Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. September 2023, L504 2264556 1/12E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: E A, vertreten durch Mag. Thomas Klein, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Kärntner Straße 7b), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) Satz zwei und drei (soweit damit der Beschwerde stattgegeben, die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt und eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt wurde) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Türkei, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 31. Juli 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 12. Oktober 2022 ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer Verhandlung betreffend die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz unter Spruchpunkt A) Satz eins als unbegründet ab. Mit dem Spruchpunkt A) Satz zwei und drei stellte das BVwG in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) auf Dauer unzulässig sei, und erteilte ihm gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“. Weiters sprach das BVwG aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG zu Spruchpunkt A) Satz zwei und drei aus, der Mitbeteiligte lebe seit Juli 2021 als Asylwerber in Österreich und habe die Zeit gut genutzt, um sich zu integrieren. Er habe in Österreich nach der Einreise nachweislich an zahlreichen integrationsfördernden Kursen teilgenommen. Der Mitbeteiligte pflege Kontakt zu „Einheimischen“, um die Deutschkenntnisse laufend zu verbessern. Er verfüge über eine Einstellungszusage und eine Beschäftigungsbewilligung seitens des AMS. Er sei seit August 2023 legal erwerbstätig und seither selbsterhaltungsfähig. Der Mitbeteiligte habe hinsichtlich seines Auftrittes in der Verhandlung und der dargelegten Integrationsbemühungen beim BVwG einen sehr positiven Eindruck hinterlassen. Er sei gerichtlich unbescholten. Aus dem Betreuungsinformationssystem ergebe sich, dass der Mitbeteiligte ab Antragstellung bis zur nunmehrigen Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezogen habe. Angesichts dieses Umstandes und insbesondere auch unter Berücksichtigung seiner hohen Qualifikation (universitärer Abschluss im Technikbereich mit laufender Fortbildung) sowie durch die gezeigte Arbeitsbereitschaft und erfolgreiche Vermittlung am Arbeitsmarkt, gehe das BVwG von einer geringen Gefahr aus, dass er bei Verbleib im Bundesgebiet von staatlichen Sozialleistungen abhängig sein werde und somit das wirtschaftliche Wohl des Landes gefährdet wäre. Nach Aufnahme aller Beweise und auch des in der Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruckes komme das Gericht zum Ergebnis, dass hier von einer außergewöhnlichen Integration gesprochen werden könne. Die privaten Anknüpfungspunkte des Mitbeteiligten zu Österreich seien stark ausgeprägt, wenngleich nicht übersehen werde, dass seine zentralen familiären Anknüpfungspunkte in der Türkei lägen und der Aufenthalt im Bundesgebiet noch relativ kurz sei. Auf Grund einer drohenden Verletzung des durch Art. 8 EMRK eingeräumten Rechtes auf Privatleben sei somit aber die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA VG auf Dauer für unzulässig zu erklären. Gegenständlich sei eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 und Z 2 AsylG 2005 zu erteilen gewesen, weil dies einerseits zur Aufrechterhaltung des Privatlebens iSd Art. 8 EMRK geboten sei (Z 1) und andererseits der Mitbeteiligte zum Entscheidungszeitpunkt auch eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübe, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze des § 5 Abs. 2 ASVG (ds. aktuell 500,91 Euro) erreicht werde (Z 2).
5 Die vorliegende Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen den Spruchpunkt A) Satz zwei und drei des angefochtenen Erkenntnisses.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision nach Vorlage der Verfahrensakten und Durchführung des Vorverfahrens der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Das BFA bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision vor, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, weil es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation, dass trotz des erst knapp über zweijährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten dessen Integration das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiege, liege im Revisionsfall nicht vor. Die Umstände, dass ein Fremder über Deutschkenntnisse verfüge sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, stellten zunächst keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmaßnahmen dar. Dass ein Fremder für einen Lebensunterhalt selbst aufkomme und nie straffällig geworden sei, vermöge seine persönlichen Interessen ebenfalls nicht entscheidend zu stärken. Alle vom Verwaltungsgericht auf Seiten des privaten Interesses des Mitbeteiligten herangezogenen Aspekte seien außerdem noch in ihrem Gewicht gemindert, weil sie während eines unsicheren Aufenthaltes entstanden seien, der sich auf einen unberechtigten Asylantrag gegründet habe. Dieses Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG habe das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unberücksichtigt gelassen.
8 Die Revision erweist sich aus diesen Gründen zulässig und auch begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. VwGH 3.10.2023, Ra 2023/14/0275 bis 0277, mwN).
10 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.7.2023, Ra 2023/14/0141).
11 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 21.12.2023, Ra 2023/20/0244, mwN)
12 Es entspricht weiters der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 28.7.2023, Ra 2023/14/0236, mwN).
13 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 2.5.2023, Ra 2022/14/0148, mwN).
14 Die Amtsrevision zeigt zutreffend auf, dass das BVwG dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, zu wenig Beachtung geschenkt hat. Der Mitbeteiligte hielt sich zum Entscheidungszeitpunkt knapp über zwei Jahre im Bundesgebiet auf. Er verfügt zwar über eine Einstellungszusage und Beschäftigungsbewilligung, es besteht jedoch ausgehend von den übrigen verwaltungsgerichtlichen Feststellungen keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und dem Mitbeteiligten ungeachtet seines Inlandsaufenthalts von deutlich unter fünf Jahren und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in das Familienleben zu gewärtigen wäre schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste.
15 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen die für das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber den für die privaten Interessen des Mitbeteiligten sprechenden Umstände nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet und nicht ausreichend berücksichtigt hat, dass der Mitbeteiligte die festgestellten Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das BVwG seinen Anwendungsspielraum überschritten.
16 Das angefochtene Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
17 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 15. Februar 2024
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