Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Dr. Dieter Weiß und Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Hannes Schneiderbauer, MBA (Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Manfred Staufer (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, Pensionistin, **, **-Straße **, vertreten durch Dr. Robert Galler, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen , 1050 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch ihre Angestellte Mag. B*, Landesstelle **, wegen Pflegegeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. September 2025, Cgs*-16, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 10. Juni 2025 lehnte die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld ab dem Stichtag 1. Mai 2025 ab.
Diesen Bescheid bekämpfte die Klägerin mit der vorliegenden Klage und wies auf ihre gesundheitlichen Einschränkungen sowie die hohe finanzielle Belastung für die Beiziehung von Heimhilfen hin.
Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung und blieb bei ihrer Einschätzung eines Pflegebedarfs von 50 Stunden monatlich.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und traf dazu umfangreiche Feststellungen, die sich – reduziert auf das für die rechtliche Beurteilung Relevante und ergänzt um den in der rechtlichen Beurteilung disloziert festgestellten, von den Mindest- und Richtwerten abweichenden tatsächlichen Pflegebedarf – wie folgt zusammenfassen lassen:
Bei der Klägerin liegt eine eingeschränkte körperliche Belastbarkeit vor, weshalb sie keine weiten Stecken bewältigen und nichts Schweres tragen oder heben kann. Sie kann aber bis auf die Pediküre (1 Stunde) die Körperpflege selbst durchführen und sich bis auf Stützstrümpfe (10 Stunden) und feinmotorische Dinge (Knöpfe/Reißverschlüsse) selbst an/ausziehen. Der Klägerin ist das An- und Ausziehen von Kleidung möglich, die keine Knöpfe und Reißverschlüsse aufweist. Zur Zubereitung einer vollwertigen Mahlzeit ist sie mit Teilhilfe (10 Stunden) in der Lage. Einschränkungen bestehen an den Händen beim Schneiden/Schälen und ähnlichen Tätigkeiten. Sie ist mit Rollator und Anhalten mobil, frei stehen ist nicht möglich. Zu Stürzen ist es nicht gekommen und auch ein kognitives Defizit liegt nicht vor. Selbst kann die Klägerin die Einlagen wechseln und die Notdurft verrichten. Der gesamte Haushalt, wie etwa die Reinigung der Wohnung und der Wäsche, sowie alle auswärtigen Besorgungen, wie die Herbeischaffung der Nahrungsmittel und Medikamente, müssen übernommen werden. Der Pflegebedarf aus Betreuung und Hilfe beträgt 61 Stunden pro Monat ab dem Tag der Antragstellung.
In seiner rechtlichen Beurteilung gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, die Verwendung einfacher Hilfsmittel, wie das Tragen knopfloser Kleidung (Blusen mit weiten Ärmeln, Poloshirts, Pullover etc), sei der Klägerin zumutbar und könne im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht verlangt werden. Das Recht auf die Wahl des Aussehens werde dadurch nicht verletzt, sodass nur 10 Stunden für die Unterstützung beim An- und Ausziehen der Stützstrümpfe zu veranschlagen seien, nicht aber zusätzlich 5 Stunden für die Hilfe bei Knöpfen und Reißverschlüssen. Neben 10 Stunden für die Teilhilfe beim Kochen und 1 Stunde für die Pediküre seien viermal 10 Stunden für die Herbeischaffung der Nahrungsmittel und Medikamente, für die Reinigung der Wohnung und der Wäsche sowie für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zu berücksichtigen. Bei einem Pflegebedarf von insgesamt 61 Stunden stehe kein Pflegegeld zu.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung in eine Klagsstattgabe. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Beklagte strebt mit ihrer Berufungsbeantwortung die Bestätigung des Ersturteils an.
Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu erledigende Berufung ist nicht berechtigt .
1 Der einzige Streitpunkt im Berufungsverfahren ist die Berücksichtigung eines Pflegebedarfs von 5 Stunden für das An- und Ausziehen von Kleidung mit Knöpfen und Reißverschlüssen.
2.1Die Klägerin vermisst eine Begründung für das Abweichen vom Sachverständigengutachten und rügt dies als Verfahrensmangel gemäß § 496 Abs 1 Z 2 ZPO. Ein Richter müsse in überprüfbarer Form darlegen, warum er bestimmte Tatsachen als erwiesen annehme und andere nicht. Aufgrund der unzureichenden Beweiswürdigung sei es der Klägerin nicht möglich, eine vollständige Tatsachenrüge auszuführen.
2.2 Die medizinische Sachverständige hat für Knöpfe und Reißverschlüsse 5 Stunden veranschlagt, die das Erstgericht aus den von ihm dargestellten rechtlichen Überlegungen nicht anerkannt hat. Sind aber aus rechtlichen Gründen keine Feststellungen zu einem bestimmten Umstand zu treffen, bedarf es auch keiner Beweiswürdigung dazu.
Relevant ist, ob es der Klägerin (körperlich) möglich ist, ohne Hilfe Kleidung ohne Reißverschlüsse und Knöpfe an- und auszuziehen und das hat das Erstgericht auf Basis der mündlichen Gutachtenserörterung festgestellt (Urteil ON 16 S 5 iVm Protokoll ON 15.3 S 3).
3.1 In ihrer Beweisrüge bekämpft die Klägerin die Feststellung eines Pflegebedarfs von 61 Stunden und begehrt auf Basis des medizinischen Sachverständigengutachtens die Feststellung eines Pflegebedarfs von 66 Stunden. Das Abweichen vom Gutachten begründe das Erstgericht rechtsunrichtig mit der Zumutbarkeit des Tragens von Kleidung ohne Knöpfe und Reißverschlüsse. Für die Hilfe bei Stützstrümpfen, Knöpfen und Reißverschlüssen hätten zusammen 15 Stunden pro Monat angesetzt werden müssen, sodass sich insgesamt 66 Stunden ergäben.
3.2 Ein Sachverständiger hat unter Zuhilfenahme seiner besonderen Fachkunde für den Richter streiterhebliche Tatsachen festzustellen bzw mit Hilfe besonderer Erfahrungssätze aus feststehenden Tatsachen Schlussfolgerungen zu ziehen ( Schneider in Fasching/Konecny³Vor §§ 351 ff ZPO Rz 2 ff). Sachverständige dürfen Rechtsfragen nicht lösen und sollen sich aus einer Stellungnahme zu solchen Fragen heraushalten; sie sind nur zur Feststellung einzelner Tatbestandselemente berufen (RIS-Justiz RS0080464).
Es bleibt aber nicht nur die rechtliche Beurteilung Aufgabe des Gerichts, sondern auch die Beurteilung dessen, welche in einem Gutachten enthaltenen Tatsachen für die Subsumtion relevant sind. Wenn daher das Erstgericht rechtlich richtig – wie unter Punkt 4 noch darzulegen sein wird – die von der Sachverständigen für die Unterstützung beim An-und Ausziehen von Kleidung mit Knöpfen und Reißverschlüssen geschätzten 5 Stunden weder festgestellt noch beim Gesamtpflegebedarf berücksichtigt hat, ist das nicht zu beanstanden.
4.1 In der Rechtsrüge argumentiert die Klägerin mit einer menschenwürdigen Lebensführung und und ihrem Anspruch, eine der Witterung, dem Anlass und den sozialen Gepflogenheiten entsprechende Kleidung zu tragen. Sie dürfe nicht dauerhaft auf Kleidung mit Gummizügen und ohne Reißverschlüsse beschränkt werden, sondern dürfe auch Blusen mit Knöpfen, feinere Jacken mit Reißverschlüssen oder ein bestimmtes Kleidungsstück zu einem konkreten Anlass tragen. Die Klägerin müsse sich nicht aus Gründen der Praktikabilität zu Hause isolieren, sondern habe ein Recht auf ein gepflegtes Äußeres und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Outdoor-Jacken und Mäntel seien regelmäßig mit Knöpfen und Reißverschlüssen ausgestattet und auch festes Schuhwerk erfordere feinmotorische Fähigkeiten für Schnürsenkel oder Reißverschlüsse. Das soziale Umfeld und der bisherige Lebensstil seien für die Frage der Zumutbarkeit ebenso zu berücksichtigen wie die bestehende Garderobe.
Diese Argumente überzeugen nicht:
4.2Kein Betreuungsaufwand ist nach § 3 Abs 1 EinstV dann zu berücksichtigen, wenn die Verwendung einfacher Hilfsmittel zumutbar ist, so das Tragen von knopfloser Kleidung, wie Blusen mit weiten Ärmeln, Poloshirts oder Pullover. Gleiches gilt für die Verwendung von Schlüpfschuhen. Dadurch wird das Recht auf grundlegende, die eigene Person betreffende Entscheidungen, wie die Wahl des Aussehens, nicht verletzt ( Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5Rz 5.94 unter Hinweis auf die Erl EinstV 1999; vgl RIS-Justiz RS 0106500 [T5] = 10 ObS 165/02s).
4.3 Es mag zutreffen, dass Mäntel und Outdoor-Jacken häufig mit Knöpfen oder Reißverschlüssen versehen sind, allerdings gibt es auch solche mit Bindegürtel oder zum Schlüpfen.
Dass die Klägerin bestimmte Schuhe mit Schnürsenkel oder Reißverschluss tragen muss, war in erster Instanz kein Thema und kann daher nicht aufgegriffen werden. Außerdem gibt es festes Schuhwerk ebenfalls zum Schlüpfen und man benötigt es auch nicht ganzjährig, sodass der notwendige Hilfsbedarf jedenfalls auf das ganze Jahr aufzuteilen wäre (RIS-Justiz RS0053130; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 5.93).
4.4 Zu bedenken ist weiters, dass die Klägerin für Wege außer Haus und damit für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohnehin Mobilitätshilfe benötigt. Ganz unbedeutende Handgriffe, die keinen nennenswerten Mehraufwand erfordern, können in Zusammenhang mit den übrigen Hilfs- oder Betreuungsverrrichtungen erbracht werden ( Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5Rz 5.83; vgl RIS-Justiz RS0085247). Ein paar Knöpfe oder einen Reißverschluss vor Verlassen der Wohnung zu schließen, verursacht keinen ins Gewicht fallenden Aufwand und ist deswegen nicht gesondert zu veranschlagen. Innerhalb der Wohnung sind knopflose Kleidung und solche ohne Reißverschlüsse zumutbar.
4.5 Nur bei einer erheblichen Unterschreitung des Richtwerts (20 Stunden für das An- und Auskleiden) ist der tatsächliche Pflegebedarf anstatt des Richtwerts anzusetzen. Ob dies ein Unterschreiten um annähernd die Hälfte oder deutlich unter der Hälfte sein muss ( Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5Rz 5.76 iVm Rz 5.80 ff; OGH 10 ObS 12/08z; vgl RIS-Justiz RS0053147), kann dahingestellt bleiben, weil das An- und Ausziehen von Stützstrümpfen (10 Stunden) als behinderungbedingter zusätzlicher Aufwand neben der erforderlichen Unterstützung beim An-und Auskleiden zu berücksichtigen ist ( Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 5.90). Der Klägerin steht der gesamte Richtwert folglich auch nicht wegen der bei den Stützstümpfen erforderlichen Hilfe zu.
5 Die Berufung ist daher nicht erfolgreich; es hat bei der Klagsabweisung zu bleiben.
6Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit trotz Unterliegens bedarf es jedenfalls auch berücksichtigungswürdiger Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Solche werden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
7Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, weil die Berufungsentscheidung von keiner erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO abhängt. Es konnte auf die zitierte Rechtsprechung zurückgegriffen werden.
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