Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision von 1. Z P, 2. M P, 3. N P und 4. A P, alle vertreten durch Dr. Wolfgang Langeder, Rechtsanwalt in 1150 Wien, Stutterheimstraße 16 18, Stiege 2, Etage 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. September 2020, I414 2233048 1/8E, I414 2233046 1/8E, I414 2233047 1/9E und I414 2233045 1/9E, betreffend Abweisung von Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet. Sie sind die Eltern eines im Juli 2005 geborenen Sohnes, des Drittrevisionswerbers, und einer im November 2003 geborenen Tochter, der Viertrevisionswerberin. Alle sind serbische Staatsangehörige.
2 Der Erstrevisionswerber kam so die Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis erstmals im Jahr 1988 im Alter von elf Jahren nach Österreich und hielt sich in der Folge aufgrund von ihm (zuletzt) unbefristet erteilten Aufenthaltstiteln rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Wegen eines gegen ihn im Berufungsweg im Februar 2000 erlassenen, mit zehn Jahren befristeten Aufenthaltsverbotes wurde er im April 2000 nach Serbien abgeschoben. Dieses Aufenthaltsverbot wurde über Antrag des Erstrevisionswerbers Ende Dezember 2005 wieder aufgehoben. In der Folge kam er mit den beiden, damals vier und fünf Jahre alten Kindern im Jahr 2009 nach Österreich zurück. Seitdem leben sie gemeinsam mit der Mutter des Erstrevisionswerbers, die über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügt, in deren Wohnung in Wien. Erst im Juni 2011 beantragte der Erstrevisionswerber für sich die Erteilung eines Aufenthaltstitels; dieser Antrag wurde von der Niederlassungsbehörde im Jänner 2012 rechtskräftig zurückgewiesen. Im August 2016 stellte er sodann in der österreichischen Botschaft in Belgrad für den Drittrevisionswerber und die Viertrevisionswerberin Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln, die nach den Angaben des Erstrevisionswerbers abgewiesen wurden.
3 Die Zweitrevisionswerberin hielt sich von 2009 bis 2019 abwechselnd bei ihrer Mutter in Serbien und bei der Familie in Österreich auf, wobei sie die visumsfreie Zeit von 90 Tagen nie überschritt. Seit 19. November 2019 befindet sie sich durchgehend in Österreich. Sie erwartete das dritte gemeinsame Kind mit voraussichtlichem Geburtstermin am 24. November 2020. Der Drittrevisionswerber besuchte in Österreich die Volks und Mittelschule. Für das Schuljahr 2020/2021 wurde er in den ersten Jahrgang einer Höheren Technischen Bundeslehranstalt aufgenommen. Auch die Viertrevisionswerberin absolvierte hier die Volks und Mittelschule und anschließend im Schuljahr 2019/2020 den ersten Jahrgang einer Höheren Bundeslehranstalt für Mode und wirtschaftliche Berufe mit ausgezeichnetem Erfolg. Nunmehr befindet sie sich im zweiten Jahrgang.
4 Nachdem im Zuge einer Kontrolle Ende August 2019 der Aufenthalt der Revisionswerber in Österreich festgestellt worden war, leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung ein. Im Rahmen dazu erstatteter Stellungnahmen vom 10. September 2019, in denen vor allem auf das bisher erreichte Maß an Integration verwiesen wurde, beantragten die Revisionswerber die Erteilung von „Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK“ gemäß § 55 AsylG 2005. Am 19. November 2019 stellten sie unter Verwendung des dafür vorgesehenen Formulars noch einmal solche, nunmehr ergänzend begründete Anträge.
5 Diese Anträge wies das BFA mit im Wesentlichen inhaltsgleich begründeten Bescheiden vom 8. Juni 2020 ab (Spruchpunkt I.). Unter einem erließ es gegen die Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.) und es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass „Ihre Abschiebung nach“ (evident gemeint: nach Serbien) zulässig sei (Spruchpunkt III.). Für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen eingeräumt (Spruchpunkt IV.).
6 Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 4. September 2020 mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 10. September 2020 mit der Maßgabe ab, dass die mit Spruchpunkt IV. festgelegte Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen, jedoch jedenfalls bis acht Wochen ab dem Zeitpunkt der Geburt des Kindes der Zweitrevisionswerberin betrage. Außerdem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet erwogen hat:
8 Die Revision erweist sich wie in ihrer Zulässigkeitsbegründung (unter anderem) zutreffend aufgezeigt und nachstehend näher ausgeführt wird deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG in Bezug auf die Interessenabwägung nach § 9 BFA VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.
9 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dasselbe gilt für die Beurteilung, ob der durch eine Rückkehrentscheidung bewirkte Eingriff in das Privat und Familienleben verhältnismäßig ist (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, Rn 12, mwN).
10 Das BVwG stellte über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus zur Integration der Revisionswerber in Österreich fest, der bis 2016 allerdings ohne entsprechende Bewilligung erwerbstätige Erstrevisionswerber verfüge für den Fall des Verbleibs in Österreich über einen (insoweit) aufschiebend bedingten Arbeitsvertrag. Er spreche so wie auch die Zweitrevisionswerberin Serbisch auf „Muttersprachniveau“ und „qualifiziert“ Deutsch. Derartige besondere Deutschkenntnisse wurden auch den Kindern attestiert, die überdies Serbisch verstehen würden. Die Zweitrevisionswerberin, die in Österreich nie erwerbstätig gewesen sei, spreche „sinnerfassend“ Deutsch. In Bezug auf die anderen Revisionswerber stellte das BVwG noch fest, sie seien „integrativ verfestigt“, was sich so das BVwG bei der diesbezüglichen Beweiswürdigung schon aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich ergebe. Zur an (ernsten) Krankheiten leidenden, aber nicht pflegebedürftigen Mutter des Erstrevisionswerbers, von der die Revisionswerber auch finanziell unterstützt würden, bestehe ein „vertieftes familiäres Verhältnis“. Die Revisionswerber seien strafgerichtlich unbescholten.
11 Vor diesem Hintergrund gestand das BVwG den Revisionswerbern zu, in Österreich jedenfalls über ein maßgebliches Familienleben, sowohl zueinander als auch zur Mutter des Erstrevisionswerbers, zu verfügen. Zudem sei durch den langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet auch das Privatleben der Revisionswerber wesentlich ausgeprägt. Im Hinblick auf die lange Dauer des Aufenthaltes von rund elf Jahren sei jedoch herauszustreichen, dass dieser über die gesamte Dauer (bzw. im Falle der Zweitrevisionswerberin seit November 2019) unrechtmäßig gewesen sei und sie sich dieser Unrechtmäßigkeit auch bewusst gewesen seien, sodass das in diesem Zeitraum entstandene Privatleben deshalb im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG deutlich an Gewicht verliere. Auch wenn dieser Umstand bei den Kindern nicht die gleiche Bedeutung habe, so müsse er doch auch auf sie durchschlagen. Überdies sei relativierend festzuhalten, dass die Revisionswerber für den Zeitraum ihres Aufenthalts „zwar gewisse“, aber keine „außergewöhnlichen“ Integrationsleistungen erbracht hätten.
12 Dem BVwG ist einzuräumen, dass bei der Interessenabwägung den angesprochenen Aspekten einerseits nach der Z 1 des § 9 Abs. 2 FPG („die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war“) und nach der Z 8 der genannten Bestimmung („die Frage, ob das Privat und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) durchaus Bedeutung zukommen kann. Allerdings hat das schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unrechtmäßigen oder unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Daran knüpft die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa das schon genannte Erkenntnis VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, nunmehr Rn 14, mwN).
13 Besondere Umstände, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland im vorliegenden Fall relativieren könnten und die trotz des mehr als elfjährigen Aufenthalts des Erst und des Drittrevisionswerbers sowie der Viertrevisionswerberin eine Aufenthaltsbeendigung noch gerechtfertigt erscheinen ließen (siehe dazu die beispielshafte Aufzählung unter Rn. 13 in VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005), liegen nicht vor. Insbesondere wurde vom BVwG nicht festgestellt, der Erstrevisionswerber habe aktiv fremdenrechtlich verpönte Handlungen zur Aufenthaltsverlängerung gesetzt; vielmehr unternahm er wenn auch verspätet doch Versuche zur Legalisierung des Aufenthalts.
14 Die somit im vorliegenden Fall anwendbare, in Rn. 12 dargestellte Rechtsprechungslinie ließ das BVwG wie in der Revision zutreffend bemängelt wird bei der Beurteilung des vorliegenden Falles außer Acht, sodass es zu Unrecht auf das Vorliegen von „außergewöhnlichen Integrationsleistungen“ abstellte; das wird von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt jedoch nicht gefordert (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12 iVm Rn. 9, und darauf Bezug nehmend etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0132, Rn. 10; siehe zu einem elfjährigen Aufenthalt auch VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253, Rn. 12 iVm Rn. 10). Danach wäre vielmehr eine Aufenthaltsbeendigung in Bezug auf den Erst und den Drittrevisionswerber sowie die Viertrevisionswerberin nach ihrem elfjährigen durchgehenden Aufenthalt nur dann als dringend geboten anzusehen, wenn sie die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hätten, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Davon kann hinsichtlich der genannten Revisionswerber keine Rede sein. Schon deshalb erweist sich das angefochtene Erkenntnis als rechtswidrig.
15 Im vorliegenden Fall kommen aber auch noch weitere gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechende Umstände hinzu. So gestand das BVwG beiden Kindern (an anderer Stelle seines Erkenntnisses) ausdrücklich zu, dass sie „gute schulische Leistungen“ erbracht hätten und „bestens integriert“ seien. Überdies hätte unter dem vom BVwG im Ergebnis nur unzureichend einbezogenen Kriterium des Kindeswohls (siehe zu den insoweit maßgeblichen Kriterien etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, Rn. 18, mwN) auch noch berücksichtigt werden müssen, dass die Kinder in sehr jungem Alter einreisten und die gesamte bisherige Schullaufbahn in der Dauer von mehr als acht bzw. neun Jahren in Österreich absolvierten. Angesichts dessen tritt entgegen der Meinung des BVwG die anfängliche Sozialisation im Herkunftsstaat jedenfalls in den Hintergrund.
16 Auch beim Erstrevisionswerber ging das BVwG sogar von einer „verfestigten Integration“ aus, wobei die hierfür als maßgeblich erachtete Aufenthaltsdauer nicht nur den Zeitraum seit 2009 umfasst, sondern auch die Zeit der Entwicklung als Kind und Jugendlicher in Österreich von 1988 bis 2000. Darüber hinaus verfügt er für den Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels über einen Arbeitsvertrag, dem bei der auch gebotenen zukunftsorientierten Betrachtung in Bezug auf die Selbsterhaltungsfähigkeit Bedeutung zukommt (vgl. zu diesem Gesichtspunkt etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 16, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0159, Rn. 14).
17 Aus all diesen Gründen hätte das BVwG somit insgesamt zu dem Ergebnis kommen müssen, dass dem Erst und dem Drittrevisionswerber sowie der Viertrevisionswerberin der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen und keine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen wäre; die gegenteilige Auffassung war nicht vertretbar. Das schlägt aber auch auf die Zweitrevisionswerberin (und das nunmehr geborene, nicht verfahrensgegenständliche Kind) durch, weil eine Trennung von den übrigen Familienangehörigen nicht gerechtfertigt wäre.
18 Demnach ist das angefochtene Erkenntnis, soweit es die vom BFA vorgenommene Abweisung der Anträge der Revisionswerber auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005 und die erlassenen Rückkehrentscheidungen bestätigte, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, wobei die Aufhebung auch die auf die Erlassung der Rückkehrentscheidungen aufbauenden Absprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und nach § 55 FPG zu erfassen hat.
19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH AufwErsV 2014.
Wien, am 5. März 2021
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