Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2022, W172 2214023 1/39E, betreffend Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: E A, vertreten durch Dr. Bernhard Steinbüchler, Rechtsanwalt in 4490 St. Florian/Linz, Leopold Kotzmann Straße 10), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein im Iran aufgewachsener afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens, stellte am 10. Juni 2016 nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Urteil vom 18. Oktober 2018 verurteilte das Landesgericht Steyr den Mitbeteiligten wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 siebter und achter Fall, Abs. 4 Z 1 SMG sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten. Mit Urteil desselben Landesgerichtes vom 12. Dezember 2018 wurde der Mitbeteiligte erneut wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 4 Z 1 SMG und § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG verurteilt, wobei unter Bedachtnahme auf das Urteil vom 18. Oktober 2018 von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde.
3 Mit Bescheid vom 18. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten sowohl in Bezug auf den Status des Asylberechtigten als auch den Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot, legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest, erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und sprach aus, dass er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 7. Dezember 2018 verloren habe.
4 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem am 9. Jänner 2020 mündlich verkündeten und mit 9. September 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Begründend ging das BVwG auf das Wesentliche zusammengefasst davon aus, dass der Mitbeteiligte eine westlich geprägte Lebensweise führe und ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung als „verwestlichte“ Person drohe.
5 Diese Entscheidung hob der Verwaltungsgerichtshof nach Erhebung einer außerordentlichen Amtsrevision mit Erkenntnis vom 7. Juni 2022, Ra 2020/18/0439, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf, weil das BVwG die gebotene Auseinandersetzung mit den Richtlinien der EASO fallbezogen unterlassen und sein Verfahren dadurch mit einem Verfahrensmangel belastet habe, zumal die EASO in ihren Richtlinien zum Ergebnis gelangt sei, für als „verwestlicht“ wahrgenommene Männer sei das Verfolgungsrisiko minimal und abhängig von den spezifischen individuellen Umständen.
6 Im fortgesetzten Verfahren gab das BVwG der Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis abermals statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem erklärte das BVwG die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
7 In seiner Begründung stellte das BVwG fest, der Mitbeteiligte halte sich „nicht maßgeblich an islamische Vorschriften“ und vertrete „eine säkular liberale Weltanschauung“. Seine in Österreich offen ausgelebte „westlich geprägte Lebensweise“ habe eine verfestigte Änderung seiner Lebensführung bewirkt, in der die Anerkennung, Inanspruchnahme und Ausübung seiner Grundrechte zum Ausdruck komme. Dies sei zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe dem Mitbeteiligten deshalb Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
8 Im Rahmen der Beweiswürdigung verwies das BVwG auf „eine Kontinuität einer hedonistischen und säkularen Einstellung“ beim Mitbeteiligten, weil seine ablehnende Haltung gegenüber religiösen Konventionen durch Alkohol- und Drogenkonsum schon bei seinem Aufenthalt im Iran aufgetreten sei, sich aber auch in seiner Lebensweise in Österreich fortsetze. In der Verhandlung habe sich der Mitbeteiligte sehr liberal gegenüber anderen Konfessionen gezeigt, indem er ausgeführt habe, nicht von seiner Religion und seinem Glauben abhängig zu sein. Zudem gehe der Mitbeteiligte in Österreich mit Unterbrechungen einer Erwerbstätigkeit nach. Seine überwiegende Integration in die österreichische Gesellschaft und Arbeitswelt aufgrund seines Aufenthaltes im Bundesgebiet seien ein weiteres Indiz für die Übernahme einer westlichen Lebensweise. Den Länderberichten zufolge würden Taliban westliche Werte ablehnen und Abweichungen von ihren religiösen bzw. gesellschaftspolitischen Auffassungen rigoros verfolgen. In Afghanistan wäre der Mitbeteiligte auch aufgrund seiner psychischen Beschwerden nicht in der Lage, seine innere Einstellung und „nicht islamische Weltanschauung“ dauerhaft zu verschleiern, sondern laufe Gefahr, sie zu äußern oder ein unislamisches Verhalten an den Tag zu legen. Der Hinweis, dass ein Verfolgungsrisiko für als „verwestlicht“ wahrgenommene Männer minimal sei, finde sich in den aktuellen Country Guidance von EUAA (vormals: EASO) zu Afghanistan nicht mehr.
9 Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu afghanischen Frauen, die sinngemäß auch für Männer gelte, folgerte das BVwG rechtlich, dass dem Mitbeteiligten wegen „seiner westlich orientierten Werthaltungen und seines diesbezüglichen Lebensstils“ in Afghanistan Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention drohe.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Im eingeleiteten Vorverfahren erstattete der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung, in der die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision beantragt wird.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Zur Zulässigkeit seiner Amtsrevision bringt das BFA unter anderem vor, der Entscheidung des BVwG fehle es entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes an Feststellungen dazu, welche konkrete Lebensführung der Mitbeteiligte verinnerlicht habe, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung seiner Grundrechte zum Ausdruck komme und die er im Falle einer Rückkehr nicht mehr aufrechterhalten könne.
13 Die Amtsrevision ist zulässig und auch berechtigt.
14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt nicht jede Änderung der Lebensführung von Asylwerbern während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu, dass ihnen deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste (vgl. etwa VwGH 19.4.2021, Ra 2021/01/0034, mwN).
15 Entscheidend ist nach der vom BVwG angesprochenen und zu afghanischen Frauen ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung eines Grundrechtes zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 30.3.2021, Ra 2019/19/0518, mit Hinweis auf VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301, mwN).
16 Für eine solche Beurteilung, die stets eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles erfordert (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301, mwN), fehlen wie die Amtsrevision zutreffend geltend macht konkrete Feststellungen, die jene Schlussfolgerungen, die das BVwG im Hinblick auf den Lebensstil des Mitbeteiligten getroffen hat, nachvollziehbar machen. Die in der Beweiswürdigung (disloziert) ins Treffen geführten Sachverhaltsaspekte, wie der Alkohol- und Drogenkonsum des Mitbeteiligten, seine Liberalität gegenüber anderen Konfessionen und seine Erwerbstätigkeit in Österreich, reichen nicht aus, um die Beurteilung des BVwG zu tragen, beim Mitbeteiligten liege eine verfestigte Änderung seiner Lebensführung vor, die einen wesentlichen Bestandteil seiner Identität darstelle und in der die Anerkennung, Inanspruchnahme und Ausübung seiner Grundrechte zum Ausdruck komme.
17 Was die vom BVwG festgestellte liberale Haltung des Mitbeteiligten gegenüber anderen Religionen betrifft, fehlen konkrete Feststellungen, die die diesbezügliche Prognose des BVwG hinsichtlich einer Verfolgung des Mitbeteiligten in Afghanistan plausibel erscheinen lassen, zumal der Mitbeteiligte den Feststellungen des BVwG zufolge (nach wie vor) schiitischer Muslim ist und auch ein Glaubensabfall nicht festgestellt wurde.
18 Somit findet die rechtliche Beurteilung des BVwG, dass der Mitbeteiligte im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sei, in den Feststellungen keine Deckung.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 23. Mai 2023
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