Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Atria als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Schober und die Richterin Mag. a Dr. in Vogler in der Rechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch die Dr. Alexander Knotek und Mag. Florian Knotek, LL.M. Rechtsanwälte GesbR in Baden, gegen die beklagten Parteien 1. B*, geboren **, **, 2. C* AG, (FN **), **, beide vertreten durch die Gruböck, Folta Ferrari GF 2 Rechtsanwälte OG in Baden, wegen zuletzt EUR 15.253,33 s.A., über die Berufung der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 22.7.2025, ** 42 (Berufungsinteresse: EUR 4.769,10), in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 964,82 (darin EUR 160,80 USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die Revision ist jedenfalls unzulässig.
Entscheidungsgründe:
Am 19.6.2024 ereignete sich im Gemeindegebiet von ** auf der **straße (**) ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter des PKWs Alpha Romeo Stelvio, **, und der aus Richtung ** kommende Beklagte als Lenker und Halter des Motorrads Yamaha, **, beteiligt waren.
Der Unfall ereignete sich wie folgt: Der Kläger näherte sich der ** auf der ** Gasse und hielt sein Fahrzeug an, bevor er in die ** nach links (in Fahrtrichtung nach **) einbiegen wollte. Auf dem südlichen (dem ersten zu überquerenden) Fahrstreifen der ** war es zu diesem Zeitpunkt aufgrund des Verkehrsaufkommens zwischen den weiter östlich und westlich der Unfallstelle befindlichen ampelgeregelten Kreuzungen zu einem verkehrsbedingten Stillstand der Fahrzeuge gekommen. Da der unmittelbar vor der Kreuzung westlich haltende (aus Sicht des Klägers von links kommende) Lenker eine Lücke zu dem vor ihm befindlichen Fahrzeug ließ, war es dem Kläger möglich, auf die ** links abbiegend einzufahren. Er setzte sein Fahrzeug in Bewegung, als ihm der links von ihm befindliche Fahrzeuglenker deutete, auf seinen Vorrang zu verzichten. Der Kläger beschleunigte aus seiner Stillstandsposition und konnte erst 0,6 Sekunden vor der Kollision das sich von links auf der gegenüberliegenden Fahrbahn nähernde und aus der Verdeckung der haltenden Fahrzeuge tretende Beklagtenfahrzeug wahrnehmen. Eine kollissionsvermeidende Bremsung war ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.
Gleichzeitig näherte sich der Erstbeklagte ebenfalls aus Westen (von links) kommend mit seinem Motorrad und fuhr dabei links an den in Stillstand befindlichen Fahrzeugen auf dem rechten Fahrstreifen der ** (Richtung **) vorbei und überschritt dabei die Sperrlinie, sodass er zum Teil auch noch auf dem Linksabbiegestreifen der Gegenfahrbahn fuhr.
Es kam dann letztlich zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei der Erstbeklagte über die Motorhaube des Klagsfahrzeugs katapultiert wurde und sich Verletzungen zuzog. Ebenso wurde das Klagsfahrzeug beschädigt und der Kläger verletzt.
Der Kläger begehrte unter Anerkennung eines Mitverschuldens von einem Drittel an dem Unfall zuletzt EUR 15.253,33 zuzüglich Zinsen, mit dem wesentlichen Vorbringen, er habe den von links kommenden und vorschriftswidrig links an der Fahrzeugkolonne vorbeifahrende Erstbeklagten nicht wahrnehmen können. Er habe sich vor Beginn des Fahrmanövers vergewissert, dass er gefahrlos einbiegen könne.
Die Beklagten hielten dem entgegen, den Kläger treffe am Verkehrsunfall das alleinige Verschulden. Der Erstbeklagte sei erst durch sein dem Einfahren des Klägers in die ** geschuldetes Ausweichmanöver auf die linke Straßenseite gekommen. Durch den Unfall sei der Erstbeklagte verletzt worden; es werde aufgrund der selbst erlittenen Verletzungen und Schäden eine Gegenforderung von EUR 6.717,12 eingewandt.
Das Erstgericht stellte das Klagebegehren mit EUR 15.253,33 und die Gegenforderung mit EUR 1.911,52 jeweils als zu Recht bestehend fest und verurteilte die Beklagten zur Zahlung von EUR 13.341,81 zuzüglich Zinsen. Dabei ging es von den eingangs angeführten und den auf den Seiten 3 bis 5 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Feststellungen aus, auf die verwiesen wird.
Rechtlich folgerte es, dass das im § 9 Abs 1 StVO statuierte Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie eine wichtige Vorschrift sei, die dem Schutz aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie fahrenden Verkehrsteilnehmer diene. Dies treffe auch auf den Verkehrsteilnehmer - wie hier den Kläger - zu, der aufgrund seiner Wartepflicht gegenüber dem auf allen vier Fahrstreifen der bevorrangten Straße fließenden Verkehr vor der bevorrangten Straße anhalten und dann ein Linksabbiegemanöver über die näher gelegene, mit nach rechts fahrenden Verkehr versehenen Fahrstreifen in den nach links führenden Fahrstreifen durchgeführt habe. In diesem Fall dürfe sich der nach links Einbiegende darauf verlassen, dass von links und damit jenseits der sichtbar angebrachten Sperrlinie kein Fahrzeug komme.
Den Erstbeklagten, der in Missachtung der Sperrlinie auf der mit entgegen seiner Fahrtrichtung weisenden Linksabbiegepfeilen gekennzeichneten, für den Gegenverkehr bestimmten Fahrbahn auf die Unfallkreuzung zugefahren sei, treffe daher jedenfalls ein Verschulden von zumindest zwei Drittel.
Ausschließlich gegen die Verschuldungsteilung (von 1:2) richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die Klageforderung mit EUR 11.440 und die Gegenforderung mit EUR 2.867,29 als zu Recht bestehend anzuerkennen (entspricht einer Verschuldungsteilung von 1:1), sodass die Beklagten dem Kläger nur EUR 8.572,71 zuzüglich Zinsen zu bezahlen hätten; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Der Kläger habe eine Vorrangverletzung zu verantworten. Nach ständiger Rechtsprechung wiege eine Vorrangverletzung schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten, wie etwa auch das Überfahren einer Sperrlinie. Beispielsweise sei zu 8 Ob 249/80 bei einem lediglichen Überfahren der Fahrbahnmitte eine Verschuldensteilung von 1:3 zu Lasten des benachrangten Lenkers als angemessen eingestuft worden. Daher sei evident, dass selbst bei einem Überfahren einer Sperrlinie eine Verschuldensteilung von 1:1 angemessen wäre, und nicht jene wie sie das Erstgericht vorgenommen habe. Der Verstoß des Erstbeklagten (Überfahren der Sperrlinie) trete im Vergleich zur krassen Vorrangverletzung des Klägers zwar nicht gänzlich in den Hintergrund, rechtfertige aber jedenfalls ein gleichteiliges Verschulden am Zustandekommen des Unfalls. Es handle sich beim Kläger definitiv nicht um einen solchen „jenseits der Sperrlinie fahrenden Verkehrsteilnehmer“ , sodass dieser nicht in den Schutzbereich dieser Norm falle.
2. Diese Ausführungen überzeugen nicht, sodass vorab auf die zutreffende rechtliche Beurteilung des Erstgerichts verwiesen werden kann (§ 500a ZPO).
2.1 Ergänzend dazu kann noch Folgendes angeführt werden: Nach der Judikatur geht der Vorrang durch die Übertretung von Verkehrsvorschriften grundsätzlich nicht verloren; dies gilt aber dann nicht, wenn der Wartepflichtige mit einer derartigen Fahrweise nicht rechnen musste bzw bei besonders krassen Verkehrswidrigkeiten (RS0074976 [T11 bis T14]).
So verliert der Grundsatz dann seine Wirkung, wenn der auf der bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer vom Wartepflichtigen nicht oder nicht aus dieser Annäherungsrichtung erwartet werden kann (RS0073421). Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benutzt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen (RS0073375). Die frühere Rechtsmeinung, dass eine Verwirkung des Vorrangs auch dann nicht eintritt, wenn der bevorrangte Verkehrsteilnehmer im Zuge eines Überholmanövers vor dem Zusammenstoß eine Sperrfläche überfährt, wurde vom Obersten Gerichtshof seit der Entscheidung zu 2 Ob 33/94 in dieser allgemeinen Form nicht mehr aufrecht erhalten (RS0073418 [T2]).
Im vorliegenden Fall musste der Kläger aufgrund des Vorrangverzichts des von links kommenden Fahrzeugs mit dem auch von links, jenseits der sichtbar angebrachten Sperrlinie kommenden Erstbeklagten nicht rechnen. Ein weiteres Vortasten wegen einer möglichen Gefahrenquelle aufgrund eines von links kommenden Verkehrsteilnehmers war unter diesen Umständen nicht notwendig. Da der Kläger den Erstbeklagten und sein verkehrswidriges Fahrmanöver erst 0,6 s vor der Kollision wahrnehmen hat können, weil dieser erst so kurze Zeit vorher aus der Verdeckung der haltenden Fahrzeuge von links sichtbar wurde, war eine kollisionsvermeidende Bremsung nicht mehr möglich.
Auf Basis des festgestellten Unfallhergangs ist der Erstbeklagte nicht erlaubt im Sinne des § 12 Abs 5 StVO vorbeigefahren, sondern hat neben dem Verbot des Überfahrens der Sperrlinie (§ 9 Abs 1 StVO) auch gegen das Verbot des Vorbeifahrens iSd § 17 Abs 4 StVO verstoßen (RS0126191), weil dabei die Sperrlinie nicht hätte überfahren werden dürfen (vgl Pürstl , StVO-ON 16 § 17 Anm 2). Auch wenn das Verbot, die Sperrlinie zu überfahren, grundsätzlich der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer und insbesondere der des Gegenverkehrs dient (vgl 2 Ob 99/83), können auch andere (etwa aus dem Querverkehr – wie hier der Kläger –) vom Schutzzweck erfasst sein (RS0027607 [T3]; 2 Ob 284/02g).
2.2 Vor diesem Hintergrund kann nicht nachvollzogen werden, warum die Vorrangverletzung des Klägers gegenüber dem zweifach verbotswidrigen Fahrverhalten des Erstbeklagten gleich gewichtet werden sollte, zumal er im - nicht unberechtigten - Vertrauen darauf, dass wegen der angehaltenen Fahrzeuge und wegen der Begrenzung der Fahrtrichtung durch die Sperrlinie keine Verkehrsteilnehmer aus der von links kommenden Richtung mehr kommen dürften (vgl 2 Ob 284/02g).
Im Ergebnis überwiegen die dem Erstbeklagten am Unfall zuzurechnenden Sorgfaltswidrigkeiten, sodass die Verschuldensteilung des Erstgerichts von 2:1 nicht zu korrigieren ist.
Der Berufung war der Erfolg zu versagen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 Abs 1 ZPO, wobei dem Kläger diese Kosten nur auf Basis des Berufungsstreitwerts zuzusprechen waren. Ihm gebührt für die Berufungsbeantwortung auch nur der dreifache Einheitssatz (§ 23 Abs 9 RATG).
Da der Entscheidungsgegenstand, über den das Berufungsgericht abgesprochen hat, EUR 5.000 nicht übersteigt, war auszusprechen, dass der weitere Rechtszug gemäß § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig ist.
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