Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des S G, vertreten durch Mag. Stefan Errath, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. März 2021, W280 2219205 1/13E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der strafrechtlich unbescholtene Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, lebt seit Juni 2014 mit einer seit 1991 in Österreich rechtmäßig aufhältigen serbischen Staatsangehörigen in einer Haushaltsgemeinschaft. Im Hinblick auf die im August 2014 mit dieser Lebensgefährtin geschlossene Ehe wurde dem Revisionswerber erstmals mit Gültigkeit ab 2. Mai 2015 der Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ erteilt, der in der Folge über entsprechende Anträge verlängert wurde, und zwar zuletzt bis 14. Mai 2018. Der Revisionswerber stellte am 11. Mai 2018 fristgerecht einen weiteren Verlängerungsantrag.
2Mit Schreiben vom 23. August 2018 befasste die Niederlassungsbehörde gemäß § 25 Abs. 1 NAG das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit der Frage der allfälligen Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, weil der Revisionswerber die Voraussetzungen für die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht erfülle. Einerseits sei der Lebensunterhalt des Revisionswerbers nicht ausreichend gesichert, sodass sein Aufenthalt iSd § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAGzu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne, andererseits sei er der nach § 9 Abs. 1 iVm Abs. 2 und 4 des Integrationsgesetzes (IntG) bestehenden Pflicht zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels nicht nachgekommen.
3Aus den genannten Gründen erließ das BFA in der Folge mit Bescheid vom 3. April 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFAVG eine Rückkehrentscheidung und es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.
4Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2021 mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. März 2021 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
6 Die Revision ist wie die weiteren Ausführungen zeigenentgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGGnicht bindenden Ausspruch im angefochtenen Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig; sie ist auch berechtigt.
7Die gegenständliche Rückkehrentscheidung wurde auf § 52 Abs. 4 Z 4 FPG gestützt. Danach setzt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen voraus, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 oder 2 NAGentgegensteht. Ergänzend normiert der letzte Satz des § 52 Abs. 4 FPG für den hier vorliegendenFall eines Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG, dass das BFA nur all jene Umstände zu würdigen habe, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Niederlassungsbehörde bereits hätte nachweisen können und müssen.
8Vor diesem Hintergrund wurde im vorliegenden Fall vom BVwG zunächst das Vorliegen des Versagungsgrundes gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG angenommen. Danach dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte, wobei Abs. 5 dieser Bestimmung nähere Regelungen zu dieser Bedingung enthält.
9Nach Wiedergabe von dazu ergangener Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hielt das BVwG im Rahmen der rechtlichen Beurteilung dann fest, dass der Revisionswerber nach dem Ermittlungsstand der Niederlassungsbehörde zum 23. August 2018 monatlich 889,80 € Arbeitslosengeld und seine Ehefrau lediglich ein (nicht zu berücksichtigendes) Krankengeld erhalten habe. Des Weiteren sei Familienbeihilfe für ein Kind bezogen worden. Unter Berücksichtigung der Miete und einer Kreditbelastung sei der maßgebliche Richtsatz nach § 293 ASVG wie das BVwG näher berechnete um ca. 1.220, € unterschritten worden, weshalb der Revisionswerber die (in Rn. 8) genannte allgemeine Erteilungsvoraussetzung nicht erfüllt habe.
10Des Weiteren ging das BVwG vom Vorliegen des Versagungsgrundes gemäß § 11 Abs. 2 Z 6 NAG aus. Danach dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn er im Fall eines Verlängerungsantrages iSd § 24 NAG das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG rechtzeitig erfüllt hat. Das erfordere nach § 11 Abs. 2 IntG so das BVwG die Ablegung einer „Integrationsprüfung über Sprach und Werteinhalte auf dem Sprachniveau A2“. Eine solche Prüfung habe der Revisionswerber innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist von zwei Jahren ab 12. Mai 2015 nach den Ausführungen der Niederlassungsbehörde zum damaligen Zeitpunkt nicht erfüllt.
11Aufgrund des von der Niederlassungsbehörde nachvollziehbar dargestellten Sachverhaltes gelange „unter Beachtung des § 52 Abs. 4 letzter Satz FPG“ auch das BVwG so resümierte es anschließendzum Ergebnis, dass der Revisionswerber „im Verfahren vor der zuständigen Behörde“ das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 11 Abs. 2 Z 4 und 6 NAG nicht hinreichend nachgewiesen habe. Es sei [nämlich] grundsätzlich auf das Ergebnis der Niederlassungsbehörde, die einen Mangel der genannten Erteilungsvoraussetzungen „erblickt“ habe, aufzubauen und vom BVwG von diesem Ergebnis auszugehen, weshalb „keine detaillierte Prüfung derselben mehr“ erfolge.
12 Bei diesen Überlegungen lässt das BVwG wie in der Revision zu Recht ins Treffen geführt wird allerdings den allgemeinen Grundsatz außer Acht, dass für die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes die Sachund Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Erlassung maßgeblich ist (siehe schon VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076, Punkt IV.B.5.1. der Entscheidungsgründe, und darauf Bezug nehmend zu einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 FPG VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0234, Rn. 17 ff). Das gilt auch für die Erlassung von Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 4 FPG iVm § 11 NAG (siehe VwGH 12.7.2021, Ra 2019/21/0375, Rn. 12/13). Entgegen der Meinung des BVwG bietet der letzte Satz des § 52 Abs. 4 FPG keine Grundlage für eine davon abweichende Beurteilung. Das vom BVwG unterstellte Verständnis dieser Norm, wonach bei der Frage des Vorliegens eines Erteilungshindernisses auf den Zeitpunkt der Verständigung des BFA durch die Niederlassungsbehörde und auf deren damaligen Ermittlungsstand abzustellen sei, findet im Wortlaut dieser Bestimmung die diesbezüglichen Materialien zum FNG (RV 1803 BlgNR 24. GP 65) und zur Vorgängerbestimmung des § 62 Abs. 3 FPG idF des FrÄG 2011 (RV 1078 BlgNR 24. GP 33) enthalten dazu keine Erläuterungenkeine Deckung. Vielmehr ergibt sich daraus lediglich eine inhaltliche Einschränkung für das BFA (bzw. das BVwG) dahin, dass nur Versagungsgründe iSd § 11 Abs. 1 oder 2 NAGherangezogen werden dürfen, die schon im Verfahren vor der Niederlassungsbehörde relevant waren, also schon von der Niederlassungsbehörde als gegeben angesehen und dem Drittstaatsangehörigen im Rahmen des Parteiengehörs nach § 25 Abs. 1 erster und zweiter Satz NAGzur Kenntnis gebracht wurden. Das ändert somit nichts daran, dass auch für eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 Z 4 iVm § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG, die wegen fehlender Unterhaltsmittel von der Niederlassungsbehörde initiiert wurde, maßgeblich ist, ob der in Rede stehende Versagungsgrund im Zeitpunkt ihrer Erlassung (noch) vorlag (vgl. der Sache nach etwa VwGH 20.5.2021, Ra 2021/21/0004, Rn. 10).
13 Angesichts dessen ist darauf einzugehen, dass das BVwG in der weiteren Begründung zwar aufgrund einer vom Revisionswerber seit 5. April 2021 ausgeübten Beschäftigung als Installateurgehilfe mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.578,36 € und wegen des Bezugs von Notstandshilfe durch seine Ehefrau in der Höhe von monatlich 709,80 € unter Berücksichtigung der monatlichen Belastungen (300, € Kreditrate, 415,€ Wohnungskosten) zum Ergebnis kam, aktuell werde der Richtsatz für ein Ehepaar nach § 293 ASVG um 243,89 € „übererfüllt“. Allerdings habe der Revisionswerber seit Anfang Juni 2018 keine Beschäftigung mehr gehabt, danach nur Arbeitslosengeld und Notstandshilfe bezogen und die aktuelle Beschäftigung erst fünf Tage vor der mündlichen Verhandlung aufgenommen. Seine Ehefrau sei seit Ende Februar 2016 ohne Beschäftigung und habe dann nur Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Krankengeld erhalten. Vor dem Hintergrund der mangelhaften Deutschkenntnisse des Revisionswerbers, der in der Verhandlung einfache Fragen nicht auf Deutsch habe beantworten können, und wegen der volatilen Arbeitsmarktlage infolge der Covid 19 Pandemie sei somit so das BVwG zusammenfassend „keine nachhaltige wirtschaftliche Verfestigung hinsichtlich der Erzielung der notwendigen Unterhaltsmittel ableitbar“.
14 Richtig ist worauf sich das BVwG in diesem Zusammenhang beruft zwar, dass eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Unterhaltsmittel zu treffen ist, wobei nicht allein auf den Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung abzustellen ist, wenn in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen ist. Wenn bereits ein Arbeitsverhältnis eingegangen wurde, ist jedoch das daraus erzielte Einkommen bei der Ermittlung der erforderlichen Unterhaltsmittel zu berücksichtigen, sofern keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Fremde nach Erteilung des Aufenthaltstitels nicht weiterhin beschäftigt sein werde (vgl. dazu des Nähren VwGH 8.10.2019, Ra 2018/22/0292, Rn. 11, mwN).
15 Wie in dem zitierten Fall lagen aber auch in der vorliegenden Konstellation keine konkreten Anhaltspunkte vor, der Revisionswerber hätte im Fall der Erteilung des Aufenthaltstitels die aktuelle Beschäftigung, an deren tatsächlichen Bestehen das BVwG keine Zweifel geäußert hatte, wieder aufgegeben. Im Übrigen hat sich das BVwG mit der konkreten Tätigkeit und den Bedingungen, unter denen sie ausgeübt wird, nicht weiter befasst. Es stellt daher die Annahme, es wären hierfür Deutschkenntnisse erforderlich und sie wäre von der allgemein volatilen Arbeitsmarktlage betroffen, sodass sie der Revisionswerber bald wieder verlieren werde, eine bloße Spekulation dar. Demnach erweist sich auch hier die negative Prognosebeurteilung des BVwG als nicht nachvollziehbar (vgl. idS neuerlich VwGH 8.10.2019, Ra 2018/22/0292, nunmehr Rn. 12/13).
16 Im Übrigen hätte das BVwG wie in der Revision ebenfalls zutreffend aufgezeigt wird in diesem Zusammenhang auf § 9 Abs. 5 BFAVG Bedacht nehmen müssen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nicht erlassen werden darf (vgl. zur Auslegung dieser Bestimmung des Näheren auch VwGH 20.5.2021, Ra 2021/21/0004, Rn. 7 ff).
17 Das BVwG ging wie in Rn. 10 bereits erwähntvon der Verwirklichung des § 52 Abs. 4 Z 4 FPG auch noch wegen Fehlens der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 6 NAG aus. Dabei wurde zunächst außer Acht gelassen, dass insoweit in § 52 Abs. 4 Z 5 FPG eine speziellere Norm existiert. Danach hat das BFA gegen einen rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde. Die genannte Bestimmung verlangt also zusätzlich, dass die Nichterfüllung dieser Verpflichtung „ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten“ ist, was aber fallbezogen nicht in Frage gestellt wurde.
18Allerdings ging das BVwG in der weiteren Begründung auch davon aus, § 11 Abs. 2 Z 6 NAG sei im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG (ohnehin) nicht mehr erfüllt, weil der Revisionswerber in der Verhandlung am 10. Februar 2021 ein entsprechendes Zertifikat betreffend die Absolvierung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung vorgelegt hatte. Aus dem mittlerweile ergangenen Erkenntnis VwGH 8.4.2021, Ra 2021/21/0020, lässt sich aber auch für den vorliegenden Fall, in dem der geforderte Integrationsnachweis noch während des Beschwerdeverfahrens nachträglich erbracht wurde, ableiten, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidungneben der möglichen verwaltungsbehördlichen Bestrafung nach § 23 Abs. 1 IntG gleichsam als zusätzliche Sanktion für die Verspätung nicht (mehr) verhältnismäßig ist. Auch darauf beruft sich die Revision zu Recht.
19Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis somit (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
20Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. August 2024
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