Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des A R, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. März 2019, W272 2172691 1/12E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 13. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe sich einer Gruppierung mit der Bezeichnung „Jamat tul Tablik“ („Tabligh i Jamaat“) angeschlossen. Wegen ihren radikalen (insbesondere religiösen) Ansichten habe er sich von dieser Gruppierung wieder abgewandt und andere vor ihr gewarnt, weswegen bewaffnete Leute ihn gesucht und beabsichtigt hätten, ihn zu entführen. Bei einer Rückkehr drohe ihm Verfolgung durch diese Gruppierung.
2 Mit Bescheid vom 14. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG soweit hier maßgeblich aus, der Revisionswerber habe eine Verfolgung durch die Gruppierung „Tabligh i Jamaat“ nicht glaubhaft machen können. Auch stehe dem aus der Stadt Herat stammenden Revisionswerber alternativ eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar e Sharif offen, wo er von dieser Gruppierung oder den Taliban nicht verfolgt würde. Ebenso wenig sei der Revisionswerber von seinem islamischen Glauben abgefallen oder habe er eine „westliche“ Lebenseinstellung übernommen, die ihn bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat der Gefahr einer Verfolgung aussetzen würde.
5 Mit Beschluss vom 27. September 2019, E 3417/2019 5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Behandlung der Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG sei zwar davon ausgegangen, dass der Revisionswerber seinen islamischen Glauben nicht abgelegt habe, habe aber nicht geprüft, ob er sich von den in Afghanistan herrschenden politischen und religiösen Normen abgewandt habe, was eine asylrelevante Verfolgung begründen könne.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem von der Revision zitierten hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2018, Ra 2017/18/0301, zur Verfolgung (von Asylwerberinnen) auf Grund eines „westlich“ orientierten Lebensstils bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat auszugsweise Folgendes ausgeführt (Rn. 8 und 13):
„Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten ‚westlich‘ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen).
[…]
Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. (...) Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388).“
11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0712, mwN).
12 Das BVwG ging nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es den Revisionswerber ausführlich zu seinem Fluchtvorbringen und seinem Leben in Österreich befragte, beweiswürdigend auf Grund des in der Verhandlung vom Revisionswerber gewonnenen Eindrucks und der Dauer seines Aufenthalts in Österreich davon aus, dass dieser eine „westliche“ Lebenseinstellung nicht in einem Maß übernommen habe, welches ihn in Afghanistan exponieren würde. Dabei berücksichtigte es auch, dass der Revisionswerber im Verfahren einen Abfall vom Islam nicht behauptet habe bzw. einen solchen nicht glaubhaft habe darlegen können, und führte aus, dass das Trinken von Alkohol und das Essen von Schweinefleisch sowie der Umstand, dass der Revisionswerber eine Freundin habe, nicht ausreiche, um von einer asylrelevanten Verfolgung auszugehen.
13 Die Revision legt nicht dar, dass diese Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar wäre oder dass das BVwG bei der rechtlichen Beurteilung von den Leitlinien der zitierten Rechtsprechung abgewichen wäre.
14 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit weiter vor, das BVwG habe die Indizwirkung der UNHCR Richtlinien [zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender] vom 30. August 2018 nicht hinreichend berücksichtigt, aus welchen sich ergebe, dass der Revisionswerber auf Grund seiner behaupteten Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen und als Rückkehrer unter dort genannte Risikoprofile falle. Auch habe das BVwG zu der ihn verfolgenden islamistischen Gruppierung keine aktuellen Länderinformationen herangezogen, die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Revisionswerbers nicht vor dem Hintergrund der einschlägigen Berichtslage beurteilt und nicht begründet, warum es „entgegen der die gegenteilige Ansicht indizierenden UNHCR-Richtlinien“ davon ausgehe, dass der Revisionswerber von dieser Gruppierung nicht verfolgt werde.
15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben sich die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Dies gilt auch für die genannten UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533).
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, aufzuzeigen. Dies setzt voraus, dass auf das Wesentliche zusammengefasst jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 10.3.2021, Ra 2021/19/0060, mwN).
17 Das BVwG traf Feststellungen zur Sicherheitslage in Afghanistan und auch zur Gruppierung „Tabligh i Jamaat“, aus denen sich u.a. ergibt, dass diese keine terroristische Organisation sei und keine Gewalt einsetze. Jedoch wiesen einige islamistische Terroristen auch Kontakte zu dieser Gruppierung und ihrem Umfeld auf. Obwohl die Gruppierung an sich friedlich agiere, ziehe sie durch ihre fundamentalistische Glaubensauffassung zum Teil auch radikalere Personen an, wodurch die Gefahr bestehe, dass in Einzelfällen Personen aus dieser Gruppierung und ihrem Umfeld in Kontakt zu terroristischen Strukturen kommen könnten.
18 Die Revision bezieht sich auf verschiedene Länderberichte zu dieser Gruppierung, aus denen sich ergebe, dass diese eine sehr strenge Auslegung des Islams vertrete und regelmäßig in Verbindung mit terroristischen Gruppierungen gebracht werde und stehe, weltweit operiere und Terroristen rekrutiere. Mit dem Hinweis auf diese Länderberichte, die sich hauptsächlich mit dem Wirken der genannten Gruppierung außerhalb Afghanistans befassen, legt die Revision nicht dar, zu welchen anderen für den Revisionsfall maßgeblichen Feststellungen das BVwG hätte kommen sollen. Ebenso wenig legt die Revision mit dem bloß allgemeinen Hinweis auf „entsprechende Passagen“ der genannten UNHCR Richtlinien, „welche sich mit der Situation des Revisionswerbers befassen“, die Relevanz des insoweit behaupteten Verfahrensmangels dar.
19 Das BVwG ging davon aus, dass die behauptete Verfolgung und Bedrohung des Revisionswerbers durch die Gruppierung „Tabligh i Jamaat“ in Afghanistan nicht glaubwürdig sei. Es berücksichtigte auch, dass die behaupteten Vorfälle schon längere Zeit zurückliegen würden und zog daraus die rechtliche Schlussfolgerung, dass der Revisionswerber bei einer Rückkehr nicht verfolgt würde. Die Revision legt nicht dar, dass diese Beurteilung fallbezogen unvertretbar wäre.
20 Im Übrigen ging das BVwG davon aus, dass dem Revisionswerber in der Stadt Mazar e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Da der Revisionswerber nicht überregional bekannt sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass Mitglieder dieser Gruppierung ihn an anderen Orten Afghanistans wie etwa Mazar e Sharif suchen und verfolgen würden. Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen diese für sich tragende Alternativbegründung nicht (vgl. zur Unzulässigkeit einer Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung etwa VwGH 25.2.2019, Ra 2019/20/0059, mwN).
21 Die Revision behauptet schließlich, das BVwG habe gegen die Begründungspflicht verstoßen und Ermittlungen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts unterlassen. Mit diesem bloß allgemein gehaltenen, nicht auf das angefochtene Erkenntnis konkret Bezug nehmenden Vorbringen legt die Revision nicht dar, dass das angefochtene Erkenntnis an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit leiden würde.
22 Zuletzt wendet sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die Rückkehrentscheidung und bringt vor, das BVwG habe nicht auf alle Umstände des Einzelfalles Bedacht genommen.
23 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn kein revisibler Verfahrensmangel vorliegt und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010).
24 Das BVwG berücksichtigte bei seiner Interessenabwägung auch die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Aspekte, wie dessen Deutschkenntnisse, seinen Integrationswillen und eine österreichische Freundin, und stellte diesen insbesondere gegenüber, dass der Revisionswerber nicht selbsterhaltungsfähig sei und sich erst drei Jahre und fünf Monate im Bundesgebiet aufhalte. Die Revision legt nicht dar, dass diese Interessenabwägung selbst unter Einbeziehung der vom Revisionswerber im Verfahren vorgelegten Unterstützungsschreiben fallbezogen unvertretbar wäre.
25 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher schon aus diesem Grund zurückzuweisen, ohne dass auf die Frage einzugehen war, ob der Revisionswerber durch die mit hg. Beschluss vom 25. September 2019, Ra 2019/19/0199, wegen Versäumung der Einbringungsfrist zurückgewiesene Revision sein Revisionsrecht bereits verbraucht hatte.
Wien, am 30. März 2021