Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichtes Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richterin Mag. Derbolav-Arztmann und den Richter Dr. Nowak sowie die fachkundigen Laienrichterinnen DI Beate Ebersdorfer und MinR Mag. Angela Weilguny in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Brandstätter Scherbaum Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Stadt B* , **, vertreten durch Fellner Wratzfeld Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses (Streitwert: EUR 60.000,00), über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 15.01.2024, ***, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
I. Der Berufung wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahingehend abgeändert, dass es lautet:
„1. Es wird festgestellt, dass das Dienstverhältnis zwischen den Streitteilen über den 31.03.2023 hinaus aufrecht besteht.
2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 11.684,84 (darin enthalten EUR 1.947,47 an USt und EUR 18,77 an Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
II. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 3.750,72 (darin enthalten EUR 625,12 an USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
III. Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war seit 02.05.2001 als D*fahrer zunächst bei der C* GmbH Co KG und mit Wirksamkeit vom 01.02.2005 bei der Beklagten als Vertragsbediensteter nach der ** Vertragsbedienstetenordnung 1995 (VBO 1995) beschäftigt und seither der C* GmbH Co KG zur weiteren Dienstleistung zugewiesen.
Die Beklagte kündigte das Dienstverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 11.10.2022 zum 31.03.2023 unter Hinweis auf § 42 Abs 2 Z 1 und 5 VBO 1995.
Der Kläger begehrte die Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses, weil er keine Kündigungsgründe gesetzt habe.
Die Beklagte wendete ein, der Kläger habe durch sein Verhalten die Kündigungsgründe nach § 42 Abs 2 Z 1 und 5 VBO 1995 verwirklicht, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger zweimal ermahnt und einmal verwarnt worden sei.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren auf Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses über den 31.03.2023 hinaus ab und traf die aus den Urteilsseiten 3 bis 8 ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen und aus denen im Besonderen hervorgehoben wird:
Der Kläger war als D*fahrer auf der Linie ** eingeteilt. Die Linie ** ist eine stark frequentierte Linie mit einer dichten Zugfolge, wodurch die Fahrer*innen hohem Stress ausgesetzt sind.
Die Betriebsvorschrift der C* idF 16.10.2019 (in der Folge: „BetrV“) gilt nach deren § 1 Abs 1 für alle im Betriebsdienst eingesetzten Mitarbeiter.
§ 58 Abs 1 BetrV lautet: „Die planmäßigen Fahrzeiten sind nach Möglichkeit einzuhalten. Eigenmächtiges zu frühes Abfahren von den Anfangshaltestellen ist verboten. Sicherheit geht vor Fahrplaneinhaltung“.
§ 74 Abs 1 BetrV lautet: „Erkrankt ein Fahrgast oder ist einer Person außerhalb des Zuges ein Unfall zugestoßen, ist Hilfe zu leisten. Nötigenfalls ist über die jeweilige Leitstelle Hilfe anzufordern.“
Diese Vorschrift gilt für den gesamten D*-Bereich, zu dem laut Definition die Station bis zum Stationsnamen beim Eingang gehört. Der Kläger kannte diese Betriebsvorschrift und wurde dazu auch geschult.
Mitarbeiter*innen der C* werden bei Dienstantritt in lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Ort des Verkehrsunfalls unterwiesen, diese Schulung durch das E* hat auch der Kläger absolviert.
Der Kläger wurde im Rahmen des „Ausbildungsprogramms für Wiederholungsschule **“ von 2014 bis 2019 jährlich ua zum Thema „Sicherheit“ geschult, im Oktober 2019 absolvierte er eine Schulung zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis und im Jänner 2021 eine Nachschulung, und zwar wurde der Kläger insbesondere zu den Pflichten des Fahrzeugführers und zum Verhalten gegenüber Fahrgästen unterwiesen. In den D*-Stationen der C* kommt es immer wieder vor, dass Leute „herumliegen“ und es sich (vermeintlich) „gemütlich“ machen.
Die Mitarbeiter der C* sind angewiesen, wenn sie derartiges bemerken, Umsicht zu halten und zu schauen, (ob) was gebraucht wird. Ist das jemand, der nur schläft, dann wird er aufgeweckt und weggeschickt, braucht jemand Erste Hilfe, wird Erste Hilfe geleistet. Jedenfalls darf der betroffene Fahrgast nicht alleine bleiben, und es muss immer auch die Leitstelle unverzüglich verständigt werden, die dann über das weitere Vorgehen entscheidet.
Am 19.04.2022 war der Kläger von 16:02 Uhr bis 0:48 Uhr zum Fahrdienst auf der ** eingeteilt. Um 18:59 Uhr fertigte der Kläger nach erfolgtem Fahrgastwechsel in der Station F* in Richtung G* seinen D*-Zug ab und schloss die Türen. Vom Bahnsteig aus informierte ihn ein Fahrgast darüber, dass eine „betrunkene Person“ „oben bei der Stiege“ „liegen“ sollte. Der Kläger sagte zum Meldungsleger, er werde sich darum kümmern und dachte sich, es müsse genügen, wenn er über Funk die Leitstelle darüber informiert. Der Kläger wusste, wie richtig vorzugehen wäre, wenn er von einer Verletzung eines Fahrgastes erfährt, nämlich, dass er in diesem Fall die Fahrgäste informieren, das Fahrzeug abstellen, die Leitstelle informieren und zum Verletzten gehen und dort bleiben müsste.
Obwohl der Kläger die bei der Stiege liegende Person von der Fahrerkabine aus nicht sehen konnte und somit auch nicht wissen konnte, ob diese Person verletzt war, fuhr der Kläger mit dem schon abgefertigten Zug los, zumal das Signal bereits auf „grün“ stand. Erst bei der Einfahrt in die nächste Station (H* - die von der F* eine Fahrminute entfernt [lt K*] ist) meldete der Kläger der Leitstelle, dass laut einem männlichen Fahrgast „bei der festen Stiege der Station F* ein Fahrgast auf dem Boden liege“.
Die Leitstelle verständigte um 19:00 Uhr das mobile Servicepersonal, damit diese vor Ort in der Station F* Nachschau halten sollte. Um 19.01 Uhr wurde vom Zeugen I* in der Leitstelle über eine Kamera festgestellt, dass tatsächlich ein Fahrgast auf der Fahrtreppe auf dem Weg nach oben lag und bereits Fahrgäste zu Hilfe kamen. Zwei Minuten später war über die Kamera zu sehen, dass die Person verletzt zu sein schien und nun bei der Fahrttreppe oben am Boden lag. Am oberen Ende der aufwärtsführenden Rolltreppe, also innerhalb des Stationsgebäudes, fand der um 19:06 Uhr eintreffende Stationswart J* den verletzten Fahrgast, der am Boden lag, eine blutende Wunde an der Stirn hatte und zwar ansprechbar war, aber nicht selbst aufstehen konnte. Um 19:09 Uhr traf die von der Leitstelle (und einem Fahrgast, der beim Verletzen gewartet hatte) verständigte Rettung ein und nahm den Verletzten mit ins Spital. Um 19:10 Uhr wurde der Kläger von der Leitstelle kontaktiert und gefragt, warum er nicht nachgeschaut hätte. Der Kläger gestand zu, dass er gewusst habe, dass es eine Pflicht zur ersten Hilfe gebe, nicht aber, dass er dort hinschauen und das sofort melden hätte müsse.
Im Jahr 2017 war der Kläger ermahnt worden, weil er seinen D*-Zug in Bewegung gesetzt hatte, ohne auf die Signalstellung zu achten, im Dezember 2021, weil er eine Langsamfahrstelle mit überhöhter Geschwindigkeit durchfahren hatte.
Im Mai 2021 wurde er verwarnt, weil er während des Fahrgastwechsels in der Station ** an seinem Mobiltelefon hantiert haben soll.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, der Kläger habe beide von der Beklagten herangezogenen Kündigungsgründe nach § 42 Abs 2 Z 1 und 5 VBO 1995 verwirklicht, weswegen die Kündigung zu Recht erfolgt sei.
Er habe die ihm übertragenen Dienstpflichten iSd § 42 Abs 2 Z 1 VBO 1995 gröblich verletzt. Sein Verhalten sei als gravierend zu bewerten, weil es für einen Fahrgast den Unterschied zwischen Leben und Tod darstellen könne. Ob ein vielleicht lebensbedrohlicher Notfall vorliege, der ein Einschreiten erfordere, könne nur entschieden werden, wenn persönlich Nachschau gehalten werde – weshalb die Betriebsordnung der C* genau dies vorsehe. Dies gelte auch bei der Versehung des Dienstes auf besonders herausfordernden D*-Linien wie der **.
Durch das Unterlassen der persönlichen Nachschau habe der Kläger am 19.04.2022 ein Verhalten gesetzt, das mit dem Ansehen des Dienstgebers/den Interessen des Dienstes unvereinbar sei, zumal ja die C* aus dem Beförderungsvertrag gegenüber ihren Fahrgästen eine Garantenstellung hätten.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahingehend abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde, in eventu , das Urteil aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die Berufung ist berechtigt .
In seiner ausschließlich erhobenen Rechtsrüge wendet sich der Berufungswerber gegen die Rechtsansicht des Erstgerichts, er habe die oben angeführten Kündigungsgründe verwirklicht.
1. Dazu war zu erwägen:
Nach § 42 Abs 2 Z 1 VBO 1995 liegt ein Grund, der die Gemeinde zur Kündigung berechtigt, insbesondere vor, wenn der Vertragsbedienstete seine Dienstpflichten gröblich verletzt, sofern nicht die Entlassung in Frage kommt. Eine gröbliche Verletzung von Dienstpflichten kann dann den Kündigungsgrund verwirklichen, wenn das beanstandete Verhalten des Dienstnehmers diesem vorwerfbar ist und über eine bloße Ordnungswidrigkeit hinausgeht (RS0105940; 9 ObA 75/12p). Die gröbliche Verletzung der Dienstpflichten muss auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruhen. Es ist daher nicht notwendig, dass der Dienstnehmer den betreffenden Kündigungstatbestand oder dessen Merkmale gekannt oder dass er gewusst hat, dass sein Verhalten mit Kündigung bedroht ist. Er muss aber wissen, dass er gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstößt (RS0114667).
Nach § 42 Abs 2 Z 5 VBO 1995 liegt ein Grund, der die Gemeinde zur Kündigung berechtigt, insbesondere vor, wenn sich erweist, dass das gegenwärtige oder frühere Verhalten des Vertragsbediensteten mit dem Ansehen oder den Interessen des Dienstes unvereinbarist, sofern nicht die Entlassung in Frage kommt. Das Verhalten des Arbeitnehmers ist danach zu beurteilen, ob es in seiner Gesamtheit unter Anlegung eines objektiven Maßstabes nach der Verkehrsauffassung mit dem Ansehen und den Interessen des Dienstes unvereinbar war. Dabei kann auch auf Verfehlungen zurückgegriffen werden, hinsichtlich derer der Dienstgeber zu einem früheren Zeitpunkt auf die Ausübung des Kündigungsrechtes und Entlassungsrechtes verzichtet hat (RS0081891).
1.1. Dem Erstgericht ist beizupflichten, dass sich ein D*-Fahrer bei Erhalt einer Meldung über einen Verletzten bzw Erkrankten im Stationsbereich insbesondere unverzüglich auf den Weg zum Verletzten zu machen und die Leitstelle über Funk darüber auf dem laufenden zu halten, beim Verletzten Nachschau zu halten, notwendige Erste Hilfe zu leisten und beim Verletzen zu warten hat, bis der Servicedienst oder die Rettung eintrifft (siehe Seiten 7 f der Urteilsausfertigung).
1.2. Im vorliegenden Fall erstattete ein Fahrgast dem Kläger die Meldung, dass eine betrunkene Person oben bei der Stiege liege; weitere Details nannte der Meldungsleger nicht.
Aus diesem Hinweis konnte der Kläger nicht ableiten,
dass eine Person verletzt oder erkrankt ist, sondern, dass „wieder einmal“ ein Betrunkener „herumliege“, was immer wieder in ** D*-Stationen vorkommt.
Die Anweisungen des Dienstgebers in Bezug auf verletzte oder erkrankte Personen kommt daher nicht zur Anwendung.
Dass sich nachträglich herausstellte, dass die „betrunkene Person“ verletzt war, ändert nichts daran, weil das Handeln des Klägers ex ante zu beurteilen ist.
1.3. Mitarbeiter der C* sind angewiesen, sollten sie „herumliegende“ Personen bemerken, Umsicht zu halten und zu schauen, (ob) was gebraucht wird.
Diese allgemein gehaltene Anweisung ist an alle Mitarbeiter der C* gerichtet; die Beurteilung der Frage, welche konkreten Handlungspflichten diese Anweisung für einen konkreten Mitarbeiter auslöst, hängt neben den Begleitumständen eines solchen „Bemerkens“ auch von der Berufsgruppe innerhalb der C* ab, der er angehört:
Beispielsweise betrifft diese Anweisung für einen Stationswart einen Kernbereich seiner Tätigkeit, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Gewährleistung der Sicherheit aller Fahrgäste, sodass beim Stationswart eine Meldung wie die vorliegende eine Pflicht zum unverzüglichen persönlichen Einschreiten auslösen würde.
Bei einem D*-Fahrer dagegen ist zu bedenken, dass dieser stets abzuwägen hat, ob er beim Bemerken von „herumliegenden“ (betrunkenen, unterstandslosen), anscheinend aber nicht verletzten Personen den Fahrbetrieb einzustellen und in eigener Person Umschau zu halten hat, oder ob es ausreicht, dass er Handlungen setzt, die zu einer Nachschau durch andere Bedienstete der C* führen.
1.4. Der Kläger verständigte nach etwa einer Minute nach dem Hinweis des Fahrgastes die Leitstelle über Funk über den Vorfall und handelte solcherart zwar nicht unverzüglich, aber zeitnah.
1.5. Der Kläger hat seine Dienstpflichten daher gerade noch nicht gröblich verletzt.
1.6. Das von der Beklagten monierte Verhalten des Klägers verwirklichte unter Berücksichtigung aller Umstände auch nicht den Kündigungsgrund des § 42 Abs 2 Z 5 VBO 1995:
Für den Meldungsleger war die nach Außen erkennbare Wirkung seiner Meldung die, dass sich der Kläger zeitnah um die Weiterleitung der Meldung kümmerte, sodass kurz darauf der Stationswart persönlich beim Verletzten anwesend war, drei Minuten danach die Rettung.
Bleibt anzumerken, dass die beiden festgestellten Ermahnungen und die festgestellte Verwarnung nicht einschlägig zum nun erhobenen Vorwurf sind.
2. Einen Kündigungsgrund hat der Kläger also nicht verwirklicht, weswegen der Berufung Folge und der Klage stattzugeben war.
3.Die durch die Abänderung des Ersturteils bedingte Neufassung der Kostenentscheidung des Verfahrens erster Instanz gründet sich auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 41 ZPO, weil der Kläger zur Gänze obsiegte.
Das Kostenverzeichnis des Klägers, gegen das die Beklagte keine Einwendungen erhoben hat, war gemäß § 54 Abs 1a ZPO der Kostenentscheidung zugrunde zu legen. Von Amts wegen wahrzunehmende Unrichtigkeiten enthielt es nicht.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrensgründet sich auf § 2 Abs 1 ASGG iVm §§ 41, 50 ZPO.
5.Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO abhing: Die Beurteilung, ob im Einzelfall ein Kündigungsgrund- oder Entlassungsgrund verwirklicht wurde, stellt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0106298).
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