Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des S G R, vertreten durch Dr. Markus Andréewitch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stallburggasse 4, gegen das am 28. Jänner 2020 mündlich verkündete und mit 27. Februar 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L508 1316743 4/28E, betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Zur Vorgeschichte des gegenständlichen Falles, der einen seit März 2007 durchgehend in Österreich aufhältigen pakistanischen Staatsangehörigen betrifft, wird zunächst auf das im ersten Rechtsgang ergangene Erkenntnis VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100 (=Vorerkenntnis), verwiesen. Mit dieser Entscheidung hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 11. März 2019 betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan und Erlassung eines zweijährigen Einreiseverbotes wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf, weil die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG auf einer nicht ausreichenden Tatsachengrundlage beruht hatte und zudem die Verhandlungspflicht verletzt worden war. Soweit sich die Revision gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 und gegen den Ausspruch nach § 13 Abs. 2 AsylG 2005 gerichtet hatte, wurde sie zurückgewiesen.
2 Mit dem nach Durchführung einer Verhandlung am 28. Jänner 2020 mündlich verkündeten und mit 27. Februar 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde in den verbliebenen Spruchpunkten neuerlich als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
3 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
4 Die Revision, die sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung wendet, erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - aus den nachstehend angeführten Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
5 Es ist unstrittig, dass sich der Revisionswerber seit März 2007 und somit bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses Ende Jänner 2020 fast dreizehn Jahre ohne Unterbrechung im Bundesgebiet aufhält.
6 Nach mittlerweile gefestigter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, auf die bereits im Vorerkenntnis in Rn. 9 hingewiesen worden war, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2019/21/0353, Rn. 11, mwN).
7 Wie bereits im ersten Rechtsgang zum Ausdruck gebracht (siehe im Vorerkenntnis unter Rn. 13/14) ist aufgrund der Tätigkeit als Zeitungszusteller von einer (ersten) beruflichen Integration des Revisionswerbers im Bundesgebiet auszugehen. Darüber hinaus hat des BVwG nunmehr ausdrücklich festgestellt, dass der Revisionswerber aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit selbsterhaltungsfähig ist.
8 Es ist daher, wie schon im ersten Rechtsgang gemäß § 63 Abs. 1 VwGG in bindender Weise dargelegt, von der Anwendbarkeit der in Rn. 6 dargestellten Judikaturlinie im vorliegenden Fall auszugehen, weil nicht gesagt werden kann, der Revisionswerber habe sich während seines Aufenthalts in Österreich überhaupt nicht integriert.
9 Das BVwG hat somit im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG zu Unrecht darauf abgestellt, dass keine „umfassende und fortgeschrittene“ (Erkenntnis S. 15) bzw. keine „nachhaltige und außergewöhnliche“ (Erkenntnis S. 108) Integration des Revisionswerbers vorliege; das wird von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt nämlich nicht gefordert (vgl. etwa VwGH 5.3.2021, Ra 2020/21/0428 bis 0431, Rn. 14, mwN).
10 Relativierend bezog das BVwG zwar strafrechtliche Verurteilungen des Revisionswerbers vom 9. Dezember 2015 und vom 2. November 2016 mit ein. Dazu hat jedoch der Verwaltungsgerichtshof im Vorerkenntnis (unter Rn. 16) bereits ausgeführt, dass diese Verfehlungen des Revisionswerbers jedenfalls ohne nähere Feststellungen zu den Straftaten, die vom BVwG auch im fortgesetzten Verfahren nicht getroffen wurden schon angesichts der hierfür insgesamt verhängten, bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von nur einem Monat nicht maßgeblich ins Gewicht fallen.
11 Bei dem zur Relativierung der Aufenthaltsdauer weiters noch herangezogenen Argument des BVwG, der Revisionswerber habe ohne entsprechende Bewilligung Beschäftigungen ausgeübt, wird aber außer Acht gelassen, dass insoweit nicht nur eine vergangenheitsbezogene, sondern in Bezug auf den gegebenenfalls zu erteilenden Aufenthaltstitel in erster Linie eine zukunftsorientierte Betrachtung anzustellen gewesen wäre (vgl. etwa VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0062, Rn. 36, mwN). Auch darauf wurde bereits im Vorerkenntnis in Rn. 18 unter Bezugnahme auf VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135, Rn. 30, hingewiesen.
12 In Bezug auf die zweimalige Asylantragstellung (vgl. dazu schon Rn. 20 des Vorerkenntnisses) hat sich auch im zweiten Rechtsgang nicht ergeben, dass die Antragstellung missbräuchlich erfolgt wäre.
13 Auch dem vom BVwG mehrfach betonten Aspekt, dass der Revisionswerber seiner Ausreiseverpflichtung nach Beendigung seiner Asylverfahren nicht nachgekommen ist, kommt für sich genommen noch kein entscheidungswesentliches Gewicht zu, weil die in Rn. 6 dargestellte Rechtsprechungslinie typischerweise Personen betrifft, die einen mehr als zehnjährigen inländischen und zuletzt jedenfalls unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen, wobei es das BFA der Aktenlage zufolge im Übrigen unterließ, von sich aus Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthaltes des Revisionswerbers zu setzen (vgl. VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0241, 0242, Rn. 12, mwN).
14 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
15 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 17. November 2022
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