Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des J S, vertreten durch Mag. Carolin Seifriedsberger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Spiegelgasse 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2022, L525 2181910 1/32E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am 28. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, er sei in Pakistan neben seinem Studium Mitglied einer Einrichtung namens „Aman Commete“ bzw. „VDC“ gewesen, die für die pakistanische Armee im Geheimen Informationen über Angehörige der Taliban gesammelt habe. Deshalb sei er von den Taliban entführt, 15 Tage lang gefangen gehalten, gefoltert und auch vergewaltigt worden. Nach seiner Freilassung und einem Krankenhausaufenthalt sei er geflüchtet.
2 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem bekämpften Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Das Vorbringen des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen erachtete das BVwG für nicht glaubhaft. Der Revisionswerber könne in seine Herkunftsprovinz zurückkehren, ohne asylrelevante Verfolgung befürchten zu müssen. Alternativ stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Gebieten seines Herkunftsstaates offen. Es bestehe auch keine reale Gefahr, dass der Revisionswerber nach seiner Rückkehr in seinen Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK verletzt werden würde. Dies gelte vor dem Hintergrund näherer Feststellungen zur aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage in Pakistan sowie zu den persönlichen Verhältnissen des Revisionswerbers auch unter Berücksichtigung der derzeitigen Covid 19 Pandemie. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes des Revisionswerbers seine privaten Interessen am Verbleib in Österreich überwögen.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG zum Fluchtvorbringen des Revisionswerbers seien in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen worden. Das BVwG sei außerdem seiner amtswegigen Ermittlungspflicht nicht nachgekommen, weil es den Revisionswerber nicht näher zu der vorgebrachten Vergewaltigung durch Mitglieder der Taliban befragt habe. Auch hätte das BVwG ohne entsprechenden Beweisantrag jene Frau, die ihn als Vertrauensperson zur Verhandlung vor dem BVwG begleitet hätte, als Zeugin einvernehmen müssen. Die Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung sei mangelhaft.
6 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Soweit sich die Revision gegen die Beweiswürdigung des BVwG im Zusammenhang mit der Annahme wendet, die behauptete Entführung, Gefangennahme, Folterung und Vergewaltigung des Revisionswerbers durch Mitglieder der Taliban sei nicht glaubhaft, ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 3.2.2022, Ra 2021/18/0419, mwN).
11 Das BVwG führte eine mündliche Verhandlung durch, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen konnte, und wies im Rahmen seiner beweiswürdigenden Überlegungen etwa darauf hin, dass der Revisionswerber zu seiner angeblichen gegen die Taliban gerichteten geheimdienstlichen Tätigkeit für die pakistanische Armee, die behaupteter Weise zwei Jahre angedauert habe, lediglich vage Angaben machen habe können. Weder habe er konkret dargelegt, welche Informationen er über die Taliban gesammelt habe, noch wie er bei der Informationsgewinnung vorgegangen sei. Die Behauptung, er sei Ende 2013 dem Komitee „VDC“ beigetreten, widerspreche dem aus dem vorgelegten Mitgliedsausweis ersichtlichen Ausstellungsdatum im Jahr 2014. Im Übrigen habe der Revisionswerber nicht aufklären können, wofür die Abkürzung „VDC“ stehe. Der Glaubhaftigkeit des Vorbringens abträglich sei auch der Umstand gewesen, dass sich der Revisionswerber nach seiner behaupteten Gefangenschaft bei den Taliban nicht an die pakistanische Armee, die pakistanische Polizei oder das Komitee selbst gewandt habe. Der Revision gelingt es nicht, eine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Unvertretbarkeit dieser beweiswürdigenden Überlegungen aufzuzeigen.
12 Soweit die Revision geltend macht, das BVwG habe es zu Unrecht unterlassen, jene Frau, die den Revisionswerber zur Verhandlung vor dem BVwG begleitet habe und als enge Vertrauensperson darüber Auskunft geben hätte können, wie sehr die Entführung und die damit einhergehenden Ereignisse den Revisionswerber geprägt hätten und immer noch belasten würden, als Zeugin einzuvernehmen, ist zu erwidern, dass die Revision selbst einräumt, keinen diesbezüglichen Beweisantrag gestellt zu haben. Die Frage, ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung dar (vgl. VwGH 22.2.2021, Ra 2020/18/0504, mwN). Die Revision vermag nicht aufzuzeigen, dass dem BVwG bei dieser Beurteilung ein vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifender Fehler unterlaufen wäre, weil ihm unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Beweisergebnisse die amtswegige Erhebung dieses Beweises als „erforderlich“ im Sinne des § 18 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 erscheinen hätte müssen.
13 Soweit sich der Revisionswerber schließlich gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) wendet und ins Treffen führt, dass sich der Revisionswerber im Entscheidungszeitpunkt bereits mehr als sechs Jahre in Österreich aufgehalten habe, ist ihr zwar darin zuzustimmen, dass deshalb jene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nach welcher einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289; 10.4.2020, Ra 2019/19/0108; jeweils mwN), im Revisionsfall nicht maßgeblich ist. Die Revision übersieht aber, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. etwa VwGH 3.6.2022, Ra 2022/18/0053, mwN).
14 Das BVwG hat die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers von etwa sechseinhalb Jahren im Entscheidungszeitpunkt des BVwG und während dieser Zeit gesetzte Integrationsschritte in die Interessenabwägung einbezogen, in seine Erwägungen jedoch zu Recht miteinfließen lassen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG maßgeblich relativierend ist, wenn wie hier die integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0290, mwN). Unvertretbar wäre es, wenn das BVwG einer in dieser Zeit erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beigemessen hätte (vgl. dazu etwa VwGH 30.5.2022, Ra 2022/20/0132, mwN). Im vorliegenden Fall berücksichtigte das BVwG jedoch neben der Aufenthaltsdauer selbst auch die Sprachkenntnisse, die Ablegung des Pflichtschulabschlusses, den Nichtbezug von sozialen Leistungen und die sozialen Kontakte des Revisionswerbers, wobei es allerdings festhielt, dass eine tiefergreifende soziale Einbindung nicht erkennbar sei und kein Familienleben in Österreich bestehe. Die Bindungen des Revisionswerbers zum Herkunftsstaat einerseits sowie zu Österreich andererseits und seine Unbescholtenheit bezog das BVwG ebenso in seine Abwägung ein. Dass diese Abwägung unvertretbar im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung ist, vermag die Revision nicht darzutun.
15 Zur vorgelegten Einstellungszusage ist anzumerken, dass das BVwG die bedingte Einstellungszusage eines Unternehmens in Hallein (wonach es lediglich „vorstellbar“ sei, den Revisionswerber einzustellen, falls er einen „positiven Aufenthalt“ bekomme; ein Vorvertrag wurde nicht vorgelegt) in seiner Interessenabwägung ebenso berücksichtigt, ihr jedoch insgesamt keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat. Dass diese Beurteilung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abwiche, ist nicht zu erkennen. Aus dem von der Revision angesprochenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26. Jänner 2017, Ra 2016/21/0168, ergibt sich zwar, dass eine Einstellungszusage bzw. ein Arbeitsvorvertrag bei der Beurteilung des Grades der Integration zu berücksichtigen sind bzw. diesen bei der Interessenabwägung „Bedeutung“ zukommt, doch betraf diese Entscheidung einen Fall, in welchem sich der Betroffene anders als der nur etwa sechseinhalb Jahre in Österreich aufhältige Revisionswerber länger als zehn Jahre im Inland aufgehalten hatte. Erst bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und wurden nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).
16 Schließlich ist der Revision, soweit sie die Dauer des Verfahrens insbesondere vor dem BVwG anspricht, einzuräumen, dass nach § 9 Abs. 2 Z 9 BFA VG den Behörden zurechenbare überlange Verzögerungen dem Betroffenen zu Gute gehalten werden müssen, wenn ihn daran kein Verschulden trifft. Der Revision gelingt es allerdings nicht, darzulegen, dass die Verfahrensdauer (und mit dieser der Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich) im vorliegenden Fall bereits ein solches Ausmaß erreicht hätte, dass deshalb das Interesse des Revisionswerbers am Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung jedenfalls überwöge.
17 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 29. August 2022
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