Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer Kober und Mag. Schindler als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision der Landespolizeidirektion Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 11. Oktober 2023, VGW 031/053/14652/2022 13, betreffend Übertretungen des KFG und FSG (mitbeteiligte Partei: V in W), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 7. Oktober 2022 wurde dem Mitbeteiligten zur Last gelegt, er habe am 5. August 2022 um 12:05 Uhr als Lenker eines näher bestimmten E Scooters, der auf Grund seiner Beschaffenheit als Kleinmotorrad zu werten sei, an einem näher bestimmten Ort zehn jeweils näher umschriebene Übertretungen nach dem KFG und FSG begangen, weshalb über ihn Geld und Ersatzfreiheitsstrafen verhängt sowie ein Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens festgesetzt wurden.
2 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Oktober 2023 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge, behob das bekämpfte Straferkenntnis und stellte das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG ein. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass der Mitbeteiligte keinen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens zu leisten habe und erklärte eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für unzulässig.
3 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zusammengefasst den (teils im Konjunktiv gehaltenen) „Sachverhalt“ zu Grunde, Polizeibeamte seien im Zuge eines Streifendienstes auf den mit einem E Scooter zur Tatzeit in der Brünner Straße 20 stadtauswärts fahrenden Mitbeteiligten aufmerksam geworden, weil sich im Zuge einer Nachfahrt ergeben habe, dass dieser mit einer die Bauartgeschwindigkeit des E Scooters von 25 km/h überschreitenden Geschwindigkeit von 33 km/h unterwegs gewesen sei. Der Mitbeteiligte sei einer Lenker und Fahrzeugkontrolle unterzogen worden, sein E Scooter aufgrund fehlender Typenangaben einer Überprüfung auf einem Rollenprüfstand. Dabei habe festgestellt werden können, dass der E Scooter des Mitbeteiligten im ersten Gang eine Geschwindigkeit von 31 km/h, im zweiten Gang 39 km/h schaltbar über einen nachträglich eingebauten Kippschalter erreiche. Dem Mitbeteiligten sei die Weiterfahrt untersagt und die Anzeigelegung zur Kenntnis gebracht worden. Für den E Scooter besitze der Mitbeteiligte keine gültige Lenkberechtigung.
4 „Diese Feststellungen“ bzw. „Ergebnisse des Beweisverfahrens“ stützte das Verwaltungsgericht beweiswürdigend auf die Einsichtnahme in den Verwaltungsakt sowie eine Anfrage an die Landesfahrzeugprüfstelle Wien.
5 In rechtlicher Hinsicht ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass weder die von den Polizeibeamten durchgeführte Nachfahrt noch die am Rollenprüfstand ermittelten Messergebnisse geeignet seien, einen tauglichen Nachweis für die Überschreitung der Bauartgeschwindigkeit des E Scooters zu liefern. Betreffend die durchgeführte Nachfahrt sei auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu rekurrieren, wonach die im Zuge einer Nachfahrt getroffenen Feststellungen von gefahrenen Geschwindigkeiten nur dann für das Verwaltungsstrafverfahren verwertbar seien, wenn die Nachfahrt über eine in dieser Rechtsprechung definierte Wegstrecke und in einem gleichbleibenden Abstand zum gemessenen Fahrzeug erfolgt sei, wobei auch der Umstand zu berücksichtigen sei, ob die Nachfahrt in einem Streifenwagen mit geeichtem oder ungeeichtem Tachometer erfolgt sei. Nachdem sich aus der Anzeige keine ausreichenden Feststellungen zu diesen Fragen ergäben, könne die durchgeführte Nachfahrt keinen tauglichen Beweis für die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit liefern. Betreffend die am Rollenprüfstand ermittelten Messergebnisse sei auf einen näher bezeichneten Erlass des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 25. August 2017 betreffend die Messung von Geschwindigkeiten von Motorfahrrädern am Rollenprüfstand zu verweisen, dem zu entnehmen sei, dass erhebliche Abweichungen von Messergebnissen am Rollenprüfstand von der gesetzlich zulässigen Bauartgeschwindigkeit zu beobachten seien. Es könnten daher auch die im Fall des Mitbeteiligten am Rollenprüfstand ermittelten Messergebnisse keinen tauglichen Beweis für eine Überschreitung der Bauartgeschwindigkeit liefern.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
7 In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren erstattete der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung mit dem Begehren, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu als unbegründet abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die amtsrevisionswerbende Behörde bringt zur Zulässigkeit ihrer Revision zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht sei abweichend von näher genannter hg. Rechtsprechung seiner amtswegigen Ermittlungspflicht nicht nachgekommen und habe keine mündliche Verhandlung durchgeführt, habe gegen das Parteiengehör und Überraschungsverbot verstoßen sowie es unterlassen, einen Amtssachverständigen zur Frage der Tauglichkeit der technischen Vorgehensweise am Rollenprüfstand zur Geschwindigkeitsmessung zu bestellen. Zudem habe das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit näher umschriebenen Begründungsmängeln belastet. Bei Außerachtlassung dieser Verfahrensmängel wäre das Verwaltungsgericht zum Ergebnis gelangt, dass der vom Mitbeteiligten gelenkte E Scooter aufgrund bautechnischer Veränderungen eine zulässige Bauartgeschwindigkeit von 25 km/h maßgeblich hätte überschreiten können und der Mitbeteiligte diese Geschwindigkeit zum Tatzeitpunkt auch gefahren sei. Darauf basierend hätte das angefochtene Erkenntnis anders lauten müssen, nämlich, dass der E Scooter des Mitbeteiligten den Bestimmungen des KFG unterlegen und das bekämpfte Straferkenntnis rechtmäßig ergangen sei.
9 Die Revision erweist sich bereits mit ihrem Vorbringen zur Verletzung der Verhandlungspflicht durch das Verwaltungsgericht als zulässig und begründet:
10 Das Verwaltungsgericht begründete das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung damit, dass der Beschwerde „ohnehin stattgegeben wurde und auch die belangte Behörde eine derartige Verhandlung nicht beantragt hat“.
11 Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG in Verwaltungsstrafsachen grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht.
12 Abgesehen davon, dass die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen gewesen wäre (vgl. VwGH 11.6.2024, Ra 2024/02/0088, mwN), wäre das Verwaltungsgericht bei einer entsprechenden Auseinandersetzung zu dem Schluss gelangt, dass die Voraussetzungen für den Entfall der mündlichen Verhandlung nach § 44 VwGVG nicht vorlagen:
13 Gemäß § 44 Abs. 3 VwGVG kann das Verwaltungsgericht in bestimmten Fällen von einer Verhandlung absehen, wenn keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Sofern die Parteien ausdrücklich auf die Durchführung einer Verhandlung verzichten, kann das Verwaltungsgericht ebenfalls davon absehen (§ 44 Abs. 5 VwGVG). Der Mitbeteiligte hatte in seiner Beschwerde jedoch ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt und in der Folge hierauf nicht verzichtet, weshalb ein Absehen nach § 44 Abs. 3 und 5 leg. cit. nicht in Betracht kommt.
14 Da das Verwaltungsgericht die Beschwerde mit Erkenntnis erledigt hat, kommt auch ein Absehen nach § 44 Abs. 4 VwGVG nicht in Betracht (vgl. VwGH 11.1.2024, Ra 2023/02/0214, mwN).
15 Gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG entfällt die Verhandlung, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist. Da das Verwaltungsgericht eine Zurückweisung eines Parteienantrages oder der Beschwerde nicht aussprach, ist der dritte Fall der genannten Bestimmung zu prüfen.
16 Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist dem AVG eine antizipierende Beweiswürdigung fremd. Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof bereits zu § 51e Abs. 2 Z 1 VStG, der insoweit § 44 Abs. 2 VwGVG entspricht, ausgesprochen, dass die Berufungsbehörde (nunmehr: das Verwaltungsgericht) ihre Entscheidung, mit der sie die verhängte Geldstrafe in eine Verfahrenseinstellung umwandelt, nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte treffen dürfen, wenn dies auf einer geänderten Beweiswürdigung beruht. Der Fall darf ausschließlich aufgrund von Ergebnissen beurteilt werden, die in einer (unmittelbar) durchgeführten mündlichen Verhandlung vorgekommen sind. Dies gilt auch dann, wenn die Beweisergebnisse zugunsten des Beschuldigten anders gewürdigt werden. Zudem darf die Beweiswürdigung erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen (vgl. zum Ganzen VwGH 27.6.2024, Ra 2023/11/0043, mwN).
17 Ging die amtsrevisionswerbende Behörde im Straferkenntnis noch offenkundig davon aus, dass die Beweismittel der Aktenlage (die per Nachfahrt und Rollenprüfstand ermittelten Messergebnisse) dazu geeignet seien nachzuweisen, dass die Bauartgeschwindigkeit des E Scooters des Mitbeteiligten von 25 km/h überschritten wurde, wertete das Verwaltungsgericht die Aktenlage dahingehend, dass die herangezogenen Beweismittel untauglich seien und die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit nicht mit einer für das Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit angegeben werden könne. Auf Basis dieser divergierenden Beweiswürdigung hinsichtlich der hier entscheidungswesentlichen Tatsache gelangte das Verwaltungsgericht zur rechtlichen Schlussfolgerung, dass der E Scooter des Mitbeteiligten nicht den Bestimmungen des KFG unterläge. Bereits aus diesem Grund war das Verwaltungsgericht nicht berechtigt, von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen.
18 Das Verwaltungsgericht ließ durch die Heranziehung eines näher genannten Erlasses des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie zur Messung der Geschwindigkeit von Motorfahrrädern am Rollenprüfstand aus dem Jahr 2017 und seine Anfrage an die Landesfahrzeugprüfstelle Wien, die nicht nur dem Mitbeteiligten, sondern auch der amtsrevisionswerbenden Behörde zur Einräumung von Parteiengehör zu übermitteln gewesen wäre, zudem erkennen, dass der entscheidungswesentliche Sachverhalt und die Aufhebung des angefochtenen Straferkenntnisses nicht bereits auf Grund der Aktenlage (zweifelsfrei) feststand.
19 Im vorliegenden Fall konnte das Verwaltungsgericht somit nicht davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG erfüllt gewesen wären.
20 Das angefochtene Erkenntnis war somit schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
21 Für das fortgesetzte Verfahren ist auf Folgendes hinzuweisen:
22 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass das Nachfahren mit dem Dienstfahrzeug und das Ablesen des damit ausgestatteten Tachometers grundsätzlich ein taugliches und zulässiges Beweismittel zur Feststellung einer von einem Fahrzeug eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit darstellt. Voraussetzung hiefür ist jedoch, dass das Nachfahren über eine Strecke und über eine Zeitspanne erfolgt, die lange genug sind, um die Einhaltung etwa derselben Geschwindigkeit wie der des beobachteten Fahrzeuges prüfen und sodann das Ablesen der eigenen Geschwindigkeit ermöglichen zu können (vgl. etwa VwGH 13.10.2023, Ra 2023/02/0191, mwN).
23 Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Auch in Verwaltungsstrafsachen ist gemäß § 38 VwGVG in Verbindung mit § 24 VStG die Begründungspflicht im Sinn des § 58 AVG von Bedeutung (vgl. VwGH 4.3.2020, Ra 2019/02/0227, mwN).
24 Ausgehend von dieser Rechtsprechung wird das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren zum einen zu ermitteln haben, ob die Anzeigeleger bei ihrer Nachfahrt des Mitbeteiligten eine in der oben genannten Rechtsprechung ausreichende Strecke und Zeitspanne einhielten; zum anderen wird durch Aufnahme geeigneter Beweise, erforderlichenfalls der Zeugeneinvernahme der Polizeibeamten bzw. der Bestellung eines Sachverständigen, die Frage zu klären sein, ob im konkreten Fall des Mitbeteiligten die Geschwindigkeitsmessung seines E Scooters am Rollenprüfstand den technischen Erfordernissen entsprach und die relevanten Referenzwerte eingehalten wurden. Dabei wird das Verwaltungsgericht der amtsrevisionswerbenden Behörde Gehör verschaffen müssen. Darüber hinaus wird das Verwaltungsgericht zu den Ergebnissen des durchzuführenden Beweisverfahrens im Indikativ gehaltene Feststellungen treffen müssen, die eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle des entscheidungswesentlichen Sachverhalts durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglicht.
Wien, am 28. Februar 2025
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