Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des S H, vertreten durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. März 2023, I403 2255633 3/15E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Mit Bescheid vom 2. November 2022 wies die belangte Behörde (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Revisionswerber, einen im Jahr 1987 geborenen, ägyptischen Staatsangehörigen, gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm. § 55 Abs. 3 Niederlassungs und Aufenthaltsgesetz (NAG) aus dem österreichischen Bundesgebiet aus und erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 6. März 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
3 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, der Revisionswerber, der in Ägypten vor seiner Ausreise als Fliesenleger gearbeitet habe, sei im Mai 2011 nach Österreich gelangt. Seine beiden, in den Jahren 2011 und 2012 gestellten Anträge auf internationalen Schutz seien (jeweils iVm. mit einer Ausweisungsentscheidung) rechtskräftig negativ erledigt worden. Der Revisionswerber sei seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen und habe seine Abschiebung dadurch verhindert, dass er nicht an der Erlangung eines Heimreisezertifikates mitgewirkt und sich den Behörden entzogen habe und zweimal wegen einer durch Hungerstreik herbeigeführten Haftunfähigkeit aus der Schubhaft habe entlassen werden müssen. Am 29. Dezember 2013 sei er in Untersuchungshaft genommen und mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. März 2014 wegen des versuchten Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls gemäß §§ 15, 127, 130 erster Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Die Verurteilung sei nach einer bestätigenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juli 2014 rechtskräftig geworden und mittlerweile getilgt.
4 Aufgrund seines Antrags vom 20. November 2013 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot Weiß Rot Karte plus“ (gemäß § 41a Abs. 9 NAG, damals in der Fassung vor dem Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012), habe der Revisionswerber eine Ladung des (aufgrund der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 24 NAG zuständig gewordenen) Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl für den 24. Juni 2014 erhalten, der er nicht nachgekommen sei.
5 Am 1. Juli 2014 habe er die ungarische Staatsangehörige KS geheiratet, um dadurch ein Aufenthaltsrecht in Österreich zu erlangen. Am 11. September 2014 habe er den im November 2013 eingebrachten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückgezogen. Am 4. September 2015 sei ihm infolge seiner Eheschließung mit KS (aufgrund seines Antrags vom 12. September 2014) eine Aufenthaltskarte mit Gültigkeit bis 4. September 2020 ausgestellt worden.
6 KS, der am 25. Juli 2014 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt worden sei, sei von 10. Juli 2014 bis 6. Oktober 2016 mit kurzen Unterbrechungen und teilweise nur geringfügig in Österreich beschäftigt gewesen. Im Oktober 2016 sei sie wieder nach Ungarn gezogen. Das Scheidungsverfahren sei am 2. Mai 2018 eingeleitet und die Ehe des Revisionswerbers mit KS mit Beschluss des Bezirksgerichts Wien Innere Stadt vom 15. Juni 2018 im Einvernehmen geschieden worden.
7 Seit November 2014 stehe der Revisionswerber fast durchgehend, wenn auch vor August 2017 immer wieder nur unter der Geringfügigkeitsgrenze, in Beschäftigungsverhältnissen in Gastronomiebetrieben. Von Jänner 2020 bis Juli 2020 habe er sich in Ägypten aufgehalten. Seinen Angaben zufolge habe er in dieser Zeit seine jetzige Ehefrau kennengelernt, die er am 15. Februar 2020 geheiratet habe. Am 6. Jänner 2021 sei die gemeinsame Tochter geboren worden, die der Revisionswerber noch nie gesehen habe. Der Revisionswerber unterstütze seine Ehefrau sowie seine Tochter ebenso wie den Rest seiner Familie in Ägypten finanziell. Die Ehefrau und die Tochter lebten in seinem Heimatort in Ägypten. Im Bundesgebiet habe der Revisionswerber keine Familienmitglieder, aber viele Freunde und er werde von seinem Arbeitgeber geschätzt. Er sei in Österreich, insbesondere am Arbeitsmarkt, gut integriert und spreche ausgezeichnet Deutsch.
8 In seinen beweiswürdigenden Überlegungen führte das Verwaltungsgericht u.a. näher aus, weshalb es zur Ansicht gelangt sei, dass es sich bei der zwischen dem Revisionswerber und KS geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe und aus welchen Gründen davon auszugehen sei, dass KS das Bundesgebiet im Oktober 2016 verlassen habe. KS sei zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an der vom Revisionswerber bekannt gegebenen, ungarischen Adresse geladen worden. Die Ladung sei allerdings von der Zeugin so wie dies bereits in einem vor dem Verwaltungsgericht Wien geführten Verfahren der Fall gewesen sei nicht behoben worden. KS sei auch nicht zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erschienen. Eine durch das Bundesverwaltungsgericht bei der Polizeikooperationsstelle Nickelsdorf eingeholte Erkundigung habe ergeben, dass die Ladung in Ungarn seitens der Polizei nicht zugestellt werden könne. Dem Bundesverwaltungsgericht sei es folglich nicht möglich, ein Erscheinen der in Ungarn wohnhaften KS zu erzwingen. Darüber hinaus beschränke sich das Rechtshilfeübereinkommen zwischen Österreich und Ungarn auf die Rechtshilfe in Strafsachen.
9 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, ein (aktuelles) unionsrechtliches Aufenthaltsrecht komme dem Revisionswerber ungeachtet der Frage, ob es sich vorliegend wie dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegt um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe, seit dem dauerhaften Wegzug von KS im Oktober 2016 jedenfalls nicht mehr zu. Schon aufgrund des dauerhaften Wegzugs von KS vor Einleitung des Scheidungsverfahrens lägen die Voraussetzungen für das Weiterbestehen eines allfälligen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts gemäß § 54 Abs. 5 Z 1 NAG nicht vor (Hinweis auf EuGH [Große Kammer] 16.7.2015, Singh , C 218/14). Folglich habe sich der Revisionswerber zum Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten.
10 Eine Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK falle nicht zu Gunsten des Revisionswerbers aus. Auch die Berücksichtigung der in § 66 Abs. 2 FPG genannten Umstände führe zu keiner anderen Einschätzung. Der langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers komme zwar wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund seiner Deutschkenntnisse und seiner Integration am Arbeitsmarkt bestünden auch Verankerungspunkte in Österreich. Die von ihm gesetzten Integrationsschritte würden aber in ihrem Gewicht dadurch erheblich gemindert, dass der überwiegende Teil seines Aufenthalts in Österreich nicht rechtmäßig gewesen sei und er sich seines unsicheren Aufenthalts habe bewusst sein müssen. Zudem habe er in Österreich in den ersten drei Jahren nach seiner Einreise diverse „Vereitelungshandlungen“ gesetzt. Insbesondere habe er seine Abschiebung nach zwei erfolglosen Asylanträgen durch einen Hungerstreik verhindert. Auch an der Erlangung eines Heimreisezertifikats habe er nicht mitgewirkt. Darüber hinaus sei er im Jahr 2014 zu einer bedingten Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Zu all dem komme der gravierende und im Ergebnis als ausschlaggebend zu bewertende Verstoß gegen das „Einwanderungsrecht“, der dem Revisionswerber im Hinblick auf die mit KS geschlossene Aufenthaltsehe und angesichts seines rechtsmissbräuchlichen Versuchs, sein Aufenthaltsrecht unter Berufung auf diese Aufenthaltsehe zu verlängern, anzulasten sei. Ferner habe er noch immer starke Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, in dem er sich Anfang 2020 für fast ein halbes Jahr aufgehalten habe und in dem seine Ehefrau sowie seine im Jahr 2021 geborene Tochter lebten. Infolgedessen überwiege das erhebliche öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Revisionswerbers dessen private Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
12 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
13 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
14 Vorauszuschicken ist, dass gegenständlich keine bindende feststellende Entscheidung im Sinn von § 54 Abs. 7 NAG darüber besteht, dass der sich auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht berufende drittstaatsangehörige Revisionswerber wegen des Eingehens einer Aufenthaltsehe nicht in dessen Anwendungsbereich falle. Die Revision wendet sich auch nicht gegen die Vorgangsweise gemäß § 55 Abs. 3 NAG. Sie vertritt vielmehr die Ansicht, die Ausweisung des Revisionswerbers sei nicht rechtens, weil dessen unionsrechtliches Aufenthaltsrecht trotz des Wegzugs von KS gemäß § 54 Abs. 5 Z 1 NAG nicht erloschen sei. Zudem seien die erhöhten Gefährdungsmaßstäbe, welche § 66 FPG für begünstigte Drittstaatsangehörige vorsehe, die über ein Daueraufenthaltsrecht verfügten bzw. die seit zehn Jahren im Bundesgebiet aufhältig seien, nicht berücksichtigt worden. Weiters beanstandet der Revisionswerber die im angefochtenen Erkenntnis vertretene Ansicht, es habe sich bei der von ihm mit KS geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe gehandelt. KS habe das Bundesgebiet auch nicht vor Einleitung des Scheidungsverfahrens verlassen. Ferner bemängelt die Revision die verwaltungsgerichtliche Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK.
15 Zunächst ist festzuhalten, dass es der Revision nicht gelingt, eine Unschlüssigkeit bzw. Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, insbesondere hinsichtlich der Annahme, der Revisionswerber sei eine Aufenthaltsehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen eingegangen, sowie betreffend die Feststellung, die ungarische Ehegattin des Revisionswerbers habe das Bundesgebiet bereits im Oktober 2016 (vor Einleitung des Scheidungsverfahrens) dauerhaft verlassen, darzulegen (zum Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes bezüglich der Beweiswürdigung der Verwaltungsgerichte vgl. etwa VwGH 24.8.2023, Ra 2020/22/0128, Pkt. 8.2.).
16 Zudem erging die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an KS, ausweislich der Aktenlage und anders als in der Revision dargestellt, postalisch mittels internationalem Rückschein. Die Ladung wurde von der Zeugin allerdings nicht behoben und sie ist nicht zum Verhandlungstermin erschienen. Vor diesem Hintergrund kann dem Bundesverwaltungsgericht nicht vorgeworfen werden, keine tauglichen Bemühungen angestellt zu haben, um mit der Zeugin in Kontakt zu treten und ihr Erscheinen zu erreichen. Hinweise darauf, dass die Zeugin in der Zukunft bereit gewesen wäre, zu einer Verhandlung zu erscheinen bzw. sich sonst am Verfahren zu beteiligen, sind nicht ersichtlich und werden von der Revision auch nicht dargetan. Mit dem Vorbringen, das Verwaltungsgericht hätte die Zeugin entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag neuerlich (an derselben Adresse in Ungarn) für eine „Videokonferenz“ laden müssen, gelingt es der Revision somit nicht, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen. Wie das Bundesverwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, kann die in Ungarn wohnhafte Zeugin nicht zum persönlichen Erscheinen und auch nicht zur Teilnahme an einer „Videokonferenz“ angehalten werden (vgl. etwa VwGH 10.11.2022, Ra 2021/22/0213, Rn. 16; VwGH 15.3.2023, Ra 2022/22/0060, Rn. 11; VwGH 4.5.2023, Ra 2023/22/0049, Rn. 9). Eine Einvernahme der Zeugin im Rechtshilfeweg scheiterte daran, dass dafür im Administrativverfahren keine Rechtsgrundlage besteht. Als solche kommt der Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Republik Ungarn, BGBl. Nr. 801/1994, betreffend die Rechtshilfe in Strafsachen, evidentermaßen nicht in Betracht.
17 Abgesehen davon, dass es sich bei der vom Revisionswerber mit einer ungarischen Staatsangehörigen geschlossenen Ehe nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts um eine Aufenthaltsehe handelte, hätte selbst im Fall, dass keine Aufenthaltsehe vorgelegen wäre, eine allfällige unionsrechtliche Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers infolge des dauerhaften Wegzugs der KS aus Österreich vor Einleitung des Scheidungsverfahrens nicht aufgrund von § 54 Abs. 5 Z 1 NAG (vgl. Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG) fortbestehen können. Sohin verfügte der Revisionswerber zum Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts über keine unionsrechtliche Aufenthaltsberechtigung und er hielt sich in Österreich jedenfalls nicht auf Grundlage der Richtlinie 2004/38/EG fünf Jahre lang rechtmäßig auf (vgl. etwa VwGH 9.9.2021, Ra 2021/22/0142, Rn. 11, mwN; VwGH 30.3.2023, Ra 2021/21/0169, Rn. 12, mwN). Das Daueraufenthaltsrecht gemäß § 54a NAG (vgl. Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) kam ihm folglich nicht zu (vgl. VwGH 7.7.2021, Ra 2020/22/0252, Rn. 12).
18 Aus diesem Grund hatte auch der Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Halbsatz FPG („schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“) im Revisionsfall nicht zur Anwendung zu gelangen (siehe VwGH 19.5.2022, Ra 2019/21/0396, Rn. 18, bezugnehmend auf Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG, dessen Umsetzung § 66 Abs. 1 letzter Halbsatz FPG dient).
19 Wenn sich die Revision auf den erhöhten Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 3 FPG („nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“) beruft, ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung dieses Maßstabs voraussetzte, dass sich der Revisionswerber in den letzten zehn Jahren vor Erlassung der Ausweisung rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hätte, was unzweifelhaft nicht der Fall ist (zu § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG vgl. VwGH 19.5.2022, Ra 2019/21/0396, Rn. 18/19, unter Verweis auf Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG, der innerstaatlich auch durch § 66 Abs. 3 FPG umgesetzt wurde).
20 Zu der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung im Sinn von § 9 Abs. 1 und 2 BFA VG iVm. Art. 8 EMRK ergibt sich Folgendes:
21 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen und für ein größeres öffentliches Interesse an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (oder an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt ist in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken oder die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Dazu zählen (u. a.) das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren, sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13/16, mwN; siehe auch VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0117, Rn. 14/15, demzufolge das Schließen einer „Aufenthaltsehe“ zu jenen Umständen zu rechnen ist, die trotz eines zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse [entscheidend] verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland [entscheidend] relativieren können).
22 Vorliegend veranschlagte das Verwaltungsgericht zu Lasten des Revisionswerbers, der sich seit dem Jahr 2011 (mit einer nahezu halbjährigen Unterbrechung im Jahr 2020) in Österreich aufhält und dessen (jetzige) Ehegattin mit der gemeinsamen Tochter in Ägypten lebt, u.a. die Missachtung der Ausreiseverpflichtung nach zweifacher erfolgloser Asylantragstellung, diverse „Vereitelungshandlungen“, durch die der Revisionswerber seine Abschiebung verhindert habe, sowie dessen (nicht lange zurückliegenden) Versuch, unter Berufung auf die Aufenthaltsehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen die (neuerliche) Ausstellung einer Dokumentation zu erlangen.
23 In Anbetracht dieser im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen durfte das Verwaltungsgericht im Revisionsfall jedenfalls vertretbar davon ausgehen, dass das Gewicht seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und seiner währenddessen erlangten Integration als erheblich gemindert betrachtet werden konnte.
24 Wenn die Revision ins Treffen führt, das Verwaltungsgericht habe eine bereits getilgte strafgerichtliche Verurteilung aus dem Jahr 2014 zu Unrecht in seine Erwägungen einbezogen, ist zum Einen darauf hinzuweisen, dass eine bereits erfolgte Tilgung einer Straftat nicht dazu führt, dass die Straffälligkeit bei der Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK nicht berücksichtigt werden dürfte (siehe etwa VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372, Rn. 48, mwN). Zum Anderen stellte die Straffälligkeit des Revisionswerbers lediglich einen von mehreren und für sich nicht tragenden Aspekt dar, mit dem das Verwaltungsgericht seine Interessenabwägung begründete.
25 Weiters sei angemerkt, dass zwar die Aufenthaltszeiten des Revisionswerbers, soweit sie auf der ihm im Jahr 2015 mit fünfjähriger Gültigkeit ausgestellten Aufenthaltskarte beruhten, gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG formal rechtmäßig waren (VwGH 9.9.2020, Ro 2020/22/0010, Rn. 11; VwGH 15.3.2023, Ra 2022/22/0179, Rn. 14). Infolge der Aufenthaltsehe, die der dem Revisionswerber ausgestellten Dokumentation zugrunde lag, vermag dieser Umstand jedoch nicht zu seinen Gunsten ins Gewicht zu fallen.
26 Somit gelingt es der Revision nicht darzulegen, dass die verwaltungsgerichtliche Interessenabwägung, die nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und unter Bedachtnahme auf die konkreten Umstände des Revisionsfalls vorgenommen wurde, als unvertretbar zu erachten wäre (zur Überprüfung der Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK durch den Verwaltungsgerichtshof vgl. etwa VwGH 17.8.2023, Ra 2023/22/0113, Rn. 12).
27 Da die Revision folglich keine Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B VG aufwirft, war sie nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
28 Die Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG unterbleiben.
Wien, am 9. November 2023
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