Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag a . Thaler, über die Revision des P S, vertreten durch MMag. Dr. Stephan Vesco, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 2021, W205 1421315 3/7E, betreffend Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 und Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 21. Oktober 2020 wurde der Antrag des Revisionswerbers, eines indischen Staatsangehörigen, vom 1. Juli 2020 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters erließ das BFA gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.). Zudem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. November 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Weiters sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
3 Zusammengefasst stellte das BVwG fest, der strafgerichtlich unbescholtene Revisionswerber habe nach seiner unrechtmäßigen Einreise in Österreich am 22. August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der bereits im Jahr 2012 rechtskräftig abgewiesen worden sei. Der Revisionswerber sei ledig und habe keine Kinder. Er habe eine Deutschprüfung auf Niveau A2 abgelegt und arbeite als Zeitungszusteller. Durch seine Tätigkeit verdiene er regelmäßig etwa € 900, bis € 1.150, monatlich. Zudem sei er „steuerlich zur Veranlagung der Einkommensteuer beim Finanzamt erfasst“ und krankenversichert. Auch verfüge er über einen „mit Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung aufschiebend bedingten arbeitsrechtlichen Vorvertrag“.
4 In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG im Wesentlichen fest, dass von einer nachhaltigen beruflichen Integration des Revisionswerbers im Bundesgebiet nicht die Rede sein könne. Auch wenn der Revisionswerber selbständig als Zeitungszusteller arbeite und so für seinen Unterhalt sorge, sei in dieser Tätigkeit keine entscheidungserhebliche berufliche Integration zu sehen. Weiters sei bei der zu treffenden Interessenabwägung auszuführen, dass die Familie des Revisionswerbers in Indien lebe. Kenntnisse der deutschen Sprache allein reichten nicht aus, um jedenfalls von einem Überwiegen privater Interessen für einen weiteren Verbleib in Österreich ausgehen zu können. Im Ergebnis sei davon auszugehen, dass die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur ein relatives Gewicht hätten und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung in den Hintergrund treten würden.
5 Zum Entfall der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung führte das BVwG aus, es habe sich auf vom Revisionswerber unbestrittene Annahmen stützen können. Die Beschwerde laufe letztlich darauf hinaus, dass die unstrittige Sachlage vom Verwaltungsgericht rechtlich anders gewürdigt werden solle.
6 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 1. März 2022, E 4469/2021 8, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
7 Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Interessenabwägung sowie gegen das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung.
8 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet, weil das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Verhandlungspflicht abgewichen ist.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann - worauf sich das BVwG gestützt hat - nach § 21 Abs. 7 BFA VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. dazu etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0198, Rn. 9, mwN).
12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. dazu grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13 bis 16, mwN).
13 Nach den Feststellungen des BVwG hielt sich der Revisionswerber im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als zehn Jahre in Österreich auf. Er ging auch einer Erwerbstätigkeit nach, die es ihm erlaubte, sich selbst zu erhalten und verfügte über Deutschkenntnisse auf Niveau A2.
14 Es trifft zu, dass trotz derartiger integrationsbegründender Faktoren dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen wäre, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. VwGH 15.3.2023, Ra 2022/22/0179, Rn. 13).
15 In diesem Sinn hob das Verwaltungsgericht die jahrelange Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Revisionswerbers nach dem rechtskräftigen negativen Abschluss seines Asylverfahrens im Jahr 2012 hervor. Diesem Aspekt kam allerdings für sich genommen kein derartiges Gewicht zu, dass sich das Ergebnis der Interessenabwägung als eindeutig dargestellt hätte. Dabei gilt es anzumerken, dass bei der Botschaft der Republik Indien in Wien bereits im Jahr 2012 um Ausstellung eines Heimreisezertifikates für den Revisionswerber ersucht wurde und der Revisionswerber auch in der Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vorgebracht hatte, dass die indische Botschaft nicht bereit sei, ihm ein Heimreisezertifikat auszustellen. Mit diesem Vorbringen setzte sich das BVwG nicht auseinander und traf auch keine Feststellungen dazu, aus welchem Grund die Ausstellung eines Heimreisezertifikates (und in weiterer Folge eine Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung) unterblieben ist. Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass es sich bei den vom BVwG betonten Gesichtspunkten (unsicherer und ab rechtskräftiger Erledigung eines Asylantrages unrechtmäßiger Aufenthalt, Nichtbeachtung einer Ausreiseverpflichtung) um solche handelt, die - in mehr oder weniger großem Ausmaß - typischerweise auf Personen zutreffen, die nach negativer Erledigung ihres Antrags auf internationalen Schutz insgesamt einen mehr als zehnjährigen inländischen und zuletzt jedenfalls unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen; sie fallen somit - anders als in Fällen kürzerer Aufenthaltsdauer - bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht entscheidungswesentlich ins Gewicht (vgl. VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0093, Rn. 13, mwN).
16 Vor diesem Hintergrund ist für den Verwaltungsgerichtshof aber nicht zu erkennen, dass hier ein eindeutiger Fall im Sinn der zitierten Rechtsprechung vorläge, in dem auch bei Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung kein günstigeres Ergebnis zu erwarten wäre.
17 Im Hinblick darauf war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze (vgl. VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0193 bis 0196) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Februar 2024
Rückverweise