Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma und Hofrätin Mag. a Nussbaumer Hinterauer sowie Hofrat Mag. Cede als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der E B in W, vertreten durch Mag. Dr. Martin Dercsaly, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 146/6/B2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. November 2022, W111 2260415 1/7E, betreffend Versetzung in den Ruhestand gemäß § 14 Beamten Dienstrechtsgesetz 1979 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesministerin für Justiz), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin stand als Justizwachebeamtin in einem öffentlich rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Mit Bescheid vom 20. Juni 2022 wurde sie von Amts wegen gemäß § 14 Abs. 1, 2 und 4 Beamten Dienstrechtsgesetz 1979 (BDG 1979) mit Ablauf des Monats, mit dem dieser Bescheid rechtskräftig wird, in den Ruhestand versetzt.
2 In der Begründung des Bescheides wurde Folgendes ausgeführt:
3 Die Revisionswerberin sei Justizwachebeamtin der Verwendungsgruppe E2b (Ergänzungseinreihung Verwendungsgruppe E2a) und stehe in der Justizanstalt Wien Simmering (Dienstführende in Einsatzfunktion, Bewertung E2a/GL) in Verwendung. Sie habe turnusweise Tag , Nacht , Sonn und Feiertagsdienst zu versehen. Ihr Arbeitsplatz beinhalte die folgenden Aufgaben: „Dienst Gefangenenabteilung“, „Außen und Innensicherung“, „Eskorten / Vorführungen / Vorführkommandantin“, „Besuchsüberwachung“, „Betreuung / Fortbildung“ und „kurzfristige Vertretung der ständigen Bereichsbeamten“. Als „Allgemeine physische und psychische Anforderungen, denen Exekutivbedienstete in Justizanstalten entsprechen müssen, um den Anforderungen für folgende Tätigkeiten zu genügen“ seien die folgenden anzusehen: „Dienst im Schicht und Wechseldienst bei zeitweiser Beanspruchung während der Nachtstunden, und zwar mit unregelmäßigen und höchstens einigen Stunden umfassenden, häufig aber gekürzten Erholungsphasen“; „Volle Funktionsfähigkeit aller Sinnesorgane zur Wahrnehmung physischer Gefahren, das heißt uneingeschränkter Gesichtssinn, Geruchssinn und Gehörsinn“; „Körperliche Konstitution und Kondition, die längeres Stehen und Sitzen und jederzeit ohne Vorbereitung volle körperliche Einsatzfähigkeit erlaubt, uneingeschränkte Verfügung der physischen und psychischen Voraussetzungen zur Anwendung einsatzbezogener Kraft, und zwar mit und ohne Dienstwaffen“; „Volle physische und psychische Verfügbarkeit der Voraussetzungen zum Führen und dem Einsatz der Dienstwaffen, das sind derzeit mindergefährliche Abwehrwaffen, Reizstoffsprühgerät, Handfeuerwaffe, Langwaffe und Elektroschockgerät“; „Ohne Vorbereitungszeit (Aufwärmzeit) körperliche Fähigkeit zur Nacheile (Laufen, um einen Flüchtenden einzuholen)“; „Uneingeschränkte Fähigkeit, Entscheidungen unter Zeitdruck oder sonst unter situativ bedingtem Stress (Gefahrensituationen mit drohender Gewalt) zu treffen“.
4 Die ärztliche Begutachtung durch das „BVAEB Pensionsservice“ habe folgendes Ergebnis erbracht:
„Diagnose (nach Relevanz hinsichtlich Arbeitsfähigkeit):
Veränderungen der Wirbelsaule in allen Abschnitten,
Bandscheibenveränderung L4/5 mit Nervenkanaleinengung,
Einengung der Wurzeltasche S1 links
klinisch neurologisch keine sensiblen oder motorischen Ausfälle,
Übergewicht, body mass index 34,4
Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung
beginnend Arthrosebildung rechtes Daumengrundgelenk
Leistungskalkül und medizinische Stellungnahme:
Begründung:
Die Untersuchte ist stark übergewichtig. Der Blutdruck ist medikamentös gut eingestellt, ohne Hinweis auf Spätschäden. Die Blutfette sind medikamentös einreguliert. Die Schilddrüsenhormonsituation ist medikamentös ausgeglichen. Arbeiten an höhen und allgemeinen Gefahren exponierten Stellen scheiden aus, da jederzeit Blutdruckschwankungen vorkommen können. Aufgrund der massiven Übergewichtigkeit sind allgemeine körperliche Wendigkeit und Beweglichkeit eingeschränkt.
Es besteht eine chronische Schmerzsymptomatik, mit orthopädischer Behandlung. Bei Berücksichtigung bestehender Veränderungen der Wirbelsäule in allen Abschnitten mit Bandscheibenveränderungen L4/5 und einer beginnenden Arthrosebildung am rechten Daumengrundgelenk, scheiden schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten aus, die freie Gehstrecke ist schmerzbedingt eingeschränkt und die Fingerfertigkeit sowie die Fähigkeit zur Feinarbeit rechts sind eingeschränkt. Höhere Belastbarkeit ist am Bewegungs und Stützapparat nicht zu erwarten Psychisch geistig sind keine Leistungsbehinderungen festzustellen.
Volle körperliche Einsatzfähigkeit ist nicht gegeben. Es fehlt die uneingeschränkte Verfügung einsatzbezogener Kraft, mit und ohne Dienstwaffen, ebenso die körperliche Fähigkeit zur Nacheile (Laufen, um einen Flüchtenden einzuholen). Die konkrete Tätigkeit ist somit nicht zu erfüllen. Wesentliche Besserung ist nicht zu erwarten. Es handelt sich um einen Dauerzustand“.
5 Aus diesem Gutachten sei zu schließen, dass die Revisionswerberin dienstunfähig, d.h. infolge ihrer gesundheitlichen Verfassung nicht mehr in der Lage sei, ihre dienstlichen Aufgaben als Justizwachebedienstete ordnungsgemäß zu versehen. Es handle sich um einen Dauerzustand, da im Hinblick auf die festgestellten Leiden mit einer Wiedererlangung der Dienstfähigkeit nicht mehr zu rechnen sei. Weil die Revisionswerberin zur Ausübung der Exekutivdiensttätigkeit auf Dauer außerstande sei, erübrige sich eine Suche nach tauglichen Verweisungsarbeitsplätzen (Hinweis auf VwGH 27.6.2013, 2012/12/0046).
6 Die Revisionswerberin erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde, beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und brachte (unter anderem) vor, dass die Ausführungen des dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden medizinischen Gutachtens insofern „überholt und insofern unrichtig“ seien, als die Revisionswerberin „seit dem Tag der gutachterlichen Untersuchung mit dem Rauchen aufgehört und vor allem bereits 11 kg abgenommen“ habe. Mit ärztlicher und diätologischer Betreuung werde die Revisionswerberin in den nächsten Wochen ihr Körpergewicht „bis auf ein Normalgewicht“ reduzieren. Damit fielen die zur Annahme dauernder Dienstunfähigkeit herangezogenen Einschränkungen, die aufgrund des massiven Übergewichts diagnostiziert worden seien, weg. Die Revisionswerberin sei daher bloß temporär und sohin nicht dauerhaft dienstunfähig, weshalb der Versetzung in den Ruhestand die Grundlage entzogen sei.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Revisionswerberin ab und sprach aus, die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig. Es übernahm im Wesentlichen die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen und im Ergebnis auch die dem Bescheid zugrunde liegende rechtliche Beurteilung. Dem in der Beschwerde erstatteten Tatsachenvorbringen folgte das Bundesverwaltungsgericht nicht und trat diesem in der Beweiswürdigung mit folgenden Ausführungen entgegen:
„Dazu ist ... auszuführen, dass die Gutachten übereinstimmend wiedergeben, dass eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes der [Revisionswerberin] nicht zu erwarten und eine Dienstfähigkeit im Exekutivdienst derzeit und auch zukünftig nicht mehr gegeben ist. Die [Revisionswerberin] hält den gutachterlichen Ausführungen auch lediglich entgegen, dass eine Besserung bereits eingetreten sei, indem sie 11 Kilo abgenommen und mit dem Rauchen aufgehört habe. Dabei handelt es sich jedoch um bloße Behauptungen der [Revisionswerberin,] welche weder durch Befunde oder ärztliche Gutachten untermauert wurden. Sie brachte dazu bloß eine Überweisung an eine Diätologin und eine Behandlungsübersicht über Massagen sowie Rotlicht und Ultraschallbehandlungen in Vorlage. Auch wenn die [Revisionswerberin] in ihrer Beschwerde vorbringt, dass die zur Annahme dauernder Dienstunfähigkeit herangezogenen körperlichen Einschränkungen lediglich aufgrund des massiven Übergewichts diagnostiziert wurden und mit der Reduzierung des Körpergewichts volle Exekutivdienstfähigkeit wieder gegeben sei, so ist dazu auszuführen, dass die [Revisionswerberin] laut den übereinstimmenden gutachterlichen Stellungnahmen an einer Vielzahl von chronischen Beschwerden leidet. Somit ist selbst bei der Annahme, dass das Übergewicht der [Revisionswerberin] Auslöser für die gesundheitlichen Probleme war, aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit ihrer nunmehrigen Beschwerden nicht davon auszugehen, dass mit bloßer Gewichtsreduktion eine derartige Besserung des Gesundheitszustandes eintritt, welche mit einer Wiedererlangung der Exekutivdienstfähigkeit einhergeht, weswegen der Oberbegutachter auch von einem Dauerzustand spricht und ausführt, dass eine Wiedererlangung der Dienstfähigkeit innerhalb eines absehbaren Zeitraumes nicht erwartet werden kann. Die [Revisionswerberin] ist den vollständigen und schlüssigen Gutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene oder in anderer Weise substantiiert entgegengetreten und war demnach eine dauernde Dienstunfähigkeit festzustellen.“
8 Zur Begründung der Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung stützte sich das Bundesverwaltungsgericht auf § 24 Abs. 4 VwGVG und führte aus, dass der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen habe, dass die Verhandlungspflicht entfalle, wenn die (nach der Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK angenommenen) „Ausnahmen für nicht übermäßig komplexe Rechtsfragen oder hochtechnische Fragen“ Platz griffen (Hinweis auf VwGH 21.12.2016, Ra 2016/12/0067). Im vorliegenden Fall habe sich der „unstrittige Sachverhalt“ aus den vorliegenden Akten ergeben und es sich auch „um keine übermäßig komplexe Rechtsfrage“ gehandelt.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
10 Die Revision macht als Rechtsfrage im Sinne von Art. 133 Abs. 4 B VG die Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht der Verwaltungsgerichte nach § 24 VwGVG geltend. Sie ist aus diesem Grund zulässig und auch begründet.
11 Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, soweit durch Bundes oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäische Union (GRC) entgegenstehen. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass dienstrechtliche Streitigkeiten öffentlich Bediensteter unter den Begriff der „civil rights“ im Verständnis des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, insoweit derartige Streitigkeiten durch die innerstaatliche Rechtsordnung geregelte, subjektive Rechte oder Pflichten des jeweils betroffenen Bediensteten zum Gegenstand haben (vgl. VwGH 13.9.2017, Ro 2016/12/0024, mwN; zum Verfahren über die Versetzung in den Ruhestand vgl. etwa VwGH 11.4.2018, Ra 2017/12/0090).
13 Vorliegendenfalls hat die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde gegen den Bescheid über die Ruhestandsversetzung sowohl die dem Sachverständigengutachten als Befund zugrunde liegenden Sachverhaltsannahmen als auch die daraus gezogenen fachkundigen Schlussfolgerungen, also jeweils klassische Tatsachenfragen, bestritten. Dass auch das Bundesverwaltungsgericht davon ausging, zeigt sich daran, dass es sich mit diesem Tatsachenvorbringen in der Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses auseinandergesetzt und dieses mit näherer Begründung, allerdings ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung, verworfen hat. Es ist daher unzutreffend, dass die relevanten Sachverhaltsfragen unstrittig und nur wenig komplexe Rechtsfragen zu lösen gewesen seien, sodass sich das Absehen von einer mündlichen Verhandlung als rechtswidrig erweist.
14 Im hier gegebenen (vgl. Rn. 12) Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK führt ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen die Verhandlungspflicht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bereits ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses (vgl. etwa VwGH 27.3.2023, Ra 2021/12/0041, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. Juli 2023
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