Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. November 2022, L507 2243427 1/28E, betreffend ersatzlose Behebung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines unbefristeten Einreiseverbotes (mitbeteiligte Partei: G Y, vertreten durch Rast Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
1 Der 1989 geborene Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger, befindet sich seit Jänner 2009 in Österreich und verfügte wegen seiner 2008 erfolgten Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin bis 27. Dezember 2020 über den Aufenthaltstitel Familienangehöriger, wobei nach dem Vorbringen in der Revision ein Verlängerungsverfahren anhängig ist.
2 Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Geschworenengericht vom 13. Oktober 2020 wurde der Mitbeteiligte wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwanzig Jahren rechtskräftig verurteilt.
3 Daraufhin erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 14. Mai 2021 gegen den Mitbeteiligten gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG erließ das BFA gegen den Mitbeteiligten überdies ein unbefristetes Einreiseverbot und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab.
4 Nachdem das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt hatte, behob es in Stattgebung der Beschwerde den Bescheid des BFA vom 14. Mai 2024 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 7. November 2022 ersatzlos. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 In seiner Begründung stellte das BVwG fest, der Mitbeteiligte sei Vater von zwei aus der (weiterhin aufrechten) Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin stammenden Töchtern, die im November 2009 bzw. im März 2011 in Österreich geboren wurden und ebenso wie zwei weitere Kinder aus einer früheren Beziehung der Ehefrau des Mitbeteiligten die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Bis zu seiner Inhaftnahme im Jänner 2020 habe der Mitbeteiligte mit seiner Ehefrau und den Kindern, die ihn auch in der Haft besuchen, in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Während seines Aufenthaltes in Österreich sei der Mitbeteiligte zunächst durch Zeiten des Bezuges von Sozialleistungen unterbrochen unselbständig beschäftigt und zuletzt seit Februar 2018 in der Gastronomie selbstständig erwerbstätig gewesen. In der Haft absolviere der Mitbeteiligte eine Lehre zum Koch und nehme an einer Gruppentherapie für Gewaltprävention teil.
6 Rechtlich ging das BVwG mit dem Hinweis darauf, dass der Mitbeteiligte, der „nun erstmalig das Haftübel verspüren“ müsse, erst am Beginn der zu verbüßenden langen Haftstrafe stehe, davon aus, es sei „zum jetzigen Zeitpunkt bzw. zum Entscheidungszeitpunkt eine Prognose für ein künftiges Wohlverhalten“ des Mitbeteiligten noch nicht abschätzbar und es werde „erst eine gewisse Zeit nach der Haftentlassung“ beurteilbar sein. Vor dem Hintergrund der familiären Verhältnisse des Mitbeteiligten nahm das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG an, dass eine Fortsetzung des Familienlebens in der Türkei für seine Ehefrau unzumutbar sei und dass die gegen den Mitbeteiligten verhängte Rückkehrentscheidung jedenfalls eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls darstelle. Gerade im Hinblick auf die noch bestehende Minderjährigkeit der beiden (ehelichen) Kinder überwiege im Entscheidungszeitpunkt das familiäre Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung zur Verhinderung von Gewalt und Tötungsdelikten. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erscheine somit zum jetzigen Zeitpunkt auch bei Berücksichtigung des strafrechtlichen Verhaltens des Mitbeteiligten jedenfalls wegen maßgeblicher Beeinträchtigung des Kindeswohls als unzulässig. Aus näher genannten Gründen sei jedoch nicht die „dauerhafte Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung“ nach § 9 Abs. 3 BFA VG festzustellen, sondern die Rückkehrentscheidung samt den darauf aufbauenden, im untrennbaren Zusammenhang stehenden Spruchpunkten, insbesondere auch das Einreiseverbot, (ersatzlos) zu beheben.
7 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
8 In den Zulässigkeitsausführungen der Revision macht das BFA neben Verfahrensmängeln zusammengefasst insbesondere ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend, wonach die Gefährdungsprognose nicht für den Entscheidungszeitpunkt, sondern für den Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung, das heißt für den Zeitpunkt der Haftentlassung des Mitbeteiligten, zu treffen gewesen wäre.
9 Schon aus diesem Grund erweist sich die Revision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
10 Wie das BFA zutreffend ausführt, judiziert der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass für die Frage, ob ein Einreiseverbot erlassen werden dürfe, auf den Zeitpunkt der hypothetischen Ausreise bzw. der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung abzustellen ist (vgl. etwa VwGH 20.12.2022, Ra 2022/21/0127. Rn. 12, und VwGH 10.11.2022, Ra 2022/21/0113, Rn. 8, u.a. mit dem Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe). In dem zuletzt genannten Erkenntnis wurde diese Auffassung für die insoweit noch aktuelle Rechtslage mit § 53 Abs. 4 FPG begründet, wonach die Frist des Einreiseverbotes mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen beginnt. Für die Dauer des Freiheitsentzuges, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde, ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung allerdings gemäß § 59 Abs. 4 FPG aufgeschoben. Vor allem bei der Gefährdungsprognose wäre daher vom BVwG auf den Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Mitbeteiligten aus der Strafhaft abzustellen gewesen (siehe dazu auch VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, Rn. 12, sowie sinngemäß zu einem Aufenthaltsverbot VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9, mwN, und daran anknüpfend VwGH 9.6.2022, Ra 2021/21/0238, Rn. 13).
11 Im vorliegenden Fall hat das BVwG jedoch bei seiner Gefährdungsprognose auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung abgestellt. Dabei ging es offensichtlich von einer Gefährlichkeit des Mitbeteiligten aus, weil es eine Prognose für ein künftiges Wohlverhalten für noch nicht abschätzbar erachtete und meinte, dies könne erst „eine gewisse Zeit nach der Haftentlassung“ beurteilt werden. Wenngleich bei einem Kapitalverbrechen, wie es dem Mitbeteiligten zur Last gelegt wurde, auch nach dem Vollzug einer langjährigen Freiheitsstrafe das weitere Vorliegen einer maßgeblichen Gefährdung öffentlicher Interessen indiziert sein kann (vgl. in diesem Sinn auch die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach für die Frage des Eintritts eines Gesinnungswandels und des Wegfalls einer aus dem bisherigen Verhalten ableitbaren Gefährlichkeit in erster Linie das Wohlverhalten in Freiheit nach dem Vollzug einer Freiheitsstrafe maßgeblich ist, etwa VwGH 22.2.2021, Ra 2020/21/0537, Rn. 9, mwN), ist dennoch nicht ausgeschlossen, dass schon der Vollzug einer derart langen Freiheitsstrafe zu einer maßgeblichen Gefährdungsminderung führen könnte. In einer solchen Konstellation hätte das BVwG somit jedenfalls konkrete Feststellungen zu der begangenen Straftat, zu deren Hintergrund und zu den Begleitumständen samt den für die Strafbemessung maßgeblichen Milderungs und Erschwerungsgründen treffen, aber auch die weitere Entwicklung während der Strafhaft einbeziehen müssen (siehe dazu des Näheren erneut VwGH 10.11.2022, Ra 2022/21/0113, nunmehr Rn. 9).
12 Ferner erweist sich auch die nach § 9 BFA VG vorzunehmende Interessenabwägung schon deshalb als fehlerhaft, weil dabei ebenfalls auf den Zeitpunkt der Haftentlassung abzustellen gewesen wäre (vgl. noch einmal VwGH 20.12.2022, Ra 2022/21/0127, Rn. 14). Somit hätte das BVwG insbesondere nicht auf die im Entscheidungszeitpunkt bestehende Minderjährigkeit der Kinder des Mitbeteiligten, sondern auf deren Alter und die sonstigen familiären Verhältnisse im Zeitpunkt der hypothetischen Beendigung des Strafvollzugs in der Abwägungsentscheidung Bedacht zu nehmen gehabt.
13 Es wird nicht verkannt, dass es in derartigen Konstellationen wegen der nicht absehbaren weiteren Entwicklungen bis zum derzeit auch noch nicht bekannten Haftentlassungszeitpunkt unmöglich sein kann, eine auf den Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bezogene Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot vorzunehmen. Das hätte (nur) zur Konsequenz, dass diese Maßnahmen nicht schon in einem frühen Stadium der Strafhaft, sondern erst zeitnah zu deren Beendigung zu erlassen wären.
14 Das angefochtene Erkenntnis war aber schon aus den vorgenannten Gründen wegen Verkennung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 23. Mai 2024
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