seiner letzten Verfehlung nichts mehr zu Schulden kommen hat lassen.
Da somit die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nicht erfüllt sind, ist Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben. Dies bedingt auch die Behebung des darauf aufbauenden Spruchpunkts II. des angefochtenen Bescheids.
Da ein geklärter Sachverhalt vorliegt und der BF auch in der Beschwerde kein ergänzendes klärungsbedürftiges Tatsachenvorbringen erstattete, kann eine Beschwerdeverhandlung unterbleiben, zumal iSd § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0033). Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose (VwGH 11.05.2017, Ra 2016/21/0022; 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.
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