W192 2273794-1/2Z
W192 2273793-1/2Z
Beschluss
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerden 1.) der XXXX , geb. am XXXX , und 2.) des mj. XXXX , geb. am XXXX , beide StA. Afghanistan, der Zweitbeschwerdeführer gesetzlich vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin, beide vertreten durch die BBU GmbH, gegen jeweils Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.05.2023, Zlen.: 1125441302/230098293 (ad 1.), 1125441509/230098412 (ad 2.), den Beschluss:
A) Das Verfahren über die Beschwerden wird gemäß § 38 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) in Verbindung mit § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofs vom 14.09.2022, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, vorgelegten Fragen ausgesetzt.
B) Die Revision ist nicht zulässig.
Begründung:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Beide sind Staatsangehörige Afghanistans und reisten legal per Visum am 11.01.2023 in das österreichische Bundesgebiet ein, wo die Erstbeschwerdeführerin für sich und als gesetzliche Vertreterin ihres Kindes für dieses jeweils Anträge auf internationalen Schutz stellte.
Am 13.01.2023 wurde die Erstbeschwerdeführerin im Verfahren über ihren gestellten Antrag auf internationalen Schutz erstbefragt. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, dass sie den gegenständlichen Antrag stelle, weil ihr Ehemann in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie in Österreich denselben Status wie ihr Mann beantrage. Für den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer gab sie an, dass ihr Sohn keine eigenen Fluchtgründe habe und für ihn dieselben Gründe für die Asylantragstellung wie für sie gelten würden.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 02.03.2023 gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan geboren und als Kind im Alter von fünf oder sechs Jahren mit ihren Eltern nach Pakistan gezogen sei, wo sie geheiratet habe. Ihr Sohn sei in Pakistan auf die Welt gekommen. Sie sei Analphabetin und habe nie eine Schule besucht. Ihr Sohn sei in Pakistan zur Welt gekommen. In Pakistan sei sie Hausfrau gewesen. Sie habe nach Österreich gewollt, da ihr Mann hier lebe. In Afghanistan, wo sie zwischendurch einmal gewesen seien, habe sie das Haus wegen der Taliban nicht verlassen dürfen. Ihr Sohn habe so viele Probleme, er brauche ständig Betreuung. In Österreich sei sie viel mit der Betreuung ihres Sohnes beschäftigt, zu Österreichern habe sie keinen Kontakt. Sie sei hier Hausfrau.
Hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Kind pflegebedürftig sei und psychische Probleme habe, jedoch noch nicht in ärztlicher Behandlung stehe.
2. Mit den hinsichtlich jeweils Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge auf internationalen Schutz der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie den Genannten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 25.04.2025 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführer hätten keine asylrelevanten Probleme aufgrund ihrer Rasse, Volksgruppenzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorgebracht. So habe die Erstbeschwerdeführerin selbst vorgebracht, nach Österreich gereist zu sein, um mit ihrem Mann gemeinsam zu leben und dass auch der Zweitbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe habe. Die Beschwerdeführerin sei in Österreich wie auch bereits in Afghanistan im Haushalt tätig, besuche keinen Deutschkurs und habe außerhalb der Familie keine Sozialkontakte. Ein Lebensstil einer „westlichen Frau“ sei nicht gegeben.
3. Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide wurde durch die bevollmächtigte Vertretung der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 12.06.2023 die gegenständliche Beschwerde erhoben. Begründend wurde ausgeführt, der Erstbeschwerdeführerin drohe alleine aufgrund ihrer angeborenen Eigenschaft als Frau asylrelevante Verfolgung. Dem Zweitbeschwerdeführer drohe als einem Angehörigen der vulnerablen Gruppe der minderjährigen Kinder Verfolgung und Diskriminierung, zumal dieser an einer Entwicklungsstörung leide. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten der belangten Behörde und den vorliegenden Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes.
2. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
2.1. Gemäß § 17 VwGVG ist § 38 AVG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anwendbar:
„Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.“
§ 38 AVG erfasst nur Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären (VwGH 14.04.2021, Ra 2020/19/0379).
Der Verwaltungsgerichtshof sieht in ständiger Rechtsprechung sowohl die Verwaltungsgerichte als auch sich selbst als berechtigt an, ein Verfahren gemäß § 38 letzter Satz AVG auszusetzen, wenn die betreffende Frage auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens – etwa des Verwaltungsgerichtshofes selbst – in einem gleich gelagerten Fall bereits beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängig ist (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 38 [Stand 1.4.2021, rdb.at] Rz 18). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können auf der Grundlage des § 38 AVG Verfahren bis zur (in einem anderen Verfahren beantragten) Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union ausgesetzt werden; eine dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung vorgelegte Frage des Unionsrecht kann nämlich eine Vorfrage iSd § 38 AVG darstellen, die zufolge des im Bereich des Unionsrechts bestehenden Auslegungsmonopols des Gerichtshof der Europäischen Union von diesem zu entscheiden ist (vgl. VwGH 14.04.2021, Ra 2020/19/0379).
2.2. Mit Beschlüssen vom 14.09.2022, Zlen.: EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung - gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) - verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen - in ihrer Kumulierung zu betrachtenden - Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
2.3.1. Auch in den Fällen der Beschwerdeführer handelt es sich um Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht betreffend die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten.
Die belangte Behörde hat der Erstbeschwerdeführerin den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 nicht zuerkannt; gegen diese Nichtzuerkennung liegt eine rechtzeitige und zulässige Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin vor.
Wie aus dem obigen Verfahrensgang sowie Sachverhalt und der rechtlichen Beurteilung hervorgeht, sind die vom Verwaltungsgerichtshof an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtete Fragen präjudiziell, verfahrens- und entscheidungswesentlich.
Die Voraussetzungen für die Aussetzung des Beschwerdeverfahrens bis zum Vorliegen der Vorabentscheidung liegen somit vor.
2.3.2. Gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz eines Familienangehörigen von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 hat die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid.
Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG 2005 gelten die Bestimmungen Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 sind die Bestimmungen dieses Abschnitts nicht anzuwenden auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind.
Gemäß § 2 Abs. 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits im Herkunftsland bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.
Der Zweitbeschwerdeführer ist der minderjährige (und ledige) Sohn und damit Familienangehöriger seiner Mutter, sodass die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 vorliegen und die Bestimmungen des Familienverfahrens umfänglich anzuwenden sind.
Ausgehend davon war das Beschwerdeverfahren des Zweitbeschwerdeführers daher im Rahmen des Familienverfahrens ebenso auszusetzen.
3.1. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.
Gegenständlich steht der Sachverhalt fest und ergibt sich vor dem Hintergrund des oben angeführten anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens des Gerichtshofes der Europäischen Union, dass die vorliegenden Beschwerdeverfahren auszusetzen waren.
Es konnte somit von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt ist (vgl. dazu etwa VwGH 10.08.2017, Ra 2019/19/0116, m.w.N.).
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Rückverweise