Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Richter Senatspräsident Dr. Robert Singer als Vorsitzenden, Mag. Herbert Ratzenböck und Dr. Patrick Eixelsberger sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Wolfgang Christian Schneckenreither (Kreis der Arbeitgeber) und KR Dietmar Hochrainer (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. A* , geboren am **, **straße **, **, vertreten durch die Mutter B*, ebendort, diese vertreten durch Mag. Dr. Wolfgang Stütz, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle C*, **, 4021 Linz, vertreten durch ihre Angestellte Mag. a D*, wegen Pflegegeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. November 2024, Cgs*-10, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 731,90 (darin enthalten EUR 121,98 an USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 8.7.2024 lehnte die Beklagte den Antrag des am ** geborenen Klägers vom 29.5.2024 auf Gewährung von Pflegegeld ab. Die Voraussetzungen für einen Anspruch lägen nicht vor, weil der Pflegebedarf durchschnittlich nur 45 Stunden monatlich betrage.
Der Kläger begehrte mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 1 und darüber hinaus ab dem 1.6.2024 im gesetzlichen Ausmaß. Es bestünden eine Autismus-Spektrum-Störung verbunden mit einer Aufmerksamkeitsstörung, ein deutlicher Rückstand der rezeptiven und expressiven Sprache sowie unterdurchschnittliche kognitive Leistungen, weshalb insbesondere die Pflege nur erschwerend erbracht werden könne.
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Die Voraussetzungen für die Gewährung des Pflegegeldes lägen nicht vor, weil kein ausreichender Pflegebedarf bestehe.
Mit dem angefochtenen Urteilsprach das Erstgericht dem Kläger Pflegegeld der Stufe 2 von 1.6.2024 bis 31.7.2024 und Pflegegeld der Stufe 3 ab 1.8.2024 zu. Es legte den auf den Seiten 2 und 3 ersichtlichen Sachverhalt zugrunde, auf den gemäß § 500a ZPO verwiesen wird. Diese Feststellungen sind auszugsweise wie folgt wiederzugeben:
Der Kläger weist Leiden auf, die einen Pflegebedarf für das An- und Auskleiden begründen. Dabei braucht der Kläger eine Aufforderung zum Ankleiden, Hilfe bei der Vorbereitung der Kleidung und Kontrollen. Es begründet dies einen Pflegebedarf im Ausmaß von 2 x 10 Minuten täglich. Der Kläger braucht weiters Unterstützung sowohl bei der täglichen Körperpflege als auch bei der gründlichen Körperpflege. Weiters ist für den Kläger 1 x täglich zur Verrichtung des Stuhlganges Unterstützung im Ausmaß von 15 Minuten notwendig. Die Notwendigkeit des Anbringens einer Windel, da der Kläger praktisch jede Nacht einnässt, begründet einen Pflegebedarf von 10 Minuten täglich.
Zudem benötigt der Kläger Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. So ist Begleitung bei allen Wegen außer Haus einschließlich Freizeitaktivitäten erforderlich. Dafür ist ein Pflegebedarf im Ausmaß von 10 Stunden [im Monat] notwendig. An Schultagen muss der Kläger zur Haustür begleitet und nachmittags von dort wieder abgeholt werden. Dafür ist ein Pflegebedarf im Ausmaß von 2 x 10 Minuten [täglich] anzusetzen. Es ist Begleitung bei der Entwicklungskontrolle alle 1 bis 2 Jahre, bei der logopädischen Therapie und bei Arztbesuchen bei üblichen Kindererkrankungen notwendig. Dafür ist ein Pflegebedarf im Ausmaß von 5 Stunden monatlich für die logopädische Therapie bzw von 2 Stunden für die Entwicklungskontrolle alle 1 bis 2 Jahre anzusetzen. Ergotherapie wird seit gut einem Jahr nicht mehr durchgeführt. Dass vermehrt Therapien bei Ärzten zu absolvieren sind, konnte nicht festgestellt werden.
Grundsätzlich verhält sich der Kläger freundlich und ausgeglichen, weist aber ausgeprägte autistische Züge auf. Er lebt sehr in sich zurückgezogen, ist schwer erreichbar und hat Impulsdurchbrüche. Aus medizinischer Sicht sind schwere Verhaltensdefizite gegeben. Zudem ist die kognitive Leistungsfähigkeit unterdurchschnittlich. Eine exakte Beurteilung ist aktuell im Hinblick auf die Sprechstörung nicht möglich. Eine Lernfähigkeit für einfache Alltagsverrichtungen durch Nachahmen ist grundsätzlich gegeben. Es ergibt sich daher, dass der Kläger einen hochgradigen Sprachentwicklungsrückstand aufweist, sowohl die Sprechfähigkeit als auch das Sprachverständnis betreffend. Aus medizinischer Sicht bestehen demgemäß schwere kognitive Defizite. Dagegen ist der Kläger körperlich gut entwickelt, er ist eigenständig sicher mobil. Zudem sieht und hört der Kläger gut. Eine schwere Sinnesbehinderung ist nicht gegeben.
In der rechtlichen Beurteilungging das Erstgericht für Betreuung und Hilfe bei An- und Auskleiden, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft, Reinigung bei nächtlicher Inkontinenz und Mobilitätshilfe im weiteren Sinn von einem monatlichen Pflegebedarf von 67,5 Stunden aus. Zudem berücksichtigte es den Erschwerniszuschlag nach § 8 Kinder-EinstV iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG von 50 Stunden bis zum vollendeten 7. Lebensjahr und 75 Stunden ab Vollendung des 7. Lebensjahres. Beim Kläger lägen ein hochgradiger Sprachentwicklungsrückstand und schwere Verhaltensdefizite vor. Es seien daher zwei voneinander unabhängige, schwere Funktionseinschränkungen gegeben. Insgesamt errechne sich daher ein Pflegebedarf von 117,5 Stunden monatlich für den Zeitraum von 1.6.2024 bis 31.7.2024, weshalb dem Kläger nach § 4 Abs 2 BPGG für diesen Zeitraum Pflegegeld der Stufe 2 zustehe. Nach Vollendung des 7. Lebensjahres errechne sich unter Berücksichtigung eines Erschwerniszuschlages von 75 Stunden ein Pflegebedarf von 142,5 Stunden monatlich, weshalb seit 1.8.2024 Pflegegeld der Stufe 3 zu gewähren sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag auf Feststellung eines Anspruches auf Pflegegeld der Stufe 1; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt in seiner Berufungsbeantwortung , dem Rechtsmittel keine Folge zu geben.
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Die Berufung bekämpft ausschließlich die Anwendung des Erschwerniszuschlages im Ausmaß von 50 bzw 75 Stunden (§ 8 Kinder-EinstV iVm § 4 Abs 3 und 4 BPGG).
Dazu ist auszuführen:
1.1 Die Pflegegeldbemessung erfolgt grundsätzlich nach dem Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfs. Es ist nicht abstrakt auf die den Pflegebedarf begründende Erkrankung, sondern den individuell erforderlichen und daher im Einzelfall gesondert zu prüfenden Betreuungs- und Hilfsbedarf abzustellen (vgl RS0106384; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 5 Rz 5.3).
1.2 Nach § 4 Abs 3 BPGG ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Hierbei ist auf die besondere Intensität der Pflege bei schwerst behinderten Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 7. bzw bis zum vollendeten 15. Lebensjahr Bedacht zu nehmen. Um den erweiterten Pflegebedarf schwerst behinderter Kinder und Jugendlicher zu erfassen, ist abgestimmt nach dem Lebensalter jeweils zusätzlich ein Pauschalwert hinzuzurechnen, der den Mehraufwand für die pflegeerschwerenden Faktoren der gesamten Pflegesituation pauschal abzugelten hat (Erschwerniszuschlag).
Entsprechend der funktionsbezogenen Betrachtungsweise ist auch bei der Zuerkennung des Erschwerniszuschlages nach der Intention des Gesetzgebers nicht eine Graduierung der Schwere der jeweiligen Behinderung im Sinn einer diagnosebezogenen Betrachtungsweise vorzunehmen, sondern der Mehraufwand der aus dieser Behinderung erfließenden pflegeerschwerenden Faktoren zu berücksichtigen. Wesentlich für die Berücksichtigung sind die Auswirkungen dieser Faktoren auf die Pflegesituation (vgl 10 ObS 99/10x zu § 4 Abs 5 und 6 BPGG; darauf verweisend 10 ObS 187/10p zu § 4 Abs 3 und 4 Oö. PGG, der § 4 Abs 3 und 4 BPGG entsprochen hat).
Mit dem Erschwerniszuschlag soll der Mehraufwand für die pflegeerschwerenden Faktoren der gesamten Pflegesituation pauschal abgegolten werden. Dabei sollen jene pflegeerschwerende Faktoren berücksichtigt werden, die auch durch die Zusatzkriterien für das Pflegegeld der Stufe 5 bis 7
1.3 Der Erschwerniszuschlag kommt nach § 4 Abs 4 BPGG zur Anwendung, wenn behinderungsbedingt zumindest zwei voneinander unabhängige, schwere Funktionseinschränkungen vorliegen. Solche Funktionseinschränkungen sind insbesondere schwere Ausfälle im Sinnesbereich, schwere geistige Entwicklungsstörungen, schwere Verhaltensauffälligkeiten oder schwere körperliche Funktionseinschränkungen.
Voraussetzung für die Berücksichtigung des Erschwerniszuschlages ist demnach das Vorliegen von zumindest zwei voneinander unabhängigen, schweren Funktionseinschränkungen (vgl Greifeneder/LiebhartaaO Rz 7.106). Voneinander unabhängig iSd § 4 Abs 4 BPGG sind zwei (schwere) Funktionseinschränkungen jedenfalls immer dann, wenn sie verschiedenen der in § 4 Abs 4 letzter Satz BPGG aufgezählten Gruppen von möglichen Funktionseinschränkungen zuzuordnen sind. Dass die beiden schweren Funktionsstörungen ursächlich miteinander in Zusammenhang stehen (auf dieselbe Diagnose zurückzuführen sind), schließt die Annahme von „voneinander unabhängigen Funktionseinschränkungen“ iSd § 4 Abs 4 BPGG nicht aus. So kann eine schwere Verhaltensauffälligkeit (zB massiver Antriebsverlust, massive Rückzugstendenz oder aggressives Verhalten, Getriebensein, Kontrollverlust, hohes Potential an Eigen- und Fremdgefährdung) in ursächlichem Zusammenhang mit einer schweren geistigen Entwicklungsstörung stehen, funktionell können diese Einschränkungen im Alltag aber voneinander unabhängige intensive Betreuungserfordernisse nach sich ziehen. Demnach ist für die Unabhängigkeit der Funktionseinschränkungen im Zweifel die Betroffenheit verschiedener Funktionsbereiche der Alltagsbewältigung maßgeblich (vgl Greifeneder/Liebhart aaO Rz 7.106).
1.4 Nach den unbekämpft gebliebenen Feststellungen des Erstgerichtes weist der Kläger aus medizinischer Sicht schwere kognitive Defizite und schwere Verhaltensdefizite auf. Der Kläger hat ausgeprägte autistische Züge, lebt sehr in sich zurückgezogen und ist schwer erreichbar. Es treten jedoch auch Impulsdurchbrüche auf. Des Weiteren besteht ein hochgradiger Sprachentwicklungsrückstand, sowohl die Sprechfähigkeit als auch das Sprachverständnis betreffend.
Die Berufung bekämpft (zu Recht) nicht das Vorliegen einer schweren geistigen Entwicklungsstörung, sondern richtet sich bloß gegen das Bestehen einer schweren Verhaltensauffälligkeit als weitere schwere Funktionseinschränkung iSd § 4 Abs 4 BPGG und somit gegen das Vorliegen zweier voneinander unabhängiger schwerer Funktionseinschränkungen.
1.5 Ausschlaggebend für die Beurteilung, ob eine Funktionseinschränkung auch im rechtlichen Sinne nach § 4 Abs 4 BPGG als schwer anzusehen ist, ist die Intensität der Pflegeerschwernis (vgl Greifeneder/Liebhart aaO Rz 7.109).
Bei funktionsbezogener Betrachtung der gesamten Pflegesituation zeigt sich, dass die Verhaltensdefizite des Klägers einen beträchtlichen Mehraufwand für seine Betreuung im Alltag über die bereits durch die kognitiven Defizite erschwerte Pflege und Betreuung hinaus bedingen. Seine Betreuungsperson hat nämlich nicht nur auf die hochgradige Sprachentwicklungsstörung einzugehen, sondern ist daneben vor die Herausforderung gestellt, einerseits den Kläger, der in sich zurückgezogen lebt, emotional zu erreichen, und andererseits sein impulsives Verhalten zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich um Verhaltensauffälligkeiten, die entgegen der Berufungnicht bloß einer Entwicklungsstörung zuzuordnen sind, sondern davon unabhängig ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Betreuung erfordern, welches nicht einmal ansatzweise im Pflegebedarf von 67,5 Stunden monatlich Berücksichtigung findet, und daher als schwere Verhaltensauffälligkeit iSd § 4 Abs 4 BPGG zu werten ist.
Dass die Verhaltensdefizite des Klägers in einem gewissen Zusammenhang mit der schweren Entwicklungsstörung stehen, schließt die Annahme einer unabhängigen Funktionseinschränkung nicht aus, da die festgestellten Einschränkungen des Klägers im Alltag eine unterschiedliche Betreuung erfordern. Während die Sprachdefizite im Alltag vor allem durch Gestik und Laute ausgeglichen werden können, erfordern die Verhaltensdefizite eine ständige Adaption an das Verhalten des Klägers und intensives Eingehen auf seine Verschlossenheit.
1.6 Zusammengefasst ist daher vom Vorliegen zweier voneinander unabhängiger schwerer Funktionseinschränkungen auszugehen, die die Pflegesituation erheblich erschweren. Zutreffend hat das Erstgericht daher die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Erschwerniszuschlages angenommen.
2. Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.
3. Die Kostenentscheidung gründet auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.
4. Die ordentliche Revision ist nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig, weil in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Erschwerniszuschlages geklärt sind und zudem die Beurteilung des konkreten Sachverhaltes nicht über den Einzelfall hinausgeht.
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