Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H S, vertreten durch Mag. Manfred Sigl, Rechtsanwalt in 3300 Amstetten, Bahnhofstraße 8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Februar 2022, W202 2155155 1/33E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 19. August 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen mit einer Bedrohung durch die Taliban begründete.
2 Mit Bescheid vom 14. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
3 Mit Urteil vom 4. September 2019 erkannte das Landesgericht Wiener Neustadt, der Revisionswerber habe
„[...] unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes [...], der auf einer geistigen bzw. seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, und einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung [...]
[...] [Anm: die ihn in einer psychiatrischen Klinik behandelnde Ärztin] Dr. S. durch die Äußerung: „Du bist eine Sündige. Wenn ich dich auf offener Straße sehe, schlage ich solange auf dich ein, bis du tot bist!“ gefährlich bedroht [...];
[die Genannte] vorsätzlich am Körper [...] verletzt, [...] und zwar [...] durch Versetzen von Schlägen, wodurch die Genannte eine Schürfwunde [...] sowie eine Zerrung [...] erlitt;
[...] [die Mitpatientin] G. zu verletzen versucht, indem er mehrmals mit einem Feuerzeug die Bekleidung der Genannten anzuzünden trachtete [...];
[...] sohin Taten begangen, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind und die ihm, wäre er zur Tatzeit nicht aufgrund einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades zurechnungsunfähig [...] gewesen, als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB [...] [bzw.] als das zweifache Vergehen der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs. 4 StGB zuzurechnen wären [...].“
Das Landesgericht Wiener Neustadt ordnete gemäß § 21 Abs. 1 StGB die Unterbringung des Revisionswerbers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an, da hinreichende Gründe für die Befürchtung vorlägen, dass der Revisionswerber sonst eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid des BFA vom 14. April 2017 insofern statt, als es feststellte, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan nicht zulässig sei; im Hinblick auf die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005, die Rückkehrentscheidung und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
5 In der Begründung des Erkenntnisses führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren von Belang aus, dass dem Revisionswerber zwar bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2bzw. Art. 3 EMRK drohe, jedoch der Ausschlussgrund für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 (Gefahr für die Allgemeinheit) verwirklicht sei. Das BVwG legte seiner Beurteilung das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 4. September 2019 zugrunde und führte aus, dass laut der Aussage des psychiatrischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung im Strafverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass es zu neuerlichen Tathandlungen im gegenständlichen Sinn in Form einer gefährlichen Drohung mit dem Tod bzw. Angriffen gegen Leib und Leben, die unter Umständen sogar tödlich enden könnten kommen würde. Auch die jüngste der jährlichen gutachterlichen Stellungnahmen zur Gefährlichkeit des Revisionswerbers vom 10. Juni 2021, die wiederum einen Verbleib des Revisionswerbers im Maßnahmenvollzug empfohlen habe, zeige, dass zum aktuellen Zeitpunkt die Gefahr eines Deliktrezidivs noch erhöht sei. Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und der aufgrund des persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose sei anzunehmen, dass der Revisionswerber eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.
6 Gegen dieses Erkenntnis (der Sache nach gegen die Nichtgewährung subsidiären Schutzes) wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie macht zur Zulässigkeit zunächst geltend, das BVwG habe der Bindungswirkung des Urteils des Landesgerichts Wiener Neustadt, in dem ausgesprochen worden sei, dass der Revisionswerber das Tatbild des Vergehens der gefährlichen Drohung und des zweifachen Vergehens der versuchten schweren Körperverletzung verwirklicht habe, zuwidergehandelt, indem es angenommen habe, der Revisionswerber habe den objektiven Tatbestand des Verbrechens der schweren Nötigung erfüllt. Weiters sei die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses insoweit mangelhaft, als die Gefährdungsprognose nicht überprüfbar sei, weil Feststellungen „dahingehend“ fehlen würden. Außerdem habe sich das BVwG auf ein rund 30 Monate altes Gutachten im Strafverfahren gestützt und keinerlei Bezug auf die mündliche Verhandlung genommen. Schließlich habe das BVwG gegen das Überraschungsverbot verstoßen, indem es im angefochtenen Erkenntnis für den Revisionswerber völlig überraschend davon ausgegangen sei, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, weshalb der Revisionswerber zu diesem Sachverhaltselement nicht Stellung nehmen habe können.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Die Behauptung der Revision, das BVwG habe entgegen dem Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt angenommen, der Revisionswerber habe den objektiven Tatbestand des Verbrechens der schweren Nötigung verwirklicht, trifft nicht zu. Das BVwG hat vielmehr in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses lediglich argumentativ auf das Erkenntnis VwGH 20.11.2020, Ra 2020/01/0109, Bezug genommen, dem ein Fall einer Verwirklichung des objektiven Tatbestands des Verbrechens der schweren Nötigung zugrunde lag, seiner Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr für die Allgemeinheit jedoch eindeutig zugrunde gelegt, dass der Revisionswerber wie mit dem Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt ausgesprochen das Tatbild des Vergehens der gefährlichen Drohung und des zweifachen Vergehens der versuchten schweren Körperverletzung verwirklicht hat.
11 Das weitere Vorbringen der Revision, das BVwG habe seine Annahme, der Revisionswerber stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, mangelhaft begründet, zumal die Gefährdungsprognose „nicht überprüfbar“ sei, weil Feststellungen „dahingehend“ fehlen würden, wird der Anforderung für die Geltendmachung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit Feststellungsmängeln, jene Tatsachen (auf das Wesentliche zusammengefasst) darzustellen, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 13.9.2021, Ra 2021/18/0238, mwN), nicht gerecht. Der Hinweis der Revision, das BVwG habe sich auf ein rund 30 Monate altes Gutachten aus dem Strafverfahren gestützt, übergeht den Umstand, dass das BVwG die aktuellste der gesetzlich vorgesehenen regelmäßigen gutachterlichen Stellungnahmen zur weiteren Anhaltung des Revisionswerbers im Maßnahmenvollzug vom 10. Juni 2021 in die Beurteilung der Gefährlichkeit des Revisionswerbers einbezog.
12 Was den behaupteten Verstoß gegen das Überraschungsverbot betrifft, ist anzumerken, dass darunter das Verbot zu verstehen ist, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung Sachverhaltselemente einbezieht, die der Partei nicht bekannt waren. Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt festgehalten, dass sich das zum Überraschungsverbot in Beziehung gesetzte Parteiengehör nur auf die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, nicht aber auf die von der Behörde vorzunehmende rechtliche Beurteilung erstreckt (vgl. VwGH 29.9.2021, Ra 2021/01/0294, mwN).
13 Das BVwG stellte dem Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung einerseits Fragen zu seiner Straffälligkeit und erörterte mit diesem das Protokoll aus der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Wiener Neustadt sowie das psychiatrische Sachverständigengutachten aus dem Strafverfahren. Bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit selbst handelt es sich um eine rechtliche Beurteilung, worauf sich das Überraschungsverbot nicht erstreckt. Dass das BVwG dabei Sachverhaltselemente einbezogen hätte, welche dem Revisionswerber nicht bekannt gewesen wären, zeigt die Revision nicht auf.
14 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 1. Juni 2022
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