Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Novak sowie die Hofrätinnen Mag. a Merl, Mag. Rehak, Mag. Liebhart Mutzl und Mag. Bayer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, in der Revisionssache der J GmbH, vertreten durch die SAXINGER Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 27. März 2024, LVwG 2024/32/0089 6, betreffend Parteistellung in einem Baubewilligungsverfahren nach der Tiroler Bauordnung 2022 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Stadtgemeinde Kitzbühel), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Stadtgemeinde Kitzbühel hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von insgesamt € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol (Verwaltungsgericht) wurde die Beschwerde der Revisionswerberin gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 29. November 2023, mit welchem festgestellt worden war, dass der Revisionswerberin im Bauverfahren der C GmbH betreffend den Antrag auf Erteilung einer Baubewilligung für den Neubau eines Einfamilienwohnhauses mit Garage auf einem näher bezeichneten Grundstück gemäß § 33 Abs. 1 Tiroler Bauordnung 2022 (TBO 2022) keine Parteistellung zukomme, als unbegründet abgewiesen. Gleichzeitig sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
2 Begründend stellte das Verwaltungsgericht fest, die Revisionswerberin sei Eigentümerin eines näher bezeichneten Straßengrundstücks (im Folgenden: Straßengrundstück), welches weder an den vorgenannten Bauplatz angrenze noch in einem Punkt innerhalb eines horizontalen Abstandes von 15 m (§ 33 Abs. 2 lit. a zweiter Fall TBO 2022) zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liege. Die Revisionswerberin habe für das Straßengrundstück eine Schneeräumung veranlasst und bezahle die Grundsteuern und Versicherungen. Die Straße auf dem Straßengrundstück werde von der Straßeninteressentschaft B erhalten sowie im Winter geräumt und gestreut.
3 In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Verwaltungsgericht fest, nachdem das Grundstück der Revisionswerberin vom Bauplatz mehr als 15 m entfernt liege, sei sie nicht Nachbarin im Sinne des § 33 Abs. 3 TBO 2022. Gemäß § 33 Abs. 1 TBO 2022 komme dem Straßenverwalter Parteistellung zu, wobei die inhaltliche Ausgestaltung dieser Parteistellung in § 33 Abs. 7 lit. a und b TBO 2022 geregelt sei. Das Straßengrundstück sei weder Teil einer Landesstraße, noch einer Gemeindestraße, noch einer öffentlichen Interessentenstraße. Daher wäre eine öffentliche Privatstraße erforderlich, damit eine Parteistellung nach § 33 Abs. 7 TBO 2022 vorliegen könnte. Die Revisionswerberin habe bei der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht u.a. den Antrag der Stadtgemeinde K vom 25. April 2018 bei der belangten Behörde als Behörde nach dem Tiroler Straßengesetz auf Feststellung des Vorliegens einer öffentlichen Privatstraße auf dem Straßengrundstück vorgelegt. Dem Verwaltungsgericht sei der Ausgang dieses Verfahrens nicht bekannt, weshalb das Vorliegen einer öffentlichen Privatstraße und das Vorliegen einer (nicht öffentlichen) Privatstraße beurteilt werde. Sofern es sich um eine (nicht öffentliche) Privatstraße handle, könne eine Parteistellung nach § 33 Abs. 7 TBO 2022 nicht vorliegen, da nur dem Straßenverwalter einer öffentlichen Straße nach § 6 Tiroler Straßengesetz im Baubewilligungsverfahren nach der TBO 2022 Parteistellung zukomme.
4Wie der Oberste Gerichtshof festgehalten habe, habe die Straßeninteressentschaft B die Dienstbarkeit des Gehens und Fahrens auf dem Straßengrundstück ersessen. Die Revisionswerberin habe den Aufwand für die Erhaltung der dienstbaren Sache nicht zu tragen (Hinweis auf OGH 24.2.2021, 7 Ob 208/20v). Im Umkehrschluss bedeute dies, dass die Revisionswerberin nicht Verfügungsberechtigte im Sinn des § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz über das Straßengrundstück sei, auf dem die Dienstbarkeit des Gehens und Fahrens für die Straßeninteressentschaft B bestehe. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Versicherungen und die Grundsteuern von der Revisionswerberin getragen würden und sie auch die Schneeräumung veranlasst habe. Die Straßeninteressentschaft B als Dienstbarkeitsberechtigte veranlasse ebenfalls die Schneeräumung und erhalte wie dem oben angeführten Urteil des Obersten Gerichtshofs zu entnehmen sei diese Straße. Gehe man vom Vorliegen einer öffentlichen Privatstraße aus, sei die Straßeninteressentschaft B deren Straßenverwalterin. Die Revisionswerberin habe somit keine Parteistellung.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 16. September 2024, E 1783/2024 5, deren Behandlung ablehnte und diese gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
6 In der Folge erhob die Revisionswerberin die vorliegende außerordentliche Revision, mit dem Antrag in der Sache selbst zu entscheiden, in eventu das angefochtene Erkenntnis kostenpflichtig aufzuheben.
7 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.
8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst u.a. vor, es gebe keine Rechtsprechung zur Auslegung des § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision erweist sich als zulässig.
10 § 33 Abs. 1, 2 a, und 7 TBO 2022, LGBl. Nr. 44/2022 in der Fassung LGBl. Nr. 64/2023, lauten:
„ § 33 Parteien
(1) Parteien im Bauverfahren sind der Bauwerber, die Nachbarn und der Straßenverwalter.
(2) Nachbarn sind die Eigentümer der Grundstücke,
a) die unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines horizontalen Abstandes von 15 m zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liegen und
...
(7) Der Straßenverwalter einer öffentlichen Straße nach § 6 des Tiroler Straßengesetzes ist, soweit dadurch die Schutzinteressen der Straße betroffen sind, berechtigt,
a) das Fehlen einer dem vorgesehenen Verwendungszweck der betreffenden baulichen Anlagen entsprechenden, rechtlich gesicherten Verbindung des Bauplatzes mit einer öffentlichen Verkehrsfläche nach § 3 Abs. 1 und
b) die Nichteinhaltung der Abstandsbestimmungen des § 5, soweit dadurch die Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs beeinträchtigt werden,
geltend zu machen.“
11 Die maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Straßengesetzes, LGBl. Nr. 13/1989, § 2 in der Fassung LGBl. Nr. 13/2024, § 6, § 34 und § 35 in der Fassung LGBl. Nr. 8/1998, lauten auszugsweise:
„ § 2 Begriffsbestimmungen
...
(7) Straßenverwalter ist, wem als Träger von Privatrechten der Bau, die Erhaltung und die Verwaltung einer Straße obliegen.
(8) Die Straßenbaulast umfaßt die Kosten für den Bau (einschließlich der Grunderwerbskosten) und die Erhaltung einer Straße.
...
§ 6 Einteilung der öffentlichen Straßen
Die öffentlichen Straßen werden in folgende Straßengruppen gereiht:
1. Landesstraßen,
2. Gemeindestraßen,
3. öffentliche Interessentenstraßen,
4. öffentliche Privatstraßen.
...
§ 34 Widmung
(1) Öffentliche Privatstraßen sind jene nicht zu einer anderen Gruppe öffentlicher Straßen gehörenden Straßen, die
a) von dem über die Straße Verfügungsberechtigten durch Erklärung gegenüber der Behörde dem Gemeingebrauch gewidmet werden oder
b) unabhängig vom Willen des über die Straße Verfügungsberechtigten seit mindestens 30 Jahren der Deckung eines dringenden öffentlichen Verkehrsbedürfnisses dienen.
(2) Aufgelassene Bundes , Landes oder Gemeindestraßen, die nicht zu einer öffentlichen Straße einer anderen Straßengruppe erklärt werden und weiterhin dem öffentlichen Verkehr offenstehen, gelten als öffentliche Privatstraßen des Bundes, des Landes bzw. der Gemeinde.
...
§ 35 Straßenverwalter, Straßenbaulast
(1) Straßenverwalter einer öffentlichen Privatstraße ist der über die Straße Verfügungsberechtigte.
(2) Die Straßenbaulast für eine öffentliche Privatstraße hat der über die Straße Verfügungsberechtigte zu tragen, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
...“
12 Strittig ist im vorliegenden Fall, ob die Revisionswerberin als Straßenverwalterin iSd § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz anzusehen ist und ihr damit Parteistellung im Bauverfahren gemäß § 33 Abs. 1 TBO 2022 zukommt.
13 § 33 Abs. 1 TBO 2022 normiert, dass der Straßenverwalter Partei im Bauverfahren ist. Nach dem klaren Wortlaut des Abs. 7 leg. cit. ist nur „der Straßenverwalter einer öffentlichen Straße nach § 6 des Tiroler Straßengesetzes“ berechtigt, unter den dort näher normierten Voraussetzungen Einwendungen zu erheben. Nach § 6 Tiroler Straßengesetz sind öffentliche Straßen Landesstraßen, Gemeindestraßen, öffentliche Interessentenstraßen und öffentliche Privatstraßen.
14 Das Verwaltungsgericht schloss das Vorliegen einer Landesstraße, einer Gemeindestraße und einer öffentlichen Interessentenstraße aus und ging davon aus, dass fallbezogen eine öffentliche Privatstraße iSd § 34 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz erforderlich sei, damit eine Parteistellung der Revisionswerberin vorliegen könne.
15 Nach § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz ist Straßenverwalter einer öffentlichen Privatstraße der über die Straße Verfügungsberechtigte.
16 Zu § 35 Tiroler Straßengesetz hält der der Tiroler Landesgesetzgeber in den Erläuterungen (vgl. ErläutRV GZ 175/1988, S 45 zu LGBl. Nr. 13/1989) auszugsweise fest:
„Straßenverwalter einer öffentlichen Privatstraße ist derjenige, dem zivilrechtlich die Verfügungsgewalt über die Straße zusteht. Dies wird in der Regel der Eigentümer des Straßengrundes sein. Es ist aber auch denkbar, daß jemandem nur im Wege einer Dienstbarkeit das Recht zur Errichtung und Erhaltung einer Straße eingeräumt wird. Dem Straßenverwalter kommen die mit dem Bau und der Erhaltung sowie der Verwaltung der Straße im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung zusammenhängenden Rechte und Pflichten zu. Nach Abs. 2 hat der über die Straße Verfügungsberechtigte grundsätzlich auch die Straßenbaulast zu tragen. Durch diese Bestimmung werden jedoch zivilrechtliche Vereinbarungen zwischen dem über die Straße Verfügungsberechtigten und Dritten über die Tragung der Kosten für den Bau und die Erhaltung der Straße nicht berührt.“.
17 Der „Verfügungsberechtigte“ einer öffentlichen Privatstraße ist nach den Erläuterungen zu § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz derjenige, der zivilrechtlich die Verfügungsgewalt über die Straße innehat.
18 Die Revisionswerberin ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Eigentümerin des Straßengrundes. Damit kommt ihr zivilrechtlich grundsätzlich die Verfügungsgewalt über die Straße zu. Anhaltspunkte dafür, dass der Revisionswerberin trotz ihrer Stellung als Eigentümerin die Verfügungsgewalt nicht zukäme, ergeben sich weder aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, noch aus dem Revisionsvorbringen.
19 Entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts schließt die auf der Straße bestehende Dienstbarkeit des Fahrens und Gehens die Verfügungsgewalt der Revisionswerberin über die Straße nicht aus.
20 Vor diesem Hintergrund wäre die Revisionswerberin im Falle des Vorliegens einer öffentlichen Privatstraße als Straßenverwalterin gemäß § 35 Abs. 1 Tiroler Straßengesetz zu qualifizieren, womit ihr Parteistellung iSd § 33 Abs. 1 TBO 2022 zukäme.
21 Das Verwaltungsgericht hat in Verkennung der Rechtslage keine Feststellungen dazu getroffen, ob es sich fallbezogen um eine öffentliche Privatstraße handelt oder nicht.
22Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
23Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
24Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 9. Oktober 2025
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