Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Pöhlmann als Vorsitzenden, die Richterinnen Mag. Oberbauer und Mag.Dr. Vogler sowie die fachkundigen Laienrichter Wolfgang Handlbichler und Mag. Reinhold Wipfel in der Sozialrechtssache des Klägers mj. A*, geb. **, **, vertreten die Mutter B*, ebendort, diese vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die Beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau , **, vertreten durch Mag. Josef Weiner, ebendort, wegen Kostenerstattung, über die Berufung der Beklagten (Berufungsinteresse: EUR 4.070,41) gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 14.3.2025, **-16, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen die mit EUR 731,90 (darin enthalten EUR 121,98 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 3.11.2023 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 21.12.2022 auf Kostenerstattung für eine C* Vibrationsplatte [in Folge auch kurz: Vibrations- oder Rüttelplatte] laut Rechnung der D* GmbH, **, über EUR 4.070,41 ab, weil es sich dabei nicht um ein Medizinprodukt handle.
Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, die Kosten für die auch ärztlich verordnete Vibrationsplatte zu erstatten. Der Kläger leide an einer Störung der Bewegungs- und Haltungsregulation sowie Muskelspannungen und „profitiere“ durch die Verwendung dieses Heilbehelfs bzw Hilfsmittels.
Die Beklagte bestritt das Klagebegehren im wesentlichen mit der bereits im Bescheid vertretenen Rechtsansicht, es handle sich um ein allgemeines Trainingsgerät und nicht um ein medizinisches Produkt und damit um keinen Heilbehelf.
Mit dem angefochtenen Urteil verpflichtete das Erstgericht die Beklagte, dem Kläger die Kosten der Vibrationsplatte zu ersetzen. Es traf folgende Feststellungen:
Der am ** geborene Kläger leidet an einer paraspastische Gangstörung links betont anamnestisch kausal durch ein Aicardi-Goutilères Syndrom. Das bedeutet, dass beide unteren Extremitäten nach innen gebeugt sind und die Knie knapp aneinander beim Gehen reiben sowie die Füße leicht nach innen gedreht sind. Es handelt sich um ein neurologisch typisches Bild. Die Krankheitsursache, das Aicardi-Goutilères Syndrom ist im Gehirn gelegen, das bedeutet, dass es durch eine Anlagestörung von bestimmten Gehirnzellen zu einer fehlerhaften Innervation der langen motorischen Nervenbahnen kommt. Im Gehirn liegen die Nervenkerne, die für die Motorik der Beine verantwortlich sind.
Bei der Erkrankung handelt es sich um eine Erkrankung des Gehirns und nicht primär der Muskulatur. Die Muskeln haben aber durch die Gehirnkrankheit einen gestörten Tonus, weil sie anders angesteuert werden. Durch äußere Reize kann man den Tonus positiv beeinflussen, das kann man durch eine Physiotherapie machen, aber auch durch Geräte wie eine Rüttelplatte, auch durch Hypotherapie [richtig wohl: Hippotherapie] oder durch Hydrotherapie. All diese Maßnahmen bewirken eine vorübergehende Besserung des Muskeltonus, aber sie beeinflussen nicht die Krankheit im Gehirn selbst. Wenn man diese Therapiemaßnahmen nicht fortführt, wird die Krankheit im Gehirn nicht schlechter. Die Auswirkungen der Krankheit werden durch Behandlungsmaßnahmen, und zwar durch eine Besserung des Muskeltonus, vorübergehend verbessert. Wenn der Muskeltonus sich bessert, wird die Körperhaltung und das Gangbild verbessert.
Der Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde verordnete dem Kläger eine C* Vibrationsplatte.
Die C* Vibrationsplatte ist ein Gerät für den Hausgebrauch ohne Griff. Es bewirkt eine Lockerung und Stärkung der Rückenmuskulatur, eine Stärkung der Beckenbodenmuskulatur und der Durchblutung. Die Muskulatur ua am Stamm und den Extremitäten wird auf physiologische Weise aktiviert und führt zur Verbesserung der Muskelkraft, Koordination, Bewegungs- und Haltungsregulation. Vom Reha-Zentrum E* wurde eine weiterführende Physiotherapie sowie regelmäßiges Galileotraining zu Hause empfohlen.
Die Rüttelplatte wirkt nicht auf die Nerven. Sie wirkt sich vielmehr auf den Regelkreis der Motorik aus, indem sie die Reflexe provoziert für die Koordination und für den Muskeltonus, dadurch verbessert sie die Funktion.
Die Koordination eines Menschen besteht einerseits auf Informationen von sensiblen Nerven und andererseits aus motorischen Impulsen, die die Muskeln ansteuern. Beides wird koordiniert vom Gehirn und vom Rückenmark und führt dazu, dass zum Beispiel beim Gehen auf einer unebenen Fläche die Muskel verstärkt angesteuert werden, die einer aufrechten Körperhaltung dienen. Auf einer Rüttelplatte wird das je nach Frequenz des Gerätes schnell und kurz hintereinander stimuliert. Das fördert den Reflex. Dieser Reflex ist ein grundsätzlich natürlicher Mechanismus, der auch durch Geräte von außen nicht veränderbar ist. Es wird aber vorübergehend eine gewisse Konditionierung erreicht, wenn auch keine anhaltende Veränderung des Organsystems. Für kurze Zeit nach der Anwendung passiert eine Änderung der Funktion durch Bannung dieser Reflexe. Der Effekt hält ein paar Stunden bis zu ein bis zwei Tage an.
Die periphere Behandlung an den Füßen hat zwar primär keinen Einfluss auf die Krankheit. Sekundär wird durch der Therapie aber Unterstützung gegeben, indem die Sensibilität von den unteren Extremitäten durch die Stimulation mit der Rüttelplatte bzw. einem geeigneten Therapiegerät (C*) trainiert und stimuliert wird und sich dies wiederum auf den Regelkreis der Motorik auswirkt. Eine grundlegende und dauerhafte Krankenbehandlung (kurativ) der Grunderkrankung [ist] medizinisch nicht möglich. Es ist medizinisch nicht relevant, ob das periphere Stimulationsgerät ein „C*“ ist oder eine andere Rüttelplatte ohne Markenbezeichnung. Bei der Anwendung des Gerätes „C*“ handelt es sich um eine unterstützende Maßnahme zur Erhaltung der motorischen Fähigkeiten, vorübergehenden Besserung der Funktionseinschränkung und Lockerung der Muskulatur.
Rechtlich folgerte das Erstgericht, nach den auch hier zur Anwendung kommenden Grundsätzen des ASVG müsse eine notwendige Krankenbehandlung nicht die vollständige Heilung zum Gegenstand haben, vielmehr reiche bereits, wenn die Besserung des Leidens oder die Verhütung von Verschlimmerungen bezweckt werde. Grundsätzlich könne daher auch ein Trainingsgerät als Heilbehelf zu qualifizieren sein, so auch die hier zu beurteilende Vibrationsplatte, weil dessen konsequente Verwendung geeignet sei, in diesem Sinn die Funktionseinschränkung des Klägers zu verbessern. Dieses somit notwendige Trainingsgerät sei daher als Heilbehelf zu werten.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem auf Klagsabweisung gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Der Kläger beantragt, die Berufung „abzuweisen“.
Die Berufung ist nicht berechtigt.
Im Kern der Berufung wiederholt die Beklagte ihr erstinstanzliches Vorbringen, wonach es sich um ein allgemeines Trainingsgerät und nicht um ein medizinisches Produkt und damit um keinen Heilbehelf handle.
1. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 62 Abs 1 B KUVG ärztliche Hilfe (§ 63 B-KUVG), Heilmittel (§ 64 B-KUVG) sowie Heilbehelfe und Hilfsmittel (§ 65 B-KUVG). Die Krankenbehandlung muss nach § 62 Abs 2 B-KUVG ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Nach der bereits vom Erstgericht zutreffend wiedergegebene Rechtsprechung sind unter „Heilbehelfen“ solche Behelfe zu verstehen, die der Heilung, Linderung oder Verhütung von Verschlimmerungen der Krankheit dienen, während „Hilfsmittel“ erst nach Abschluss des Heilungsprozesses zum Einsatz gelangen (RS0109536; RS0109537; RS0106160). Letztere werden zur Milderung oder Behebung wesentlicher Beeinträchtigungen bei Verstümmelungen, Verunstaltungen und körperlichen Gebrechen eingesetzt (RS0084070).
Folglich kann ein und derselbe Gegenstand einmal Heilbehelf und einmal Hilfsmittel sein (10 ObS 258/02t; 10 ObS 70/11h). Entscheidend ist für die Beantwortung der oftmals schwierigen Abgrenzungsfrage, ob der Versicherte an einer Krankheit oder an einem Gebrechen leidet, insbesondere bei Dauerleiden. Nach ständiger Rechtsprechung muss eine notwendige Krankenbehandlung und damit der Einsatz eines Heilbehelfs nicht die endgültige und vollständige Heilung des Patienten zum Gegenstand haben, solange sie die Besserung des Leidens oder die Verhütung von Verschlimmerungen bezweckt (RS0106403).
1.1 In diesem Sinn hat das Erstgericht unbekämpft festgestellt, dass die Verwendung der hier strittigen Vibrationsplatte zwar keinen direkten Einfluss auf die (Nerven-)Krankheit des Klägers habe, durch diese Stimulation werde jedoch die Sensibilität seiner unteren Extremitäten trainiert und stimuliert, was sich wiederum auf die Motorik (gemeint: im Sinne einer Verbesserung) auswirke. Die Maßnahme unterstütze daher die motorischen Fähigkeiten und führe zu einer vorübergehenden Besserung der bestehenden Funktionseinschränkung sowie zu einer Lockerung der Muskulatur (US 5).
Auf dieser Grundlage ist dem Erstgericht zuzustimmen, dass diese Verbesserungsmöglichkeit der Funktionseinschränkung des Klägers sein Leiden im Sinne der dargelegten Definition als Krankheit und nicht als Gebrechen qualifizieren lässt, was auch zur Beurteilung der Vibrationsplatte als Heilbehelf führt. Dass diese Verbesserung nur vorübergehend eintritt, steht dieser Beurteilung nicht entgegen, weil dies auch auf andere, ausdrücklich exemplarisch aufgezählte Heilbehelfe zutrifft. Auch Brillen, orthopädische Schuheinlagen oÄ bewirken nur während der jeweiligen Verwendung eine entsprechende Besserung des Leidens (der Symptome), ohne eine vollständige oder teilweise Heilung der eigentlichen Krankheit herbeizuführen. Die fehlende Heilungs- oder Besserungsmöglichkeit der Krankheit selbst kann daher auch für die Vibrationsplatte keine Voraussetzung sein.
1.2 Dass es sich nicht um ein ausgesprochenes „ Medizinprodukt “ handelt, ist zwar nach den Feststellungen zutreffend, jedoch ist nicht erkennbar, warum dieser Umstand der Qualifikation als Heilbehelf iSd § 65 B-KUVG entgegen stehen soll. Die erforderliche ärztliche Verschreibung der Vibrationsplatte ist unstrittig, sodass jedenfalls eine Krankenbehandlung vorliegt (vgl RS0106405).
2. Mit ihrem Vorbringen, wonach vergleichbare Geräte auch in Supermärkten erhältlich seien, weshalb das Maß des Notwendigen iSd § 62 Abs 2 B-KUVG überschritten werde, verstößt die Beklagte mangels substanziierten Vorbringens in erster Instanz gegen das Neuerungsverbot, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist. Das bloße Zitat der betreffenden Bestimmung ersetzt ein inhaltliches Vorbringen nicht (vgl ON 3, S 2). Gleiches gilt für das neue Vorbringen zur Höhe des Klagszuspruchs, die in erster Instanz ebenso nicht substanziiert bestritten wurde.
3. Insgesamt war der Berufung daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO war die ordentliche Revision nicht zuzulassen.
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