Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des C P, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Februar 2021, L502 2238503 2/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1981 in Österreich geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit seiner Geburt in Österreich auf und verfügte durchgehend über Aufenthaltstitel, zuletzt über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Der Revisionswerber beherrscht die deutsche Sprache und hat einen Pflichtschulabschluss. Eine begonnene Lehre schloss der Revisionswerber nicht ab. Abgesehen von seiner Tätigkeit als Lehrling war der an Suchtmittel gewöhnte Revisionswerber seit 1998 insgesamt nur wenige Monate erwerbstätig.
2 Er lebt mit seinen Eltern, die ihn finanziell unterstützen, im gemeinsamen Haushalt und absolvierte im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) seine vierte stationäre Suchtmittelentwöhnungstherapie. In Österreich leben außerdem noch zwei Schwestern und zwei Brüder des Revisionswerbers. Aus einer früheren Lebensgemeinschaft hat der ledige Revisionswerber einen minderjährigen Sohn, der bei einer Pflegefamilie lebt und zu dem kein regelmäßiger Kontakt besteht.
3 Im Laufe seines Aufenthaltes wurde der Revisionswerber beginnend im Jahr 1998 zunächst als Jugendlicher und junger Erwachsener, später als Erwachsener wegen zahlreicher Vergehen nach dem SMG sowie zweimals wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und des Vergehens des schweren und gewerbsmäßigen Betrugs insgesamt 15 Mal, und zwar seit der dritten Verurteilung im Oktober 2000 zu jeweils unbedingten Freiheitsstrafen im Höchstausmaß von zwei Jahren, verurteilt; in einem weiteren Fall wurde eine Zusatzstrafe verhängt und einmal noch wegen eines Vergehens nach dem WaffG von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen. Der Vollzug des letzten, mit Urteil vom 12. Mai 2020 verhängten Freiheitsstrafe wurde zur Absolvierung der erwähnten Therapie gemäß § 39 SMG aufgeschoben.
4 Mit Bescheid vom 11. Dezember 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf sein strafbares Verhalten gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG erkannte es einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demnach gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist zur freiwilligen Ausreise.
5 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Februar 2021 insoweit teilweise Folge, als es die Dauer des Einreiseverbots auf sieben Jahre herabsetzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Über die gegen dieses Erkenntnis fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
7 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG, wie in der Revision der Sache nach aufgezeigt wird, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG die Aufenthaltsverfestigung des Revisionswerbers nicht ausreichend berücksichtigt und von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
8 Das BVwG hätte nämlich, wie die Revision zutreffend aufzeigt, im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG berücksichtigen müssen, dass der Revisionswerber in Österreich von klein auf aufgewachsen ist und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen war, weshalb der ehemalige Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt ist.
9 Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu des Näheren etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, mit dem Hinweis auch auf einschlägige Judikatur des EGMR, und daran anschließend etwa jüngst VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0296, Rn. 13, mwN).
10 Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage überhaupt nicht befasst. Das ist zwar bei Begehung des Verbrechens des Suchtgifthandels samt einschlägiger wiederholter Rückfälle in Bezug auf Vergehen nach dem SMG nicht auszuschließen, hätte aber eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, der durch die aus der Gewöhnung des Revisionswerbers an Suchtmittel resultierende Beschaffungskriminalität gekennzeichnet ist, erfordert. Diese Prüfung wird daher vom BVwG unter Berücksichtigung, dass die ersten Verurteilungen wegen Jugendstraftaten bzw. Straftaten als junger Erwachsener erfolgten und zum Teil schon mehr als zehn Jahre zurückliegen sowie unter Einbeziehung des Umstands, dass in Bezug auf die letzte strafgerichtliche Verurteilung ein Strafaufschub nach § 39 SMG gewährt wurde, im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein (vgl. idS erneut VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0296, nunmehr Rn. 14/15).
11 Zudem kommt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann worauf sich das BVwG stützte nach § 21 Abs. 7 BFA VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. aus der ständigen Judikatur etwa VwGH 26.7.2022, Ra 2021/21/0358, Rn. 13, mwN).
12 Von einem solchen eindeutigen Fall durfte wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird schon im Hinblick auf den seit der Geburt in Österreich insgesamt 40 Jahre andauernden rechtmäßigen Aufenthalt des Revisionswerbers und seinen Kontakten zu den hier lebenden Angehörigen, insbesondere seinen Eltern, mit denen er bis zum Beginn der stationären Therapie im gemeinsamen Haushalt lebte und von denen er finanziell unterstützt wird, nicht ausgegangen werden. Darüber hinaus verfügt der Revisionswerber über eine auch vom BVwG als schützenswert erkannte familiäre Beziehung zu seinem minderjährigen, wenngleich bei einer Pflegefamilie lebenden Sohn. Vor diesem Hintergrund hätte eine tragfähige Interessenabwägung jedenfalls auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber unter Einbeziehung der (vorläufigen) Ergebnisse der Suchtgiftentwöhnungstherapie im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vorausgesetzt, zumal wie erwähnt im vorliegenden Fall überdies der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG idF vor dem FrÄG 2018 verwirklicht ist (vgl. zur Notwendigkeit einer Beschwerdeverhandlung für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, etwa VwGH 26.7.2022, Ra 2021/21/0358, Rn. 16, und daran anschließend VwGH 30.11.2023, Ra 2022/21/0133, Rn. 22, mwN).
13 Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den genannten Gründen, vorrangig jedoch wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG, aufzuheben.
14 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. November 2023
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