Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Dezember 2020, Zl. W191 2212499 1/22E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A K in W), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A) II. und III., wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 17. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. Dezember 2018 wurde der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).
3 Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29. März 2019 wurde der Mitbeteiligte wegen des teilweise versuchten Vergehens nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2a SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
4 Die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.) und gab der Beschwerde im Übrigen statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr (Spruchpunkt A) III.) und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B)).
5 Begründend führte das BVwG zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen aus, dem Mitbeteiligten drohe bei einer Rückkehr nach Kabul eine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte sowie sei eine innerstaatliche Fluchtalternative aufgrund seiner persönlichen Umstände nicht zumutbar. Der Mitbeteiligte leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie an einer psychischen Störung ausgelöst durch ein Abhängigkeitssyndrom. Er habe weder in Mazar e Sharif noch in Herat gelebt, verfüge über keine hinreichenden sozialen Anknüpfungspunkte und gehöre einer vulnerablen Personengruppe an.
6 Gegen den Ausspruch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen sowie die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) II. und III. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
7 Sie bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte abgewichen. Es sei nicht klar, aufgrund welcher Umstände dem Mitbeteiligten eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen würde. Zudem sei das BVwG nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehalten, auf die Argumente des BFA einzugehen, wenn es von dessen Entscheidung abweichen wolle. Derartiges sei dem Erkenntnis ebenfalls nicht zu entnehmen.
8 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der außerordentlichen Amtsrevision beantragte.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 29.1.2021, Ra 2020/01/0422, mwN).
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 7.9.2020, Ra 2020/01/0273; 12.10.2020, Ra 2020/20/0001, jeweils mwN).
13 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.
14 In diesem Zusammenhang reicht nach der hg. Judikatur eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (zum Ganzen VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0255, Rn. 21ff, mwN).
15 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:
16 Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass der Mitbeteiligte an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie psychischen Verhaltensstörungen verursacht durch Cannabinoide mit Abhängigkeitssyndrom leide. Aufgrund der persönlichen Umstände des Mitbeteiligten (seine gesundheitliche Situation und der allfällige Therapiebedarf) sei ihm eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar.
17 Wie die Amtsrevision zutreffend aufzeigt, ist dem angefochtenen Erkenntnis keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme zu entnehmen, dass dem Mitbeteiligten im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe. Die diesbezüglichen Ausführungen beschränken sich auf die Feststellung, dass beim Mitbeteiligten eine über das Maß einer schwierigen Lebenssituation hinausgehende Gefahr vorläge, eine solche Behandlung zu erfahren. Daraus geht weder hervor, ob das BVwG die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf die allgemeine Versorgungs- oder Sicherheitslage stützte noch in welchen individuellen tatsächlichen Umständen des Einzelfalls es die Grundlage dafür erblickte.
18 Auch dass die psychische Erkrankung des Mitbeteiligten die Schwere und Intensität aufweise, die für ihn im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer möglichen Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte und zwar das reale Risiko wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt, bewirken könnte, ist nicht ersichtlich und hat das BVwG auch nicht dargetan (vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 7.9.2020, Ra 2020/01/0273; 23.9.2020, Ra 2020/01/0146, jeweils mwN unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili gegen Belgien , 41738/10). Mit dem bloßen Hinweis des BVwG, dass ein allfälliger Therapiebedarf noch zu klären sei, legt es nicht das reale Risiko einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte des Mitbeteiligten dar.
19 Im Übrigen ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach das Verwaltungsgericht, wenn es von einer Entscheidung des BFA abweichen will, gehalten ist, auf die beweiswürdigenden Argumente des BFA einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 15.5.2019, Ra 2019/01/0012, mwN).
20 Das angefochtene Erkenntnis war somit ausgehend von diesen Grundsätzen infolge eines wesentlichen Begründungsmangels sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A) II. als auch hinsichtlich des Spruchpunktes A.) III., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.) II. seine rechtliche Grundlage verliert (vgl. VwGH 5.11.2019, Ra 2018/01/0188), gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 4. Juni 2021
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