W220 2254009-1/13E W220 2254008-1/10E W220 2254007-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Daniela UNTERER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX (Erstbeschwerdeführerin), vertreten durch den Verein SUARA-christliches Seelsorge- und Hilfezentrum zur Unterbringung, Arbeitsbeschaffung sowie zur Rückkehr afrikanischer Asylbewerber, 2. XXXX , geb. XXXX (Zweitbeschwerdeführerin), vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, und 3. mj. XXXX , geb. XXXX (Drittbeschwerdeführerin), vertreten durch ihre Mutter, die Erstbeschwerdeführerin, alle StA. Syrien, gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022, ZIen.: 1. 1286648806-211489288, 2. 1286649106-211489407 und 3. 1286647003-211489296, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.02.2023, zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revisionen sind gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet und die Mutter der volljährigen Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin (alle gemeinsam werden als Beschwerdeführerinnen bezeichnet). Die Beschwerdeführerinnen sind syrische Staatsangehörige.
Die Beschwerdeführerinnen stellten nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 09.10.2021 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Zu diesen Anträgen wurden die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin am 10.10.2021 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und am 20.12.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Zu den Gründen für ihre Asylantragstellung führten sie im Wesentlichen aus, dass sie vor dem Krieg in Syrien geflüchtet seien. Sie seien nach Österreich gereist, weil sie ein sicheres Land gesucht hätten, in dem sie als Familie leben könnten.
Mit oben zitierten Bescheiden, jeweils vom 04.03.2022, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I.), erkannte den Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkte II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkte III.).
In den Begründungen führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten zusammengefasst aus, dass die Beschwerdeführerinnen kein asylrelevantes Vorbringen erstattet und sich auch von Amts wegen keine Hinweise auf eine Verfolgungsgefahr in Syrien ergeben hätten.
Gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. dieser Bescheide wurden durch ihre Rechtsvertretung am 05.04.2022 fristgerecht gleichlautende Beschwerden erhoben. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen als (quasi) alleinstehende Frauen und die Drittbeschwerdeführerin als Mädchen sexuelle Gewalt, Entführungen oder Schlimmeres befürchteten, weil sie ohne männlichen Schutz leben müssten. Sie würden auch befürchten, aufgrund der Zugehörigkeit zu ihrem männlichen Familienmitglied vom syrischen Regime als Regimekritiker angesehen zu werden. Auch hätten sie zu Beginn der Aufstände an Demonstrationen teilgenommen. Weiters drohte den Beschwerdeführerinnen auch wegen ihrer Asylantragstellungen in Österreich Verfolgung aufgrund einer (unterstellten) politischen Gesinnung.
Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.12.2022 wurden gegenständliche Rechtssachen der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
Am 12.12.2022 stellten die Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen durch ihre vormalige Rechtsvertretung wegen Verletzung der Entscheidungspflicht über ihre Beschwerden gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.03.2022 Fristsetzungsanträge an den Verwaltungsgerichtshof. Mit verfahrensleitenden Anordnungen des Verwaltungsgerichtshofes vom 27.12.2022, Fr 2022/18/0054, und 28.12.2022, Fr 2022/19/0054, wurden dem Bundesverwaltungsgericht die Fristsetzungsanträge der Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen mit der Aufforderung zugestellt, binnen dreier Monate die Entscheidungen zu erlassen oder anzugeben, weshalb eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliege.
Mit Stellungnahme vom 26.01.2023 brachte die Zweitbeschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertretung vor, dass sie seit ihrem Umzug politisch aktiv und auch Mitglied eines syrischen Vereins sei. Dieser Verein organisiere regelmäßig Demonstrationen, an welchen die Beschwerdeführerinnen teilnehmen würden. Da die Beschwerdeführerinnen aus Daraa stammten, welche eine Hochburg der Opposition sei, könne eine gewisse regimekritische Haltung bereits vermutet werden. Dazu wurde ein Foto von der Teilnahme an einer Demonstration und die Bestätigung der Mitgliedschaft zu dem syrischen Verein vorgelegt.
Am 02.02.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch und der Rechtsvertretungen der Beschwerdeführerinnen statt, in welcher die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen und ihren persönlichen Lebensumständen befragt wurden. Im Zuge dessen wurde sichergestellt, dass die Beschwerdeführerinnen und die Rechtsvertretung über das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 10.08.2022, Version 8, verfügen. Zur Einbringung einer diesbezüglichen schriftlichen Stellungnahme wurde den Beschwerdeführerinnen eine einwöchige Frist eingeräumt.
Mit Stellungnahme vom 08.02.2023 wurden weitere Fotos von der Teilnahme an einer Demonstration gegen das syrische Regime vom 04.02.2023 vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführerinnen:
Die Beschwerdeführerinnen führen die im Kopf dieser Entscheidung angeführten Personalien. Sie sind syrische Staatsangehörige und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam sowie der Volksgruppe der Araber zugehörig. Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet. Aus dieser Ehe entstammen die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin. Die Zweitbeschwerdeführerin ist ledig und kinderlos; die Drittbeschwerdeführerin ist noch minderjährig. Die Muttersprache der Beschwerdeführerinnen ist Arabisch.
Die Erstbeschwerdeführerin stammt aus Daraa (auch Dara’a), wo sie geboren und aufgewachsen ist. Sie besuchte in Syrien sechs Jahre die Grundschule und drei Jahre ein Gymnasium und war danach Hausfrau. Im Jahr 2000 heiratete sie in Daraa einen syrischen Staatsangehörigen und wurden in Daraa die Drittbeschwerdeführerin sowie zwei weitere gemeinsame Kinder geboren. Ungefähr im Jahr 2007/2008 übersiedelte zunächst der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin berufsbedingt und im Jahr 2015 auch die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen in die Vereinigten Arabischen Emirate, wobei sie legal mit ihren syrischen Reisepässen aus Syrien ausreisten. Nach der Geburt der Drittbeschwerdeführerin übersiedelten die Beschwerdeführerinnen Ende 2017, Anfang 2018 aus finanziellen Gründen nach Jordanien, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Europa lebten. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in Syrien sechs Jahre, in den Vereinigten Arabischen Emiraten zwei Jahre und in Jordanien drei bis vier Jahre die Schule und sie verfügt weder über Berufsausbildung noch -erfahrung.
In Syrien leben ein volljähriger Enkel des Onkels väterlicherseits der Erstbeschwerdeführerin, vier Schwestern des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen sowie weitere weitschichtige Familienangehörige der Beschwerdeführerinnen.
Die Beschwerdeführerinnen stellten nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 09.10.2021 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Die Beschwerdeführerinnen sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerinnen:
Die Beschwerdeführerinnen haben in Syrien nicht an Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen. Ihnen wird daher aus diesem Grund auch keine oppositionelle Gesinnung durch das syrische Regime unterstellt. Die Erstbeschwerdeführerin wurde in Syrien nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die Beschwerdeführerinnen haben sich in Syrien auch sonst nicht politisch betätigt und waren kein Mitglied von politischen Parteien.
Die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen sind Mitglieder im Verein „ XXXX “ und die Beschwerdeführerinnen waren in Österreich bei Demonstrationen gegen das syrische Regime anwesend. Sie haben zum Zweck der Asylerlangung an diesen Demonstrationen teilgenommen. Die Beschwerdeführerinnen sind dadurch nicht derart in das Visier des syrischen Regimes geraten, dass ihnen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsort droht.
Den Beschwerdeführerinnen droht auch sonst aktuell in Syrien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkrete und individuelle Gewalt.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation wiedergegeben:
„[…]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.08.2022
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Dynamiken, wie durch die letzte türkischen Offensive im Nordosten ausgelöst, verlässliche grundsätzliche Aussagen respektive die Einschätzung von Trends schwierig machen. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB 1.10.2021).
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien mit Stand 5.8.2022 [Anm.: zu verbleibenden Rückzugsgebieten des IS siehe Abschnitte zu den Regionen]:

[…]
Südsyrien
Letzte Änderung: 10.08.2022
Die Lage im Süden und Südwesten Syriens, den Gouvernements Quneitra, Dara‘a und Suweida, hat sich weiter destabilisiert (AA 29.11.2021). Bereits in den Jahren 2020 und 2021 verschlechterte sich die Sicherheitslage. Es kam zu einer Reihe von Zwischenfällen bewaffneter Gewalt zwischen der Vielzahl miteinander konkurrierender bewaffneter Akteure (UNHRC 14.8.2020; vgl. ORSAM 16.8.2021). De facto sind die Regimetruppen vor Ort mit Ausnahme von Eliteeinheiten personell und technisch unzureichend aufgestellt, sodass die tatsächliche Hoheit häufig bei lokal verwurzelten bewaffneten Gruppierungen liegt. Eine stabile politische und wirtschaftliche Lage ist nicht vorhanden: Mangelhafte Grundversorgung, fehlende öffentliche Gelder für medizinische Versorgung und für Bildung, eine äußerst eingeschränkte Stromversorgung und Korruption sind verbreitete Probleme (AA 29.11.2021). Im Süden/Südwesten Syriens kommt es aufgrund großer Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem syrischen Regime, vor allem aufgrund fehlender Grundversorgung, nicht eingehaltener Abmachungen im Rahmen von „Versöhnungsabkommen“ und einer Zunahme an anhaltenden Verhaftungswellen, Gewaltausübung und gezielten Tötungen vermehrt zu Demonstrationen, Unruhen sowie bewaffneten Auseinandersetzungen, Anschlägen und gezielten Tötungen (AA 4.12.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020, ORSAM 3.2021).
Ende September bis Anfang Oktober 2020 kam es erneut zu umfangreichen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Gruppen aus den Gouvernements Dara’a und Suweida, darunter Kämpfer der drusischen Minderheit, Regimetruppen und -Milizen, sowie von Russland unterstützte Einheiten ehemaliger Oppositionskämpfer (AA 4.12.2020).
Die Provinzen Dara’a und Quneitra
In der Provinzhauptstadt Dara’a im Süden Syriens waren 2011 die ersten Proteste gegen das Assad-Regime ausgebrochen. Im Juli 2017 wurde dort eine Deeskalationszone eingerichtet, dennoch startete die syrische Regierung im Juni 2018 eine Offensive zur Rückeroberung der Provinzen Quneitra und Dara’a (DS 5.7.2018). Die beiden Provinzen wurden durch die Regierung zurückerobert und Ende Juli 2018 wurden auch die letzten Dörfer, die sich noch unter Kontrolle einer mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Verbindung stehenden Gruppierung befanden, erobert. Die meisten dieser Städte und Dörfer kapitulierten unter sogenannten „Versöhnungsabkommen“, wobei Kämpfern und Zivilisten die Möglichkeit gegeben wurde, in von oppositionellen Gruppen kontrollierte Gebiete im Norden Syriens zu ziehen (TG 31.7.2018). Gemäß einem Bericht von Human Rights Watch gingen die Angriffe auf oppositionelle Gruppen und Einzelpersonen nach dem von Russland unterstützten Waffenstillstandsabkommen im Jahr 2018 trotz der Tatsache, dass Kämpfer der Opposition ihren Status mit der Regierung „klären“ oder im Rahmen dieses Abkommens sicher nach Idlib ausreisen durften, weiter. Die allgemeine Destabilisierung hielt an. Befragte aus Dara’a berichteten Human Rights Watch, dass Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte, regierungsnahe Milizen und Oppositionsgruppen an gezielten Tötungen und Entführungen beteiligt waren (HRW 10.2021).
Im März 2020 kam es zu umfangreichen Kampfhandlungen, als Regimetruppen bewaffnete Oppositionelle im südsyrischen Ort Sanamayn (Anm.: Provinz Dara‘a) belagerten und sie unter Einsatz von Panzern innerhalb weniger Tage besiegten (AA 4.12.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020).
Die Bevölkerung lehnte das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Mai 2021 ab (HRW 13.1.2022), nachdem große Teile der lokalen Bevölkerung [Anm.: in Dara’a] ihre Teilnahme an den Wahlen verweigert hatten (AA 29.11.2021). Als tiefere Ursache wird jedoch das fortgesetzte Beharren von Dara’a auf Halbautonomie angesehen, das sich in der Weigerung des Gebiets ausdrückte, an den syrischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 teilzunehmen (COAR 5.7.2021). Die Regierung schränkte daraufhin die Mobilität in der Stadt Dara’a ein, reduzierte die Stromversorgung in den Gebieten, in denen Versöhnungsabkommen geschlossen wurden, und widerrief die Reisegenehmigung für „versöhnte“ Kämpfer (COAR 7.6.2021). In Folge kam es in und um die Provinzhauptstadt Dara’a im Juli und August 2021 zu den schwersten Auseinandersetzungen seit 2018 zwischen Regimetruppen sowie Iran-nahen Milizen einerseits und lokalen bewaffneten Gruppierungen (sogenannte versöhnte Rebellen) andererseits (AA 29.11.2021). Zwischen Juni und September 2021 führten die syrischen Streitkräfte und mit ihnen verbündete Milizen Dutzende willkürliche Angriffe auf bewohnte Gebiete in Dara’a aus, während die gegnerischen Kämpfer Gebiete unter Regimekontrolle angriffen, was dort zivile Opfer verursachte. Bei den Kämpfen wurde ein Gebiet mit 55.000 EinwohnerInnen belagert und mehr als 38.000 Menschen vertrieben (HRW 13.1.2022). Vom 24.6. bis zum 9.9.2021 wurde Dara’a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert, die den Zugang zu Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern blockierten und zeitweise Strom und Wasser abschalteten (COAR 5.7.2021; vgl. AJ 29.7.2021). Am 29.7.2021 begann das syrische Regime eine Bodenoffensive gegen Dara’a Al-Balad und versuchte, das Viertel durch Aushungern und Beschuss zu unterwerfen. In den folgenden Wochen kam es zu schweren Kämpfen zwischen den beiden Seiten (TNA 24.9.2021). Die Belagerung führte zu Engpässen bei Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten (AM 13.8.2021; vgl. EB 11.7.2021).
Schlussendlich rückten am 8.9.2021 syrische Regierungstruppen gemäß einer Vereinbarung mit Rebellengruppen in Dara’a al-Balad ein. Regierung und Rebellen hatten sich am 7.9.2021 auf ein Abkommen geeinigt, das die Beendigung der Belagerung des Gebiets durch die Regierung, die Einrichtung von Checkpoints der Regierung unter russischer Aufsicht, „Versöhnungsabkommen“ mit Deserteuren der syrischen Armee und anderen gesuchten Personen, die Übergabe von Waffen und die Evakuierung von Personen, die sich dem Abkommen verweigern, in den von Rebellen gehaltenen Norden Syriens, vorsieht (AM 8.9.2021). Die von Russland vermittelte Vereinbarung sah den Zutritt der Regierung zu den Gebieten vor sowie die Unterzeichnung von „Versöhnungsabkommen“ durch Zivilisten und Rebellen, um in ihrem Gebiet verbleiben zu dürfen. Dutzende SyrerInnen, welche dies verweigerten, wurden nach Idlib transferiert. Die Garantien in den „Versöhnungsabkommen“ bieten nicht den nötigen Schutz für die Betreffenden (HRW 13.1.2022). Trotzdem stabilisierte sich die Sicherheitslage in Dar’a al-Balad, und die meisten Vertriebenen kehrten nach Hause zurück. Öffentliche Dienstleistungen wurden wiederhergestellt (UNSC 21.10.2021). Rund 3.700 Vertriebene waren bis Anfang November 2021 aufgrund der Beschädigungen ihrer Häuser jedoch noch nicht nach Dar’a al-Balad zurückgekehrt. Auch explosive Kampfmittelrückstände behindern die Rückkehr und Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung (UNOCHA 9.11.2021; vgl. USAID 3.12.2021).
Die Vereinbarungen mit verschiedenen Städten und Dörfern in der Provinz Dara’a unterscheiden sich von Ort zu Ort, aber im Allgemeinen beinhalten die neuen Vereinbarungen die Abgabe von leichten Waffen, die Einberufung in die syrische Armee und die Regelung des Status von oppositionellen Individuen. Die Regelung des Status ist zwar eine nominelle Begnadigung, garantiert aber in der Praxis nicht die Sicherheit der Betroffenen vor dem Regime. Trotz der Regelung des Status sind die Menschen in Dara’a willkürlichen Verhaftungen und Entführungen ausgesetzt. Die Betroffenen haben drei Monate Zeit, um sich bei der Syrischen Arabischen Armee zu melden. Durch die Einberufung von versöhnten Personen kann das Regime unerwünschte ehemalige Oppositionelle aus Dara’a entfernen und so die künftige Opposition schwächen. In der Vergangenheit wurden „versöhnte“ Personen oft auf die gefährlichsten Posten an die Front in Syrien geschickt (TNA 24.9.2021).
Mit dem Vorgehen in Dara’a verfolgt das Regime laut einem Medienbericht auch nach außen gerichtete Ziele. Regionale Mächte - wie die arabischen Golfstaaten und Jordanien - bemühen sich, die Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren. Ein offener Krieg mit nicht-jihadistischen Kämpfern lässt Assads Einfluss auf Syrien schwächer erscheinen, und lässt schwerer die Repression des Regimes gegen seine eigenen Bürger verbergen (TNA 24.9.2021).
Mitte Oktober 2021 wurde von einer Zunahme an Morden in Dara’a berichtet. Lokale Quellen machten den militärischen Sicherheitsdienst des Regimes für die Morde verantwortlich, um diejenigen, die an Versöhnungsaktionen teilgenommen und sich geweigert hatten, der Armee des Regimes beizutreten sowie einflussreiche Persönlichkeiten zu beseitigen (SHRC 17.10.2021). Die aktuellen Attentate auf Mitglieder der syrischen Streitkräfte und gegen ehemalige Kämpfer der Opposition werden in der Statistik des Carter Center weiterhin vor allem in Dara’a verortet:

Quelle: CC 5.8.2022 (Daten von Carter Center und ACLED)
Im 2. Quartal 2022 kam es im südlichen Syrien zu einer starken Zunahme unidentifizierter Angriffe auf frühere Oppositionskämpfer und zu einem größeren Teil auf Soldaten der syrischen Streitkräfte bei mindestens 119 Vorfällen. Von diesen waren 103 Attentate (86 %) in der Provinz Dara’a. In der Vergangenheit führte dies besonders in Dara’a zu längerer Gewalt und Belagerungen von Städten durch die syrischen Streitkräfte. Die Intensität und geografische Verbreitung lassen auf Rivalitäten innerhalb der Gruppen schließen und nicht einfach auf Spannungen zwischen den Streitkräften und der früheren Opposition. Auch wenn es noch nicht zu einer neuerlichen Belagerung kam, so trägt dieser Umstand nicht zur Beruhigung der Spannungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Fraktionen in der Provinz Dara’a bei. Am 4.5.2022 führte die von Russland unterstützte 8. Brigade eine Razzia bei einer Miliz durch, welche mit dem syrischen Luftwaffengeheimdienst in Sidon (Syrien) verbunden ist. Die Beschuldigung lautete auf Durchführung von Attentaten durch die Miliz im Auftrag des Luftwaffennachrichtendiensts. Bei Fortsetzung des Trends würde eine größere Eskalation wahrscheinlich, mit gegenteiligen Auswirkungen auf die Sicherheit und Lebensumstände der Zivilbevölkerung (CC 5.8.2022).
[…]
Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 05.08.2022
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichteten jedoch von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung vermeintlicher Oppositioneller einsetzten, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und sogar schon vor 2011 dokumentiert wurde. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.1.2021; vgl. AI 7.4.2021, USDOS 12.4.2022, AA 4.12.2020).
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen (SHRC 24.1.2019).
Das Auswärtige Amt fasst die Haftbedingungen in Syrien als „unverändert grausam und menschenverachtend“ zusammen. Dies ist allgemein der Fall, gilt jedoch besonders für diejenigen Haftanstalten, in denen DissidentInnen und sonstige politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.11.2021). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.11.2021). NGOs berichten, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlungen, Bestrafungen und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten verüben (USDOS 12.4.2022; vgl. TWP 23.12.2018). Gefängnispersonal und Nachrichtendienstoffiziere sowie weitere Regimetruppen und regierungstreue Kräfte begingen sexuellen Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern (USDOS 12.4.2022). Unter den von der UN Commission of Inquiry (COI) dokumentierten Fällen waren die jüngsten betroffenen Buben und Mädchen elf Jahre alt (HRW 13.1.2022). Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 30.3.2021). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. (AA 29.11.2021; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021).
Systematische Folter, Hinrichtungen und die Haftbedingungen führen zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Gefangenen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (USDOS 12.4.2022). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 12.4.2022; vgl. SHRC 24.1.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 12.4.2022). SNHR schätzt die Gesamtzahl der verschwunden gelassenen Personen auf mindestens 100.000, hinter fast 85% dieser steckt das Regime (HRW 13.1.2022). Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 7.4.2021).
In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara’a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.1.2020; vgl. ÖB 1.10.2021).
Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen, darunter 181 Kinder und 93 (erwachsene) Frauen, durch Folter durch die Konfliktparteien und die kontrollierenden Kräfte in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.6.2021). Im gesamten Jahr 2021 zählte SNHR insgesamt 104 Todesopfer aufgrund von Folter (SNHR 1.1.2022). Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen. (AA 29.11.2021). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht: Im Jahr 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 1.2021). Die syrische Regierung übergibt nicht die sterblichen Überreste der Verstorbenen an die Familien (HRW 14.1.2020).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Gefängnissen sind jedoch keine Neuerungen der Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits seit der Ära von Hafezal-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC24.1.2019).
Am 4.11.2020 ließ die syrische Regierung 60 Personen aus Gefängnissen im südlichen Syrien und Damaskus frei (HRW 13.1.2022).
Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (NMFA 7.2019). Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.11.2021).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Berichte dazu betreffen u.a. HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham), IS (Islamischer Staat), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 12.4.2022).
[…]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 05.08.2022
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNCHR 28.6.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.8.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) vom 8.2.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 8.2.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.1.2022).
Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien- oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft (BS 23.2.2022).
Die Verfassung bestimmt die Ba’ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba’ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 waren von Anschuldigen von Wahlbetrug gekennzeichnet. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba’ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 12.4.2022).
Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen(USDOS 12.4.2022).
Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und Einzelpersonen konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die meiste Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Angelegenheiten, einschließlich der konfessionellen Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 12.4.2022).
Weiterhin besteht laut Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB 1.10.2021).
In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, HRW 13.1.2022). Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.1.2022; vgl. AA 4.12.2020, SNHR 26.1.2021). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen („forced deportations“) entvölkert (BS 29.4.2020).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (AA 29.11.2021). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vgl. UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).
Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.11.2021).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und Verschwundenen mit Stand September 2021 auf rund 150.000. Für das erste Halbjahr 2021 dokumentierte SNHR 972 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger
Verhaftungen, darunter mindestens 45 Kinder und 42 Frauen. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Das Regime macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für die Betroffenen verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (UNHRC 11.3.2021).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 12.4.2022). Für das Jahr 2021 lagen keine Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor. Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam jedoch zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z.B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017 (USDOS 12.4.2022).
Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z.B. von E-Mails und Sozialen Medien ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein (USDOS 12.4.2022).
Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begingen Berichten zufolge häufige Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führten etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töteten oder verletzten (USDOS 12.4.2022).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UN-Kommission zu Syrien (CoI), dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten ausdrücklich nicht andere Konfliktparteien entlaste. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u.a. Free Syrian Army, Syrian National Army, Syrian Democratic Forces) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay’at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählten für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Insbesondere im Fall von Free Syrian Army, HTS bzw. Jabhat al-Nusra, sowie IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNHRC 11.3.2021).
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen, Tötungen von Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden. Terrorgruppen, wie die HTS, griffen gewaltsam Organisationen und Personen an, die Menschenrechtsverletzungen untersuchten oder sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzten (USDOS 12.4.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates im Jahr 2019 verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen, darunter auch manchmal mit Zivilisten als Ziele (USDOS 12.4.2022).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden. Die HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalationszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen Errettungsregierung aufgebaut.Auch unterhält die HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Scharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten (AA 29.11.2021). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten wurden exekutiert (ÖB 1.10.2021).
In Idlib verhaftet Hay’at Tahrir al-Sham AktivistInnen, MitarbeiterInnen humanitärer Organisationen sowie HTS kritische ZivilistInnen. Im ersten Halbjahr waren laut Syrian Network for Human Rights mindestens 57 Personen Ziel willkürlicher Verhaftungen durch HTS. In einigen Fällen verhängte HTS die Todesstrafe ((HRW 13.1.2021)). Berichtet werden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab al-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden (AA 29.11.2021) Die HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte zivilen Lebens ein, z.B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch die wahllose Einhebung von Steuern und Geldbußen. Sie beschlagnahmte auch viele Häuser und Immobilien von ChristInnen (HRW 13.1.2021).
Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der CoI gibt es weiterhin Grund zurAnnahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch Mitglieder der HTS, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021)
In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der Syrian National Army (SNA) sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR (Syrian Network for Human Rights) willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit der ihre verbündete bewaffnete Gruppe - die Syrian National Army (SNA) - mindestens 63 syrische Staatsbürgerinnen verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht. Dort stehen sie wegen Anklagen vor Gericht, die lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen könnten. Fünf der 63 SyrerInnen wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR (Syrian Network for Human Rights) willkürlich 162 Personen (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra’s al ’Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021).
Teile der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen, Folter, Korruption, Rekrutierung von Kindersoldaten und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die SDF untersuchten weiterhin die gegen sie vorgebrachten Klagen. Es lagen keine Informationen über die gerichtliche Anklage einzelner Mitglieder der SDF vor (USDOS 12.4.2022). Die SDF führen Massenverhaftungen von ZivilistInnen, darunter AktivistInnen, JournalistInnen und LehrerInnen, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut Syrian Network for Human Rights auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Außenministerium berichtet hingegen von „gelegentlichen“ Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen-Aktivisten durch die SDF und andere Oppositionsgruppen, darunter „in manchen Fällen“ willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 4.12.2020).
Nach der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Nordosten Syriens müssen die kurdisch geführten Behörden und die US-geführte Koalition noch Entschädigungen für zivile Opfer leisten, Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten anbieten und sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern befassen, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und als deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten werden (HRW 13.1.2022).
[…]
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Allgemeine Informationen
Letzte Änderung: 09.08.2022
Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der De-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA 6.2021). Zehn Jahre Konflikt in Syrien haben die prekäre Lage von Frauen und Mädchen, einschließlich Hunderttausender schwangerer Frauen und vieler Menschen mit Behinderungen, aufgrund von mangelnder Sicherheit, Angst und enormem wirtschaftlichem Druck sowie Praktiken wie der Kinderheirat erheblich verschärft. Der Zugang zu Schulen und medizinischer Versorgung ist nicht mehr selbstverständlich, wie er es vor dem Konflikt war (UNFPA 15.3.2021). Da Frauen immer wieder Opfer unterschiedlicher Gewalthandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden, zögern Familien, Frauen und Mädchen das Verlassen des Hauses zu erlauben (STDOK 8.2017; vgl. UNFPA 10.3.2019).
In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene und nötige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d.h. den „Schutz“ eines Mannes, zurückgibt. Humanitäre Helfer verweisen demgegenüber darauf, dass die Eltern mit einer möglichst frühen Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen müssen. Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB 1.10.2021; vgl. UNOCHA 16.12.2021).
Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 12.4.2022). Die Grundrechte der syrischen Frauen haben sich während des Konflikts auf allen Ebenen stark verschlechtert, sei es in Bezug auf ihre Sicherheit oder auf soziale, wirtschaftliche, gesundheitliche oder psychologische Faktoren (SNHR 25.11.2019). Der Anteil der Frauen im syrischen Parlament liegt derzeit bei 13,2 %. Die Erwerbsquote in Syrien liegt bei 14,4 % der weiblichen Bevölkerung (BS 23.2.2022).
Syrische Frauen sind stärker von Armut betroffen als Männer. Sie sind einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt und tragen die Verantwortung für die Betreuung ihrer Kinder und anderer Familienmitglieder. Durch die rasche Ausbreitung von COVID-19 werden die Risiken für Frauen noch größer. Schätzungen zufolge sind mehr als eine halbe Million Syrerinnen in Syrien und in den Aufnahmegemeinschaften in der gesamten Region schwanger.
Mancherorts suchen schwangere Frauen aufgrund von Bewegungseinschränkungen oder aus Furcht vor einer Ansteckung mit dem Virus keine Gesundheitseinrichtungen auf. Dadurch ist das Leben von Frauen und Neugeborenen in Gefahr (UN Women 2.7.2020). Durch den Konflikt sind etwa 13 Millionen Zivilisten vertrieben worden, davon 6,2 Millionen Binnenvertriebene. Frauen und Kinder bilden die Mehrheit der Vertriebenen, wobei vertriebene Frauen und Mädchen einem erhöhten Risiko von Ausbeutung und Missbrauch ausgesetzt sind (UNHRC 15.8.2019).
[…]
Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung
Letzte Änderung: 25.04.2022
Wirtschaft
Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2018 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz vor dem Irak, Pakistan, Jemen und Afghanistan (WEF 2021). Der Anteil der Frauen im syrischen Parlament liegt derzeit bei 11,2 % mit 28 von 250 Sitzen (IPU 7.2020). Die Erwerbsquote für
Syrien liegt bei 16 % der weiblichen Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren (WB 15.6.2021). Während der Krieg in Syrien verheerende Auswirkungen auf die Frauen hatte, hat er die Rolle der Frauen in der Arbeitswelt verändert und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor den Männern vorbehalten waren (TNH 22.12.2017). Da viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten, mussten Frauen zunehmend arbeiten, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung war extrem niedrig. Schätzungen zufolge waren im Jahr 2018 11,6 % der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 % der Männer. In Damaskus, Lattakia und Tartus lag der Durchschnitt zwischen 40 und 50 %, in anderen Teilen des Landes zwischen 10 und 20 %, in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch darunter (NMFA 5.2020). Die Erwerbsquote in Syrien liegt aktuell insgesamt bei 14.4 % der weiblichen Bevölkerung (BS 23.2.2022). Die Weltbank bezeichnete die Situation als besonders herausfordernd, weil das vom Konflikt betroffene Umfeld auch erfordert, dass Frauen in höherem Maße als vor dem Konflikt Zugang zu Dienstleistungen und Märkten oder Unterstützungssystemen haben, weil die Männer meist außer Haus arbeiten, sich an der Front befinden oder Opfer eines bewaffneten Konflikts geworden sind (WB 6.2.2019). Öffentliche Räume wie Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNPFA 10.3.2019).
In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, da die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).
Alleinstehende Frauen
Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und Geschiedene wurden als besonders gefährdet eingestuft (UNFPA 10.3.2019). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).
Der Verlust des Ernährers im Zuge des Konflikts konfrontiert viele Frauen mit dem Problem, für ihre Familien sorgen zu müssen. Die Zahl der von Frauen geführten Haushalte ist im Laufe des Konflikts gestiegen (WB 6.2.2019): Zwischen 2009 und 2015 stieg der Anteil der von Frauen geführten Haushalte von 4,4 % auf 12 bis 17 %, weil nun mehr Frauen an die Stelle von verschwundenen, getöteten oder vertriebenen Männern treten müssen, um ihre Familien zu versorgen. Bereits 2014 hatte die Abwesenheit von Männern, sei es durch wahllose Angriffe, willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwinden oder die Beteiligung an Militäroperationen, dazu geführt, dass Frauen bei Hausdurchsuchungen und Durchsuchungen durch bewaffnete Gruppen gefährdet waren (HRW 2.7.2014). In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).
Frauen und medizinische Versorgung
Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren (CARE 3.2016).
Abtreibung ist nach dem syrischen Strafgesetzbuch 163 generell illegal, auch für Frauen und Mädchen, die infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden sind (UNPFA 11.2017). Die Risiken der Kinderheirat für Mädchen sind beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Die Kinderheirat und die damit verbundenen Risiken können sich negativ auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNPFA 11.2017).
Im Nordosten schränkt HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) die Bewegungs- und Meinungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen in Bezug auf Arbeit, Bildung, Kleidung und den Zugang zu Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019). Zahlreiche medizinische Einrichtungen wurden dort aufgrund der Feindseligkeiten beschädigt oder zerstört, sodass viele Frauen gezwungen sind, unter freiem Himmel zu entbinden, ohne Zugang zu der notwendigen pränatalen und postnatalen Unterstützung. Im Juni 2019 war der Zugang zu Krankenhäusern aufgrund der Bombardierungen durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten erheblich eingeschränkt und Hebammen halfen Frauen bei der Geburt ihrer Babys in den Olivenhainen entlang der türkischen Grenze. Frauen in der Enklave Idlib, die es ins Krankenhaus schafften, litten unter schlechter Ernährung, extremem Stress und dem Fehlen angemessener sanitärer Einrichtungen. Diese Faktoren tragen zu einem erheblichen Anstieg von Bluthochdruck, Harnwegsinfektionen und Fehlgeburten bei (MEE 29.6.2019).
[…]
Sexuelle Gewalt gegen Frauen und „Ehrverbrechen“
Letzte Änderung: 09.08.2022
Ausmaß und Berichtslage zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Mit keiner oder nur schwacher Rechtsdurchsetzung und begrenztem effektivem Schutz in diesem Bereich haben alle Arten von Gewalt gegen Frauen an Verbreitung und Intensität zugenommen, darunter Versklavung, Zwangsheirat, häusliche Gewalt und Vergewaltigung (WB 6.2.2019). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als „Ernährer der Familie“ auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB 1.10.2021). „Ehrverbrechen“ in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.11.2021).
Mit Stand November 2021 schätzte SNHR, dass seit März 2011 mindestens 11.520 Fälle von sexueller Gewalt durch die Konfliktparteien verübt wurden. Die Regimekräfte und mit ihr verbundene Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich - mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Vergehen in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat begangen und 12 Vergehen durch die Syrian Democratic Forces (SDF). Die Gefahr einer Ermordung („Ehrverbrechen“) ist einer der Gründe für die erhebliche Dunkelziffer bei der Berichtslage zu sexueller Gewalt. Außerdem wurden laut SNHR tausende Opfer von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheirat wegen des erfahrenen sexuellen Missbrauchs verstoßen (USDOS 12.4.2022).
Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als „endemisch, unterberichtet und unkontrolliert“ ein (USDOS 12.4.2022).
Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte
Die größte Bedrohung für Frauen ging vom syrischen Regime aus [Anm.: für Zahlen siehe weiter oben]. Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und syrische Gemeinschaften zu destabilisieren (LDHR 10.2018). Die Col (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) sowie zuletzt auch Berichte von Amnesty International (Bericht von September 2021) und Human Rights Watch (Bericht von Oktober 2021) dokumentieren weitverbreitete Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen vonseiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, militärischen Kontrollstellen und in Haftanstalten. Menschenrechtsvertreter berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen sei (AA 29.11.2021).
Ab dem Zeitpunkt der Festnahme und während der gesamten Haftzeit waren viele Frauen und Mädchen verschiedenen Arten sexueller Gewalt ausgesetzt (UN HRC 8.3.2018): Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen, die Verletzung der reproduktiven Rechte und der medizinischen Versorgung sowie andere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 1.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Die Regierungstruppen setzten die Vergewaltigung von Kindern als „Kriegswaffe“ ein und missbrauchten die Kinder von Oppositionellen in Gefängnissen, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und komplett ungestraft. Einem befragten Offizier zufolge machten sie bei der Inhaftierung keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, selbst in Fällen, in denen Folter angewendet wurde (ZI 2.7.2017).
Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle
Sexualisierte Gewalt wird laut CoI-Bericht von März 2021 daneben auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, nicht zuletzt von den Terrororganisationen HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) und IS (Islamischer Staat) (AA 29.11.2021). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, einer Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen ist (ÖB 1.10.2021).
Zum Beispiel sind aus den Gebieten unter türkischer Kontrolle in Nordsyrien sexuelle Übergriffe von Mitgliedern der von der Türkei unterstützen Syrischen Nationalarmee (SNA) gegen inhaftierte Frauen und Mädchen bekannt. In zwei Fällen wurden inhaftierte Frauen aus dem Gewahrsam der SNA quasi als Gegengeschenk an Dritte übergeben. Mindestens eine der Frauen sei in der Folge Opfer von Vergewaltigung geworden (UNHRC 13.8.2021).
Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern
Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Enteignung durch die Familie und sogar zu „Ehrenmorden“ führen (UNFPA 11.2017). Dies führt auch zu einer hohen Dunkelziffer bei der sexuellen Gewalt. Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017; vgl. SHRC 24.1.2019).
Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an „Ehrenmorden“ infolge des Konfliktes. Einem Bericht zufolge wurden von Jänner 2020 bis Februar 2021 16 Ermordungen von Frauen durch männliche Verwandte unter der Anschuldigung, Schande über die Familie gebracht zu haben, verzeichnet. Die Gefahr einer Ermordung ist einer der Gründe für die erhebliche Dunkelziffer bei der Berichtslage zu sexueller Gewalt (USDOS 12.4.2022). Die meisten Fälle von „Ehrenmorden“ stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung. In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass in der Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019).
Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 12.4.2022). Es gab auch Fälle von „Ehrenmorden“ an Vergewaltigungsopfern (USDOS 30.3.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, MRG 5.2018b) und Verstoßungen durch die Familien (USDOS 12.4.2022).
Bei sogenannten Ehrverbrechen in der Familie besteht kein effektiver staatlicher Schutz (AA 4.12.2020).
Anzeige und Strafverfolgung
Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen. Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus zu verklagen (NMFA6.2021).
Während im Jahr 2020 der Artikel 548 des Strafgesetzes abgeschafft wurde, wonach Männer eine Strafreduzierung erhalten konnten, wenn sie ihre Ehefrauen oder ihre weiblichen Angehörigen verletzten oder töteten, weil sie sie bei einem illegitimen Sexualakt vorfanden, blieben andere Artikel in Kraft, welche weiterhin reduzierte Strafen für Männer bei Gewalt gegen Frauen ermöglichen (HRW 13.1.2022). Es besteht kein effektiver staatlicher Schutz davor (AA 29.11.2021).
[…]
Kinder
Letzte Änderung: 09.08.2022
Auch im Berichtszeitraum kam es in Syrien zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern. Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden nach Angaben von Syrian Network for Human Rights (SNHR) 145 Kinder bei Kampfhandlungen getötet. Der im April 2021 veröffentlichte dritte Bericht des UN-Generalsekretärs zur Lage von Kindern im bewaffneten Konflikt in Syrien konstatiert zum wiederholten Male zahlreiche Verstöße gegen die Rechte von Kindern und verurteilt diese aufs Schärfste. Hierzu zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser in Syrien sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen als schwere Verstöße (AA 29.11.2021).
Staatsbürgerschaft und Geburtsregistrierung
Kinder leiten die Staatsbürgerschaft ausschließlich von ihrem Vater ab. In weiten Teilen des Landes, in denen die Standesämter nicht funktionierten, haben die Behörden Geburten oft nicht registriert. Das Regime registrierte keine Geburten kurdischer Einwohner, die nicht die syrische Staatsbürgerschaft besitzen, einschließlich staatenloser Kurden. Die Nichtregistrierung führte zum Entzug von Dienstleistungen, wie z.B. Ausstellung von Zeugnissen für sekundäre Schulbildung, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formeller Beschäftigung sowie Dokumenten und Schutz (USDOS 12.4.2022).
Bildung und Schulen
Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht eine Schulpflicht (USDOS 12.4.2022). Besonders gravierende Langzeitfolgen hat der Konflikt unter anderem im Bildungsbereich (SWP 7.4.2020): Wiederholte Angriffe auf Schulen, die wachsende Armut, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Gewalt gegen Kinder in Gefängnissen behindern weiterhin die Möglichkeiten der Kinder eine Ausbildung zu erhalten, und hatten unverhältnismäßig starke Auswirkungen auf vertriebene Kinder - besonders Mädchen - und auf Kinder mit Behinderungen. Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges, und die Schulen benötigen Hilfe für die Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 12.4.2022).
Aufgrund der Angriffe von Schulen, welche das syrische Regime gemäß der Menschenrechtsorganisation SNHR willkürlich wie auch absichtlich verübte, verzichten viele Eltern nun darauf, ihre Kinder in die Schule zu schicken, weil sie befürchten, dass sie zur Zielscheibe werden (SNHR 20.11.2021). Für Mädchen besteht auf dem Weg zur oder von der Schule ein besonderes Risiko sexueller Gewalt, die häufig der Hauptgrund dafür ist, dass Mädchen die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNPFA 11.2017).
2,1 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und weitere 1,3 Millionen sind in Gefahr, die Schule verlassen zu müssen (USDOS 12.4.2021). 6,1 Mio. Syrerinnen und Syrer sind laut Weltbank weder beschäftigt noch in einer Schule oder Ausbildung. Eine ganze Generation hat inzwischen keine Schulbildung genossen. Über ein Drittel aller Schulen ist beschädigt oder vollständig zerstört. Aufgrund der Covid-19-Pandemie waren die verbliebenen Schulen von März bis Dezember 2020 immer wieder geschlossen (AA 29.11.2021).
In Gebieten, die zuvor unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) standen und von den Syrian Democratic Forces (SDF) zurückerobert wurden, konnten Schulen wiedereröffnet werden. Viele der Schulen benötigen jedoch noch umfangreiche Reparaturen und müssen von explosiven Kampfmittelrückständen gesäubert werden (USDOS 30.3.2021).
Kinder-, Früh- und Zwangsehe
Das gesetzliche Heiratsalter beträgt 18 Jahre für Männer und 17 Jahre für Frauen. Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und „körperlich reif“ erklärt und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in bestimmten Lagern. Kinder sind aufgrund der extremen finanziellen Not, die der Konflikt den Familien auferlegt, sowie aufgrund von COVID-19 und des gesellschaftlichen Drucks zunehmend von Früh- und Zwangsehen bedroht. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies sie schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gab Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition. NGOs berichten, dass frühe Eheschließungen sowie Zwangsheiraten in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen verbreitet sind, und dass oft die Ehen aus Angst vor dem Wehrdienst oder der Verhaftungen an den Regimecheckpoints nicht offiziell registriert werden (USDOS 12.4.2022).
Weitere Informationen über Kinderheirat siehe Kapitel „Familienrecht, Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Sorgerecht“.
Nordwestsyrien
Berichten zufolge hat die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) in den von ihr kontrollierten Gebieten Schulen ihre Auslegung der Scharia aufgezwungen und Mädchen diskriminiert. Die Gruppe schrieb Lehrerinnen und Schülerinnen eine Kleiderordnung vor, und drohte allen Frauen, die sich nicht an die Kleiderordnung hielten, mit Entlassung. Berichten zufolge hinderten sie auch eine große Zahl von Mädchen am Schulbesuch (USDOS 12.4.2022). Es wird berichtet, dass Familien im Nordwesten Syriens ihre Töchter zunehmend wiederholt für kurze Zeit gegen Geld verheiraten, was den Tatbestand des sexuellen Menschenhandels erfüllt. Früh- und Zwangsverheiratungen waren in den von der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten weit verbreitet. Es wurde von Fällen berichtet, in denen SNA-Mitglieder der Sultan-Murad-Brigade kurdische Frauen in Afrin und Ra’s al-’Ayn zwangsverheiratet (USDOS 30.3.2021) sowie allgemein Mitglieder der Syrian National Army (SNA) kurdische - einschließlich jesidische Frauen und Mädchen - vergewaltigt haben (USDOS 12.4.2022).
Nordost-Syrien
Die SDF halten seit mindestens 2019 weiterhin mehr als 10.000 mutmaßliche ehemalige ISKämpfer in Gefängnissen in ganz Ostsyrien fest. Darunter sind rund 750 männliche Jugendliche, die in mindestens zehn Gefängnissen inhaftiert sind. Auch Jahre nach der territorialen Niederlage des sog. Islamischen Staates sind noch immer Tausende von Frauen und Kindern in Lagern im Nordosten Syriens in dem Gebiet unrechtmäßig interniert, welches von der kurdisch geführten SDF-Koalition kontrolliert wird. In al-Hol und anderen Lagern nahe der irakischen Grenze im Nordosten Syriens werden schätzungsweise 40.000 Kinder festgehalten. Fast die Hälfte davon sind Iraker; 7.800 kommen aus fast 60 anderen Ländern. Seit Mitte 2019 wurden fast 5.000 syrische Kinder im Rahmen sogenannter „Stammespatenschaften“ aus den Lagern in Gemeinden im Nordosten entlassen. Etwa 1.000 ausländische Kinder wurden ebenfalls freigelassen und nach Hause gebracht. Die meisten ausländischen Kinder sind jedoch weiterhin ihrer Freiheit beraubt, weil sich ihre Heimatländer weigern, sie zurückzunehmen. Die meisten sind unter zwölf Jahre alt. Niemand beschuldigt sie eines Verbrechens, doch werden sie seit über drei Jahren unter entsetzlichen Bedingungen festgehalten und ihres Rechts auf Bildung, Spiel und angemessene medizinische Versorgung beraubt (UNHRC 14.9.2021).
Unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats
Aus früheren Jahren sind Zwangsverheiratungen durch den sogenannten „Islamischen Staat“ bekannt - in vielen Fällen junge Mädchen (USDOS 12.4.2022): Ab 2014 begann der IS, Frauen und Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren in den von ihm kontrollierten Gebieten zwangszuverheiraten. In den Jahren zuvor hatte der sog. IS jesidische Mädchen im Irak entführt, sexuell ausgebeutet und sie zur Vergewaltigung und Zwangsverheiratung nach Syrien gebracht. Die Free Yezidi Foundation berichtete, dass jesidische Frauen und Kinder aufgrund des schweren Traumas, das sie durch die Behandlung unter dem ISIS erlitten haben, und aus Angst bei IS-nahen Familien in Internierungslagern bleiben. Der Oberste Geistliche Rat der Jesiden hat angekündigt, dass jedes Kind eines muslimischen oder „unbekannten“ Vaters als muslimisch registriert werden muss, wodurch jesidischen Kindern, die unter dem IS geboren wurden, ein Platz in der jesidischen Gemeinschaft verwehrt wird, und ein weiteres Hindernis für die Rückkehr jesidischer Frauen in ihre Heimatgemeinden entsteht (USDOS 30.3.2021) Der Zugang zu Bildung im Lager für Binnenvertriebene in al-Hol ist Berichten zufolge weiterhin unzureichend. Die SDF beendeten die Nutzung von zwölf Schulen für militärische Zwecke und übergaben sie an die lokalen Räte, um den Zugang der Kinder zu Bildung zu verbessern. Trotz wiederholter Vereinbarungen, die Rekrutierung von Minderjährigen zu stoppen, gab es Berichte über groß angelegte Rekrutierungskampagnen der SDF, bei denen Jugendliche verhaftet und zwangsrekrutiert wurden, sowie über die Rekrutierung von Kindern zwischen 13 und 16 Jahren aus dem Lager al-Hol, von denen viele Waisen waren (EMHRM 18.9.2019). Alle Konfliktparteien haben Minderjährige rekrutiert (UNGASC 6.5.2021).
Zur Rekrutierung von Minderjährigen siehe Kapitel Wehrdienst, Unterkapitel „Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen“
Kindesmisshandlung und -missbrauch
Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 12.4.2022).
NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie der HTS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und sogar hingerichtet (USDOS 30.3.2021). Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung von Fällen von Vergewaltigung von Kindern durch das Regime (USDOS 12.4.2022). Regierungstruppen setzten die Vergewaltigung von Kindern als „Kriegswaffe“ ein und missbrauchten die Kinder von Oppositionellen in den Gefängnissen der Regierung, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und völlig ungestraft. Einem befragten Offizier zufolge machten sie in der Haft keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen - selbst bei Folter nicht (ZI 2.7.2017).
Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen durch Folter, darunter 181 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.6.2021).
Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung
Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswertenAnstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen. Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen „angemessene Strafen“ verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.4.2022).
Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.4.2022).
Mindestens 12,4 Millionen Syrer von einer geschätzten Gesamtbevölkerung von ungefähr 16 Millionen sind einer Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung ausgesetzt - ein Anstieg von 3,1 Millionen innerhalb eines Jahrs. Mehr als 600.000 Kinder sind chronisch unterernährt (HRW 13.1.2022). Im Oktober 2020 waren 4,7 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen (USDOS 30.3.2021). 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus (AA 29.11.2021). Haushalte, welche von einem Nahrungsmittelmangel betroffen waren, wendeten im Herbst 2021 mitunter Kinderarbeit und Schulabbruch als Bewältigungsstrategie an (WFP 11.2021). In drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.11.2021). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).
Näheres zum Zugang zu Unterkünften siehe Kapitel 16 Grundversorgung und Wirtschaft.
Zivile Opfer durch nicht explodierte Kampfmittelrückstände
Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 11.2021). Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder „Bomblets“ dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 % und 40 % dieser „Bomblets“ nicht explodiert sind und eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, da sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).
[…]
Rückkehr
Letzte Änderung: 10.08.2022
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Einem Bericht von Amnesty International zufolge betrachten die syrischen Behörden Personen, welche das Land verlassen haben, als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Offiziell gibt der Staat zwar vor, Syrer zur Rückkehr zu ermutigen, aber insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als „Verräter“ angesehen. Aus Sicht des syrischen Staates ist es besser, wenn diese im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche13.12.2021). Das Regime will Rückkehrer mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021).
Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften gegenüber Rückkehrenden, die sich in verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassten Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Hindernisse für die Rückkehr
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 % aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 10.2021). Viele Menschen haben ihre Häuser zurückgelassen, die mittlerweile von jemandem besetzt wurden.
Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst (mukhabarat) auf sie hetzen, und sie so Schwierigkeiten bringen (Balanche13.12.2021).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung gesehen als Leute, die davon gelaufen sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich „sauber“ sind, mit dem Ziel daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör15.12.2021). Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche13.12.2021).
Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Neben den fehlenden sozio-ökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB 10.2021). Die Meinungen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern sind uneinheitlich. Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, da es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden, im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat auf Social Media), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen nicht sehr ernst oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör15.12.2021). Laut Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein „erweitertes Syrien“, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon Korruptionsnetzwerke zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021). Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als „Krankheitserreger“ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird.
Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
Laut Fabrice Balanchekann man, wenn man der Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht zurückkommen, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für politische Flüchtlinge. Auch besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021). Laut Khaddour sind Entführungen, um Geld zu erpressen, nur individuelle Akte (Khaddour 24.12.2021).
Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Rakka, Deir-Ez-Zor). Laut UNMAS sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 % der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben. Zwei Drittel der Überlebenden sind lebenslang eingeschränkt. 39 % der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 % auf landwirtschaftlichen Flächen, 10 % auf Straßen oder am Straßenrand. 26 % der Opfer seit 2019 waren Binnenvertriebene IDPs (ÖB 10.2021).
Die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums lässt sich weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus als Indikator beschränken, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen können nach geografischen Kriterien daher weiterhin nicht getroffen werden. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann insofern für keine bestimmte Region Syriens und für keine Personengruppe nach Einschätzung des Auswärtigen Amts grundsätzlich gewährleistet und überprüft werden (AA 29.11.2021). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie früheren gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässige Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Für weitere Informationen siehe auch Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“.
Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassen von Rückkehrern
Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang UNHCRs und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozess sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist (AA 29.11.2021). Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Auch im Jahr 2020 gewährte das Regime dem UNHCR weiterhin nur stark eingeschränkten Zugang nach Syrien. UNHCR war daher weder in der Lage, eine umfassende Überwachung der Situation von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherzustellen, noch den Schutz ihrer Rechte zu gewährleisten (AA 4.12.2020). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat haben immer wieder Personen verfolgt, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021).
Die syrische Regierung führt Listen mit Personen, die ihrer Meinung nach auf die eine oder andere Weise oppositionell sind. Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Kontrollpersonals oder praktische Probleme wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z.B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit (FIS 14.12.2018). Jeder Nachrichtendienst führt seine eigenen Fahndungslisten und es gibt keine Koordination oder Zentralisierung. Daher kann es trotz einer positiven Sicherheitsüberprüfung durch einen Dienst jederzeit zu einer Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 4.12.2020). Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Nach Angaben der Regierungskonferenz ist das Konzept des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern; es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der ICG berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020).
Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegen Personen, die nach Syrien zurückgekehrt sind (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterzeichnet haben. Sie wurden gezwungen,Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 6.2019). Aus Daten, die im Rahmen des UN-Systems erhoben wurden, geht hervor, dass 14 % der mehr als 17.000 befragten Binnenvertriebenen- und Flüchtlingsrückkehrerhaushalte während ihrer Rückkehr im Jahr 2018 angehalten oder inhaftiert wurden. Von dieser Gruppe wurden 4 % für mehr als 24 Stunden festgehalten. In der Gruppe der Flüchtlinge (die ins Ausland geflohen sind) wurden 19 % festgehalten. Diese Zahlen beziehen sich speziell auf die Heimreise und nicht auf Inhaftierungen in den Wochen und Monaten danach (EIP 6.2019). Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.5.2020; vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Amnesty International hat in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vorgelegt, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des „Terrorismus“, da sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 Rückkehrer, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen (AI 9.2021).
Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht vonAmnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens lässt die Regierung derzeit keinen Wohnsitzwechsel zu. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die Rückkehrer von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).
Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen. Die Einrichtung eines Wohnsitzes ist nur mit Genehmigung der Behörden möglich (ÖB 21.8.2019). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen dürfen. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB 29.9.2020). Auch Jahre nach der Rückeroberung von Homs durch die Regierung benötigen die Bewohner immer noch eine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Häuser (TE 28.6.2018; vgl. CMEC 15.5.2020).
Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn,- Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie ISIS-Angriffen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). Eine Reihe von Stadtvierteln in Damaskus sind nach wie vor teilweise oder vollständig gesperrt, selbst für Zivilisten, die kurz nach ihren ehemaligen Häusern sehen wollen (SD 19.11.2018). So durften die Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch nach der Wiedererlangung der Kontrolle durch das Regime weitgehend nicht zurückkehren (EB 8.7.2020; vgl. AI 9.2021). Nach Angaben von Aktivisten durften bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (WB 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019). So berichtet UNHCR von einer „sehr begrenzten“ und „abnehmenden“ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94% um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2019).
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“ im Abschnitt „Wohnsituation und Enteignungen“.
Bedingungen der Rückkehr
Die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge zurückkehren, und die Mechanismen dieses Prozesses sind nur unzureichend bekannt - auch bei den Flüchtlingen selbst. Da al-Assad die Kontrolle über immer größere Gebiete festigt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB 29.9.2020).
Sicherheitsüberprüfungen vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzversprechen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Leuten, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group (ICG) stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde (DIS) auf der Grundlage von Befragungen, dass Syrer, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete der DIS, dass nur Syrer im Libanon, die über eine „organisierte Gruppenrückkehr“ nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020). Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl haben und keine Probleme mit dem Regime auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z.B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht. Es sind jedoch viele Fälle bekannt, bei denen Personen inhaftiert wurden, die offiziell nicht vom Regime gesucht wurden, und die Sicherheitsüberprüfung gemacht hatten, zum Teil um Geld zu erpressen (Balanche 13.12.2021). Berichten zufolge gab es Fälle, in denen Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer von willkürlicher Verhaftung, Folter oder gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, und vereinzelte Fälle von Tod in Haft (AA 19.5.2020; vgl. EASO 6.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. Syrer aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.) stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsüberprüfung zu bekommen und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichten müssen (Üngör 15.12.2021).
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021).
„Versöhnungsanträge“
Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu „regularisieren“, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf „Versöhnung“ stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen überAktivitäten während ihresAuslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrischeAußenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nachAngaben des Generals einen „Versöhnungsantrag“ ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten dem EASO, dass, wenn ein Rückkehrer durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. „wasta“) herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert oft manchen Bürgern die Rückkehr, während andere Syrer, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchteten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der Antragsteller, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen auf 5 % (SD 16.1.2019), 10 % (Reuters 25.9.2018) oder bis zu 30 % (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integrations von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige Beobachter und humanitäre Helfer geben an, dass die Bewilligungsquote für Antragsteller aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu können. In vielen Fällen hält sich die Regierung nicht an die in den „Versöhnungsabkommen“ vereinbarten Garantien, und die Rückkehrer sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Syrerinnen und Syrer benötigen in verschiedenen Lebensbereichen eine behördliche Sicherheitsfreigabe, z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäfts, eine Heirat und die Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnort zu wechseln, für Wiederaufbaumaßnahmen oder auch für den Erwerb von Eigentum (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsüberprüfung könnte Fragen wie den Aufenthaltsort der Person während ihrer Abwesenheit aus einem Gebiet umfassen. Für eine Person, die die Zeit in Damaskus verbracht hat, könnte die Sicherheitsüberprüfung einfacher sein, aber Orte wie Deir ez-Zour könnten zusätzliche Kontrollen oder Befragungen nach sich ziehen. Während des Sicherheitsüberprüfungsverfahrens wird eine Person befragt, ob es in ihrer Großfamilie Personen gibt, die von der Regierung gesucht werden (FIS 14.12.2018).
Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, die die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass die Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung für Betroffene wie Dritte extrem komplex bis unmöglich ist. Rückkehrende sehen sich mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen.Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass eine positive Sicherheitsüberprüfung keine Garantie für eine sichere Rückkehr ist. Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits auch dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z.B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, absolut betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher interner Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter (AA 29.11.2021)
Exilpolitische Aktivitäten, bzw. nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung über im Ausland lebende Syrer und Syrerinnen
Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder einsetzten, um Druck auf Verwandte auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung ist an den politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland interessiert. Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln (EASO 6.2021).
Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler Informanten zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 6.2019). Das Verfassen eines „Taqrir“ (eines „Berichts“, d. h. die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im baathistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut ICG auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben „Berichte“, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020).
Syrische Rückkehrende aus Libanon, Jordanien und der Türkei
Im Juli 2021 wurde die syrische Bevölkerung auf 20,4 Millionen Menschen geschätzt (CIA 22.9.2021). Im Jahr 2020 registrierte UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) etwa 1,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien. Demgegenüber kehrten in diesem Jahr rund 450.000 Binnenvertriebene zurück (UNOCHA 8.2.2021). Ende September 2020 waren 5.565.954 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und Nordafrikas registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im Jahr 2019 insgesamt rund 95.000 Flüchtlinge nach Syrien zurück (UNHCR 23.9.2020), im Jahr 2020 waren es 38.200 (UNOCHA 3.2021). Weder Binnenvertriebene noch Flüchtlinge sind unbedingt in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Im Jahr 2017 forderten die libanesischen Behörden syrische Flüchtlinge trotz des anhaltenden Konflikts und begründeter Ängste vor Verfolgung verstärkt zur Rückkehr auf. Eine kleine Zahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Vereinbarungen nach Syrien zurückgekehrt, die jedoch nicht vom UNHCR überwacht werden. Einige Flüchtlinge erklärten, sie kehrten wegen der strikten Politik und der sich verschlechternden Bedingungen im Libanon zurück, nicht weil sie Syrien für sicher hielten. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen ohne Rechtsgrundlage und ohne ordnungsgemäßes Verfahren gewaltsam vertrieben. Zehntausende sind weiterhin von Vertreibung bedroht (HRW 17.1.2019). Die libanesischen Statistiken weisen darauf hin, dass Syriens Sicherheitsapparat bisher lediglich 20 % der AntragstellerInnen für eine Rückkehr aus dem Libanon eine Heimkehrerlaubnis gewährt hat (Qantara2.2.2022).
Obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 1.10.2019; vgl. SD 6.5.2020), ist aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage in Syrien bisher nur eine geringe Zahl von Syrern nach Syrien zurückgekehrt (SD 6.5.2020). Im Jahr 2021 normalisierten mehrere Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien trotz der Menschenrechtsverletzungen in Syrien ihre Beziehungen zum syrischen Regime. Dabei wurden Kooperationszusagen gemacht, welche die Frage einer verfrühten Rückkehr von Flüchtlingen und das eventuelle Ermöglichen von Menschenrechtsverletzungen aufwarfen (HRW 13.1.2022).
Die Türkei beherbergt fast 3,65 Millionen syrische Flüchtlinge (DGMM 3.2.2021). Im Juli 2019 änderte sich die Haltung der türkischen Regierung ihnen gegenüber. Die türkischen Sicherheitskräfte begannen, syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben, und sie in die türkischen Provinzen zurückzuschicken, in denen sie registriert waren. Sie fingen damit an, einige von ihnen abzuschieben, und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). NGO-Berichten zufolge haben die türkischen Behörden immer wieder Flüchtlinge inhaftiert, und sie gezwungen, „freiwillige“ Rückkehrdokumente zu unterschreiben, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020). Auch die Organisation Syrians for Truth and Justice erhob in ihrem jüngsten Bericht vom Februar 2022 ebenfalls diesen Vorwurf (STJ 14.2.2022).
[…]“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Personen der Beschwerdeführerinnen:
Die Feststellungen zu Namen und Geburtsdaten der Beschwerdeführerinnen beruhen auf den Angaben der Erstbeschwerdeführerin (AS 19 und 43 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin; Seite 5 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) sowie der Zweitbeschwerdeführerin (AS 15 und 37 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin; Seite 17 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und den damit übereinstimmenden, aus den vor der belangten Behörde vorgelegten Dokumenten ersichtlichen Daten (syrischer Personalausweis der Erstbeschwerdeführerin in AS 76, Übersetzung in AS 65, Foto der syrischen Heiratsurkunde der Erstbeschwerdeführerin in AS 63, Übersetzung in AS 67, sowie syrischer Familienausweis in AS 53 ff, Übersetzung in AS 69 ff, jeweils im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin; Kopie der syrischen Geburtsurkunde der Zweitbeschwerdeführerin in AS 45 und 47, Übersetzung AS 49 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin). Dabei dürfte die nur hinsichtlich eines einzigen Buchstabens unterschiedliche Schreibweise des Nachnamens der Erstbeschwerdeführerin (vgl. den Aliasnamen der Erstbeschwerdeführerin im Kopf dieser Entscheidung) ihre Ursache lediglich in der Übersetzung aus dem Arabischen haben (vgl. beispielsweise die Übersetzungen des syrischen Personalausweises in AS 65 mit der syrischen Heiratsurkunde in AS 67 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin).
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den Sprachkenntnissen und dem Familienstand bzw. den Familienverhältnissen der Beschwerdeführerinnen gründen sich auf die gleichbleibenden Angaben der Erstbeschwerdeführerin (AS 19, 21, 44, 47 und 48 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin; Seite 5 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) sowie der Zweitbeschwerdeführerin (AS 15, 17, 38, 40 und 41 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin; Seite 17 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) im Verfahren.
Die Feststellungen zu den Geburtsorten der Beschwerdeführerinnen, der legalen Ausreise aus Syrien und ihren Aufenthalten in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Jordanien fußen auf ihren stimmigen Angaben (AS 19, 23, 25, 47 und 48 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin; AS 15, 21 und 40 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin; Seiten 5 bis 8 und 18 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und den Angaben aus den vorgelegten syrischen Dokumenten (siehe dazu bereits oben und dabei insbesondere die Übersetzung des syrischen Familienausweises in AS 69 ff im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin).
Die Feststellungen zur Schulbildung und der mangelnden Berufserfahrung der Erstbeschwerdeführerin stützen sich auf ihre diesbezüglich plausiblen, sohin glaubhaften Angaben (AS 48 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin; Seite 8 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Die Feststellungen zur Schulbildung und der mangelnden Berufserfahrung der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus einer Zusammenschau all ihrer Angaben im Verfahren: So gab sie in der Erstbefragung an, 12 Jahre Grundschule besucht zu haben (AS 17 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin). Demgegenüber führte sie vor der belangten Behörde aus, sechs Jahre in Syrien und vier Jahre in Jordanien die Schule besucht zu haben, jedoch in den Vereinigten Arabischen Emiraten nicht in die Schule gegangen zu sein (AS 41 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin). Dagegen schilderte sie in der mündlichen Verhandlung wiederum, dass sie in den Vereinigten Arabischen Emiraten für zwei Jahre und in Jordanien ca. drei bis vier Jahre die Schule besucht habe (Seite 18 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung); erwähnte jedoch keinen Schulbesuch in Syrien, sondern behauptete später, dass die Schule regelmäßig bombardiert worden wäre, sodass die Schulbildung nicht mehr gegeben gewesen sei (Seite 22 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Es ist jedoch nicht erklärlich, weshalb die Zweitbeschwerdeführerin noch vor der belangten Behörde tatsachenwidrig angegeben hätte, dass sie in Syrien sechs Jahre die Schule besucht hätte, würde dies nicht zutreffen.
Die Feststellungen zu Familienangehörigen in Syrien beruhen auf den Angaben der Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen in der mündlichen Verhandlung (Seiten 13 und 18 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister und dem Alter der strafunmündigen Drittbeschwerdeführerin.
2.2. Zu den Feststellungen hinsichtlich des Fluchtvorbringens der Beschwerdeführerinnen:
Das Bundesverwaltungsgericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und aufgrund des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks der erkennenden Richterin davon aus, dass die Beschwerdeführerinnen in Syrien nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt (worden) sind.
2.2.1. Eingangs ist festzuhalten, dass sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch die Zweitbeschwerdeführerin in ihren Erstbefragungen und den Einvernahmen vor der belangten Behörde zu ihren Fluchtgründen zusammengefasst angegeben hatten, dass sie vor dem Krieg in Syrien geflüchtet wären. Sie seien nach Österreich gereist, weil sie ein sicheres Land gesucht hätten, in dem sie als Familie leben könnten. Erstmals in der von den Beschwerdeführerinnen erhobenen Beschwerde wurde vorgebracht, dass die Beschwerdeführerinnen zu Beginn der Aufstände in Daraa an Demonstrationen teilgenommen hätten. Als Frauen/Mädchen hätten sie Demonstrationen am Rande begleitet und versucht, Verhaftungen der männlichen Demonstrationsteilnehmer zu verhindern (siehe Seite 3 der Beschwerde), wobei ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zufolge bloß die Erstbeschwerdeführerin an Demonstrationen teilgenommen hätte (Seiten 10 und 23 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dass die Beschwerdeführerinnen dies in keiner ihrer bisherigen Einvernahmen erwähnt haben, konnte nicht schlüssig aufgeklärt werden. Insbesondere wurden sie vor der belangten Behörde dezidiert danach befragt, ob sie politisch tätig gewesen wären, was Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen verneinten. Die von der Erstbeschwerdeführerin auf Vorhalt der erkennenden Richterin abgegebene Rechtfertigung, wonach sie ja nicht politisch aktiv gewesen sei (Seiten 10 und 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), überzeugte nicht. Hätte die Erstbeschwerdeführerin in Syrien tatsächlich an Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen, wobei vom syrischen Regime sogar auf Demonstrationsteilnehmer geschossen worden wäre (Seite 12 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), hätte sie sich nicht bisher mit derart allgemeinen Ausführungen zu ihren Fluchtgründen begnügt. Auch die Erklärungsversuche der Zweitbeschwerdeführerin, weshalb die Teilnahme an Demonstrationen bisher keinen Eingang in ihre Einvernahmen gefunden hätte, waren nicht schlüssig. Sie gab an, dass sie nicht danach befragt worden wären. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sie auch von der erkennenden Richterin nicht ausdrücklich danach befragt wurden, sondern dies in der mündlichen Verhandlung aus Eigenem ausführten (Seite 22 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Die von den Beschwerdeführerinnen abgegebenen Erklärungen boten somit keine schlüssige Erklärung und war das Aussageverhalten der Beschwerdeführerinnen bereits als erstes Indiz für ein nicht glaubhaftes Fluchtvorbringen zu werten.
Doch auch abgesehen davon, vermochten die Beschwerdeführerinnen ihr Fluchtvorbringen nicht glaubhaft zu machen. Ihre Angaben blieben auch in der mündlichen Verhandlung ausgesprochen vage und vermittelten nicht den Eindruck, dass sie von tatsächlich Erlebtem und einer individuellen Bedrohungslage berichteten. So schilderte die Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung wiederum erst auf mehrmalige Nachfragen, dass sie vom Anfang der Revolution bis ca. 2014 sehr oft an Demonstrationen in Syrien teilgenommen habe. Es habe jeden Freitag nach dem Mittagsgebet eine Demonstration gegeben (Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Dabei divergierten bereits die Angaben der Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen zur Anzahl der Teilnahme der Erstbeschwerdeführerin an Demonstrationen. Die Erstbeschwerdeführerin brachte vor, ca. 30 oder 35 Mal an Demonstrationen teilgenommen zu haben wobei man ungefähr zu dieser Zahl gelange, wenn man von Beginn der Revolution an jeden Freitag bis auf Tage ausrechne, an denen es besonders kalt gewesen wäre oder etwas Anderes stattgefunden habe (Seite 12 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dagegen behauptete die Zweitbeschwerdeführerin, sich daran erinnern zu können, dass die Erstbeschwerdeführerin jeden Freitag nach dem Mittagsgebet demonstrieren gegangen sei, wobei sie dies später dahingehend relativierte, dass sie nicht wisse, ob es wirklich jeden Freitag gewesen sei (Seite 23 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Insgesamt ist darauf zu verweisen, dass besonders die Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung einen persönlich unglaubwürdigen Eindruck vermittelte und wirkten ihre Angaben einstudiert. Es fiel auf, dass sie im Verfahren nicht einmal einheitliche Angaben zu ihren eigenen Schulbesuchen tätigte und insbesondere den sechsjährigen Schulbesuch in Syrien in der mündlichen Verhandlung vollkommen unerwähnt ließ (siehe Seite 18 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung; vgl. dazu die näheren Ausführungen unter Punkt 2.1. der Beweiswürdigung). Auch ihre tatsachenwidrigen Angaben zum Verbleib ihres Reisepasses untermauerten weiter ihre persönliche Unglaubwürdigkeit (Seite 21 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). So gab sie nach ihrem Reisepass befragt an, dass die Tasche, in der der Reisepass gewesen wäre, in Griechenland „verloren“ gegangen sei; wohingegen die Erstbeschwerdeführerin ausgeführt hatte, dass sie ihren syrischen Reisepass in Griechenland weggeworfen habe (vgl. AS 47 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin). Die Erklärung der Zweitbeschwerdeführerin, dass sie dies mit „verloren“ gemeint habe (Seite 21 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), vermag angesichts ihrer zuvor getroffenen Wortwahl nicht zu überzeugen. Schließlich waren auch ihre Angaben zur Ausreise ihres Vaters völlig unschlüssig. Die Zweitbeschwerdeführerin konnte nicht einmal ungefähr angeben, seit wann ihr Vater in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt. In Zusammenschau all dieser Umstände, wirkte die Zweitbeschwerdeführerin nicht bestrebt, tatsächlich Erlebtes wiederzugeben, sondern versuchte mit ihren Angaben ausschließlich asyltaktisch zu agieren.
Zum Beweis des Fluchtvorbringens legte die vormalige Rechtsvertretung der Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen mit dem Fristsetzungsantrag kommentarlos ein Dokument vor, bei welchem es sich um die Kopie einer syrischen Strafregisterauskunft der Erstbeschwerdeführerin samt beglaubigter Übersetzung handeln soll (OZ 11 im Gerichtsakt; das Original wurde in der mündlichen Verhandlung zur Einsicht vorgelegt). Der Übersetzung dieser Urkunde zufolge sei die Erstbeschwerdeführerin mit Urteil des Militärgerichtes in Daraa vom 15.10.2016 zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Zunächst erschien bereits das Vorbringen zur vermeintlichen Kenntnisnahme der Beschwerdeführerinnen von einer Verurteilung der Erstbeschwerdeführerin äußerst bemerkenswert. Die Erstbeschwerdeführerin legte in der mündlichen Verhandlung zusammengefasst dar, dass sie eine Cousine väterlicherseits im Libanon habe, die genau denselben Namen trage wie sie. Diese sei einmal nach Syrien gereist, um Prüfungen an der Universität abzulegen, und sei die Cousine dabei am 22.06.2022 bei einem Checkpoint angehalten und genauer bei der Polizei befragt worden. Hiebei habe sich herausgestellt, dass es zu einer Personenverwechslung gekommen sei, weil ihr Vater XXXX und der Vater der Erstbeschwerdeführerin XXXX heiße. Als ihre Cousine wieder im Libanon gewesen sei, habe sie der Erstbeschwerdeführerin davon berichtet. Sie habe daraufhin jemanden beauftragt, nachzuforschen und dabei sei herausgekommen, dass ein Urteil von 2016 gegen die Erstbeschwerdeführerin aufliege (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Sie hätte dann einen entfernten Verwandten damit beauftragt, die Recherche vorzunehmen und dieser hätte der Erstbeschwerdeführerin versichert, dass ihr Name in Syrien aufscheine (Seiten 12 und 13 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Zu dieser Erklärung erscheint zunächst nicht plausibel, wie es zu einer Verwechslung der Erstbeschwerdeführerin mit ihrer Cousine kommen konnte, führen diese doch nicht dasselbe Geburtsdatum. Dass – wie von der Erstbeschwerdeführerin behauptet – seit der Revolution nur auf den Vor- und Nachnamen geachtet würde, ist nur wenig überzeugend (Seite 12 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Die Erstbeschwerdeführerin gab an, dass ihre Cousine, erst nachdem sie Nachweise über ihr Geburtsdatum und die Namen ihrer Eltern beigebracht hätte, freigelassen worden sei. Weshalb die Cousine für diesen einfachen Nachweis, der jedem syrischen Personalausweis zu entnehmen ist (vgl. AS 76 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin), 15 Tage in Haft verbracht haben sollte, ist nicht nachvollziehbar. Nachdem ihre Cousine aus dem Libanon nämlich mit einem gültigen Reisedokument eingereist sein musste, ist es nicht logisch, weshalb sie so lange dafür benötigte, um eine erfolgte Verwechslung mit der Erstbeschwerdeführerin aufzuklären. Würde zudem tatsächlich ein derartiges Urteil gegen die Erstbeschwerdeführerin vorliegen, könnte wohl nicht davon ausgegangen werden, dass die Cousine der Erstbeschwerdeführerin nach Aufklärung der Verwechslung von der Polizei einfach wieder freigelassen worden wäre, um wieder in den Libanon zurückzukehren.
Auffällig war auch, dass eine angeblich bereits im Jahr 2016 erfolgte Verurteilung der Erstbeschwerdeführerin gerade rund drei Monate nach Ergehen einer negativen Asylentscheidung der Beschwerdeführerinnen aufgedeckt wurde. Ausweislich der von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten Dokumente ließen sie am 14.08.2018 die Geburt der Drittbeschwerdeführerin im syrischen Familienausweis eintragen (vgl. AS 73 im Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin) und am 25.01.2021 die Geburtsurkunde der Zweitbeschwerdeführerin in Syrien beglaubigen (vgl. AS 50 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin). Würde tatsächlich eine Verurteilung der Erstbeschwerdeführerin in Syrien aus dem Jahr 2016 bestehen, wäre dies wohl bereits bei einer dieser Gelegenheiten aufgefallen.
Nicht plausibel erschien weiters, wie es zur behaupteten Verurteilung überhaupt gekommen sein soll. Die Erstbeschwerdeführerin wurde ihren eigenen Angaben zufolge bei den Demonstrationen niemals persönlich festgenommen und registriert oder gar inhaftiert und ist sie überdies legal aus Syrien ausgereist. Dass die Regierung Leute unter die Demonstranten eingeschleust hätte, die Aufnahmen und Fotos gemacht hätten, und Namen und Gesicht dazu durch die Aufnahmen erst nach ihrer Ausreise in Zusammenhang gebracht worden wären (Seite 13 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), ist unwahrscheinlich, hatte die Erstbeschwerdeführerin angeblich doch bereits seit dem Jahr 2012 bis ca. 2014 an zahlreichen Demonstrationen teilgenommen.
Nicht nachvollziehbar erscheint zudem, weshalb die Beschwerdeführerinnen besagten Strafregisterauszug nicht direkt dem erkennenden Gericht vorgelegt oder zumindest ein entsprechendes Vorbringen erstattet haben, sondern diesen zunächst noch an den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin in die Vereinigten Arabischen Emirate schicken ließen, um ihn dort beglaubigen zu lassen und erst mit einem Fristsetzungsantrag ein halbes Jahr nach dem Vorfall mit der Cousine vorlegten. Dies wird noch dadurch bekräftigt, dass der angebliche Strafregisterauszug laut Übersetzung ohnedies bereits eine Beglaubigung des syrischen Außenministeriums enthalten soll.
Aus welchem Grund sich ein bloß entfernter Verwandter der Erstbeschwerdeführerin einem derartigen Risiko ausgesetzt haben soll, blieb überdies ebenso völlig offen wie die nähere diesbezügliche Vorgangsweise des Verwandten. Dass die Erstbeschwerdeführerin ihren Verwandten dazu gar nicht befragt hätte, ist nicht schlüssig und ein weiteres Indiz für die Unglaubhaftigkeit ihres Fluchtvorbringens.
Darüber hinaus erweckt die Beschaffenheit der vorgelegten Urkunde den Eindruck, dass diese verfälscht wurde: So fällt auf, dass die angeführten Ziffern sowohl in arabischen Ziffern in der europäischen Variante (insbesondere das Geburtsdatum der Erstbeschwerdeführerin) als auch in indisch-arabischen Ziffern (siehe „ XXXX “ links oben) angeführt werden. Dass sich syrische Behörden variierender Zahlschriften bedienen würden, erscheint nicht lebensnah und stützt das angenommene Kalkül der Unglaubhaftigkeit. Dies wird weiters dadurch untermauert, dass das Feld mit „Art des Verbrechens“ nicht einmal ausgefüllt wurde, sodass davon auszugehen ist, dass es sich hiebei um keine echte syrische Strafregisterauskunft der Erstbeschwerdeführerin handelt.
Das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerinnen, wonach die Erstbeschwerdeführerin und ihre Familienangehörigen in Syrien an Demonstrationen teilgenommen hätten und die Erstbeschwerdeführerin in Syrien verurteilt worden sei, ist insgesamt aufgrund ihrer gesteigerten und unplausiblen Angaben als nicht glaubhaft zu beurteilen. Dass die Beschwerdeführerinnen sich in Syrien auch sonst nicht politisch betätigt haben und keine Mitglieder von politischen Parteien waren, folgt aus den Angaben der Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen. Für die minderjährige Drittbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
2.2.2. Die Feststellungen, dass die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen Mitglieder im in den Feststellungen genannten syrischen Verein sind und dass die Beschwerdeführerinnen in Österreich bei Demonstrationen gegen das syrische Regime anwesend waren, fußt auf ihren Angaben, den vorgelegten Bestätigungen und den dazu vorgelegten Fotos (OZ 6 und 8 im Gerichtsakt der Zweitbeschwerdeführerin; Beilage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung).
Die Beschwerdeführerinnen sind dadurch jedoch nicht derart in das Visier des syrischen Regimes geraten, dass ihnen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsort droht:
Bei dem zunächst vorgelegten Foto, auf dem die Erstbeschwerdeführerin und die Drittbeschwerdeführerin auf einer Demonstration zu sehen sein sollen und dabei an einem öffentlichen Platz in Österreich Flaggen der syrischen Revolution hielten (vgl. Seite 2 der Stellungnahme vom 26.01.2023 in OZ 6 im Gerichtsakt der Zweitbeschwerdeführerin), fällt auf, dass die Erstbeschwerdeführerin ein Kopftuch und eine Gesichtsmaske trägt und somit gar nicht zu erkennen ist. Auf den weiteren, nach der mündlichen Verhandlung vorgelegten Fotos sind die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen neuerlich an öffentlichen Plätzen in Österreich zu sehen, während sie und andere Personen Flaggen der syrischen Revolution hielten (siehe OZ 8 im Gerichtsakt der Zweitbeschwerdeführerin).
Dabei handelte es sich jeweils offenbar um Kundgebungen oder regimekritische Demonstrationen, wobei die Beschwerdeführerinnen in völliger Anonymität zwischen einigen anderen Menschen fotografiert wurden (vgl. auch das in der Stellungnahme genannte Video unter XXXX ). Die Beschwerdeführerinnen haben nicht vorgebracht, dass sie im Zuge dieser Demonstrationen in irgendeiner Weise besonders exponiert gewesen wären, und lässt sich daraus für das Gericht nicht ableiten, dass die Beschwerdeführerinnen derart in das Visier des syrischen Regimes geraten sind, dass ihnen in der Heimat eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht. Insbesondere sind im gesamten Verfahren keine Hinweise zu Tage getreten, dass dies in Syrien bekannt geworden wäre.
Zwar muss den Länderberichten zufolge davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten. Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren (insbesondere dem Hintergrund der Familie) ab. Selbst bei der hypothetischen Annahme, dass die Beschwerdeführerinnen tatsächlich auch an Demonstrationen aktiv teilgenommen hätten, kann noch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür erkannt werden, dass sie dabei von syrischen Spionen identifiziert worden wären. Dies gilt umso mehr, als das Gesicht der Erstbeschwerdeführerin auf zweien von drei Fotos nicht zu erkennen ist, und so ohnehin gar nicht identifiziert werden könnte. Die Beschwerdeführerinnen und ihre Familie sind in Syrien nie als missliebige Personen in das Blickfeld des syrischen Regimes geraten bzw. nie als oppositionell oder regierungsfeindlich wahrgenommen worden. Daher ist vor dem Hintergrund der Länderberichte und unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerdeführerinnen nicht ersichtlich, dass sie durch die Teilnahme an einigen wenigen Demonstrationen in Österreich die Aufmerksamkeit der syrischen Regierung auf sich gezogen hätten und das syrische Regime deshalb an den Beschwerdeführerinnen ein gesteigertes Interesse hätte.
Im Ergebnis war mit Blick auf die ebensowenig glaubhafte Teilnahme an Demonstrationen in Syrien davon auszugehen, dass die vorgelegten Fotos der Beschwerdeführerinnen zum ausschließlichen Zweck inszeniert wurden, um ihnen im Asylverfahren einen Vorteil zu verschaffen, denn trotz ihrer Einreise bereits im Oktober 2021 brachten die Beschwerdeführerinnen erst nach Erhalt einer negativen Asylentscheidung und Ausfolgung einer Ladung zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, in Österreich Mitglied eines Vereins zu sein und an Demonstrationen teilgenommen zu haben.
2.2.3. Auch sonst haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass den Beschwerdeführerinnen aktuell in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkrete und individuelle Gewalt droht:
Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von (alleinstehenden) Frauen in Syrien haben sich keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle (alleinstehenden) Frauen gleichermaßen (vgl. Seiten 5 ff und 16 der Beschwerde) und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Zwar ist den Länderberichten zu entnehmen, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind und in Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand ein höheres Risiko besteht, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Eine systematische Verfolgung aller alleinstehender Frauen, ohne Hinzukommen weiterer konkreter und individueller Eigenschaften (wie fehlenden familiären Anknüpfungspunkten), kann diesen Länderberichten jedoch nicht entnommen werden. Im Fall der Beschwerdeführerinnen hat der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen bereits im Jahr 2007/2008 Syrien verlassen und haben die Beschwerdeführerinnen bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2015 in Syrien gelebt, ohne diesbezüglichen Bedrohungen ausgesetzt gewesen zu sein, wodurch diese Annahme weiter untermauert wird. Darüber hinaus handelt es sich bei der Erstbeschwerdeführerin um eine verheiratete Frau, mag sich ihr Ehemann auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufhalten, und verfügen die Beschwerdeführerinnen über Familienangehörige in Syrien, wodurch die Beschwerdeführerinnen bei einer Rückkehr nicht schutzlos und ohne familiäre Unterstützung wären.
Nicht übersehen wird weiters, dass Kindern allgemein in Syrien ein erhöhtes Risiko von Verfolgung droht und diese als besonders vulnerabel gelten. Dabei wird insbesondere von schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern, Zwangsheirat, Zwangsrekrutierung, Inhaftierung und Folter, sexuellem Missbrauch von Kindern, Kinderarbeit, konfliktbedingten Behinderungen beim Zugang zu Schuldbildung und der Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen berichtet. Dass die minderjährige Drittbeschwerdeführerin allein aufgrund ihrer Eigenschaft als minderjähriges Mädchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt wäre, ist jedoch den Länderfeststellungen nicht zu entnehmen und bietet die Beschwerde (Seiten 2 und 3 der Beschwerde) dafür kein ausreichendes Substrat. Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin ist ein Kind im Kindergartenalter und würde in der Obhut ihrer Familie nach Syrien zurückkehren, wo diese über weiteren familiären Rückhalt verfügt, sodass sie keine gegenüber anderen Kindern exponierte Stellung innehat.
Zur in der Beschwerde weiters vorgebrachten Befürchtung, aufgrund der Flucht männlicher Angehöriger in Syrien als Regimekritiker angesehen zu werden (Seiten 3 und 11 f der Beschwerde), hat sich kein ausreichendes Substrat ergeben. Ausweislich der Länderberichte nimmt die Regierung auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden, sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden und wird solche Kollektivhaft in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. Von den Beschwerdeführerinnen selbst wurde jedoch weder vorgebracht, dass Familienangehörige sich dem Wehrdienst entzogen oder sich sonst oppositionell betätigt hätten. Insbesondere hat der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen Syrien bereits vor dem Konflikt legal und aus beruflichen Gründen verlassen (Seiten 7 und 16 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Schließlich ist nicht ersichtlich, dass den Beschwerdeführerinnen in Syrien aufgrund ihrer Asylantragstellung in Österreich (vgl. Seite 14 der Beschwerde) konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt droht. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zu Syrien haben sich keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle Rückkehrer aus Europa, die dort einen Asylantrag gestellt haben, gleichermaßen und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Zwar ist den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen zu entnehmen, dass die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl als negativ gesehen werden kann, im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Aus den Länderberichten ergibt sich aber nicht, dass jedem Rückkehrer, der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Im Übrigen gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass der syrischen Regierung die Asylantragstellungen der Beschwerdeführerinnen bekannt geworden bzw. die Beschwerdeführerinnen in das Blickfeld des syrischen Regimes geraten sind (siehe dazu schon oben); derzeit ist daher nicht zu erkennen, dass die Beschwerdeführerinnen im Fall einer Rückkehr nach Syrien als Rückkehrer aus Europa mit einer über die bloße Möglichkeit hinausgehenden Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt sind, aus diesem Grund physische oder psychische Gewalt zu erleiden.
2.3. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.
In der mündlichen Verhandlung wurde sichergestellt, dass die Beschwerdeführerinnen bzw. ihre Rechtsvertretungen über die der gegenständlichen Entscheidung zugrundeliegenden Länderberichte verfügen und eine einwöchige Frist zur Abgabe einer diesbezüglichen Stellungnahme eingeräumt (Seite 27 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen wurde nicht entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Die Beschwerden sind rechtzeitig und zulässig.
3.2. Zu A) I. Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Herkunftsstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vgl. auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (vgl. etwa VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vgl. auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkrieges hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182, mwN).
Eine exilpolitische Betätigung im Ausland kann einen asylrelevanten Nachfluchtgrund bilden (vgl. VwGH 19.01.2016, Ra 2015/01/0070, VwGH 07.10.2020, Ra 2019/20/0358, und VwGH 09.12.2021, Ra 2021/18/0381, mwN). Bei der Beurteilung der Gefährdungssituation von "Rückkehrenden" kommt es regelmäßig entscheidend darauf an, ob die asylwerbende Person infolge ihrer exilpolitischen Tätigkeit ins Blickfeld der zuständigen Behörden ihres Herkunftsstaates geraten konnte. Entscheidend ist, wie die exilpolitische Tätigkeit von den Behörden des Herkunftsstaates bewertet würde und welche Konsequenzen sie für die asylwerbende Person hätte (vgl. VwGH 09.12.2021, Ra 2021/18/0381, mwN).
3.2.2. Wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, haben die Beschwerdeführerinnen nicht glaubhaft gemacht, dass sie in Syrien an Demonstrationen teilgenommen haben und die Erstbeschwerdeführerin in Syrien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Es bestehen weiters keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerinnen aufgrund der Mitgliedschaft in einem Verein und der Teilnahme an Demonstrationen in Österreich asylrelevant in das Blickfeld syrischer Behörden geraten sind und als politische Gegnerinnen wahrgenommen und in ihrem Herkunftsgebiet verfolgt werden.
Den Beschwerdeführerinnen droht in Syrien auch keine geschlechtsspezifische Verfolgung, und sind sie darüber hinaus nicht als alleinstehend anzusehen, da sie über ein ausreichendes familiäres Netzwerk in Syrien verfügen.
In Bezug auf die minderjährige Drittbeschwerdeführerin ist zudem festzuhalten, dass es für eine asylrelevante Verfolgung der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund ihrer spezifischen Situation als Kind derzeit keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte gibt. Auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen (VfGH 11.10.2017, E 1803/2017 ua., mwN) ist somit weder aufgrund des Vorbringens noch sonst eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin im Verfahren hervorgekommen.
Schließlich droht den Beschwerdeführerinnen in Syrien, wie dargelegt, derzeit auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer Angehörigeneigenschaft zu Regimekritikern oder ihrer Asylantragstellung in Österreich konkrete und individuelle Gewalt.
Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Syrien und der individuellen Situation der Beschwerdeführerinnen sowie der mangelnden Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens ist insgesamt nicht zu erkennen, dass den Beschwerdeführerinnen in ihrem Herkunftsstaat aktuell eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide sind somit als unbegründet abzuweisen.
3.3. Zu B) Unzulässigkeit der Revisionen:
Gemäß § 25 Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (vgl. beispielsweise VwGH 21.12.2022, Ra 2021/18/0411, mwN).
Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.
Rückverweise