Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in der Rechtssache der klagenden Partei ***** , vertreten durch die CMS Reich-Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei ***** , vertreten durch die Gassauer-Fleissner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Unterlassung, Beseitigung, Urteilsveröffentlichung, Auskunft, Rechnungslegung und Zahlung (Gesamtstreitwert EUR 70.000) gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 28.3.2019, 62 Cg 51/18i 13, in nichtöffentlicher Sitzung
I. durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden und die Richter Dr. Terlitza und Dr. Thunhart den
Beschluss
gefasst:
Die Berufung wegen Nichtigkeit wird verworfen.
II. sowie durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Thunhart und den Patentanwalt DI Dr. Poth den
Beschluss
gefasst:
Im Übrigen wird der Berufung Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Die Klägerin begehrt von der Beklagten (1.) es zu unterlassen, Waagen mit Merkmalen des Patents EP 1371954 B2 „ Waage “ zu vertreiben, (2.) die seit 23.9.2009 an gewerbliche Abnehmer ausgelieferten Waagen zurückzurufen, (3.) die in ihrem Eigentum stehenden Waagen zu beseitigen, (4.) die Ermächtigung zur Urteilsveröffentlichung (a.) auf ihrer Homepage und (b.) auf den Websites und in den Broschüren der in Österreich belieferten Elektrofachmärkte sowie (5. bis 7.) Auskunft, Rechnungslegung und Zahlung des sich daraus ergebenden Entschädigungsbetrags. Die Klägerin brachte dazu vor, dass die Beklagte Elektrofachmärkte in Österreich mit den Personen- und Küchenwaagen [...] beliefere, die insbesondere aufgrund des „kapazitiven Näherungssensors“ in den Schutzbereich des Patents der Klägerin eingreifen würden.
Dieses Patent hat folgende Ansprüche:
«1. Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.
2. Waage nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Elektrode (18) eine elektrisch leitende Druckschicht (32) unter der Tragplatte (4) aufweist.
3. Waage nach Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Druckschicht (32) einen elektrisch leitenden Lack oder Graphit enthält.
4. Waage nach einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass die Elektrode (18) eine zumindest in einem Teilbereich elektrisch leitende Bedampfungsschicht (34) unter der Tragplatte (4) aufweist.
5. Waage nach einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass eine an der Tragplatte (4) unmittelbar oder über ein Zwischenelement (42) anliegende Wägezelle (6) vorgesehen ist, wobei das mit der Tragplatte (4) in Berührung stehende Zwischenelement (42) die Elektrode (44) bildet.
6. Waage nach einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass die Elektrode (38) ein elektrisch leitendes, an der Tragplatte (4) angebrachtes Metallelement aufweist.
7. Waage nach Anspruch 6, dadurch gekennzeichnet, dass das Metallelement an die Tragplatte angeklebt ist und aus einer Metallfolie oder aus einem gestanzten Blech besteht.
8. Waage nach einem der vorhergehenden Ansprüche, dadurch gekennzeichnet, dass mindestens zwei einen kapazitiven Näherungsschalter aufweisende Schaltvorrichtungen (16, 24) vorgesehen sind, wobei die Schaltvorrichtungen (16, 24) in unterschiedlichen Bereichen der Tragplatte (4) angeordnet und zur Schaltung unterschiedlicher Funktionen vorgesehen sind, wobei eine Funktion im Einschalten der [W]aage besteht.
9. Waage nach einem der Ansprüche 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, dass die Tragplatte (4) eine Glasplatte ist.»
Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und brachte ihrerseits vor, dass der in der Körperwaage [...] verbaute kapazitive Sensor nicht dem Ein- und Ausschalten, sondern der Voreinstellung bestimmter Parameter diene, weshalb von der technischen Lehre des Patents der Klägerin kein Gebrauch gemacht worden sei. Die Küchenwaagen [...] würden nicht in das Patent eingreifen, weil bei diesen Modellen kein Näherungssensor, der berührungslos funktioniere, verbaut sei. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf einen Rückruf der verkauften Waagen, weil die Beklagte nach der Auslieferung keine Verfügungsgewalt über diese Waagen mehr habe.
Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Erstgericht dem Klagebegehren mit Ausnahme des (zu 2.) begehrten Rückrufs der bereits ausgelieferten Waagen und der (zu 4.b.) begehrten Urteilsveröffentlichung über die Websites und Broschüren der belieferten Elektrofachmärkte statt. Dabei traf es die auf Seite 5 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen und aus der die folgende Passage hervorgehoben wird:
«Die Waagen [...] sind jeweils mit einer Tragplatte aus Glas (elektrisch nicht leitendes Material) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse sowie mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- und Anwahl einer Funktion der Waage ausgestattet. In den Waagen ist jeweils ein kapazitiver Schalter, der mit der Tragplatte fest verbunden ist, verbaut (./O). Die Elektroden der Waagen sind unter der Tragplatte angeordnet.
Die Waage [...] kann über die elektrische Schaltvorrichtung oder über die Drucksensoren in den Füßen in Betrieb genommen werden. Durch Berühren der auf der Tragplatte angezeichneten Menüpfeile wird die elektrische Schaltvorrichtung betätigt und es erscheint für den Benutzer zuerst ein Personenauswahlmenü. Nach kurzer Zeit wechselt die Waage selbsttätig in den Wägemodus; dies unabhängig davon, ob eine Person ausgewählt wurde und ob sich eine zu wiegende Masse auf der Glasplatte befindet.
Bei den Waagen [...] wird durch Berühren des auf der Tragplatte angezeichneten An-/Ausschalt-Feldes die elektrische Schaltvorrichtung betätigt und die Waagen in den Wägemodus versetzt.
Bei allen Waagen ist die elektrische Schaltvorrichtung nicht als Druckschalter ausgeführt. Sie reagiert auf Berührung der Tragplatte, ohne dass dabei Druck auf diese ausgeübt wird. Eine sehr leichte, möglichst minimale Berührung der Tragplatte im vorgesehenen Bereich löst bei den Waagen keine Schalthandlung aus.»
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass die von der Beklagten vertriebenen Waagen das Patent der Klägerin verletzen würden, weil zwischen dem in den Waagen verbauten kapazitiven Berührungsschalter und dem im Patent genannten kapazitiven Näherungsschalter kein physikalischer Unterschied bestehe. In beiden Fällen werde nämlich die Umgebungskapazität im Umfeld einer Elektrode überwacht, die sich bei Annäherung oder Berührung ändere und eine Schaltung auslöse. Ob die Schaltung schon bei bloßer Annäherung oder erst bei Berührung anspreche, sei nur eine Frage der Sensitivität der Schaltung. Damit würden die Waagen [...] sämtliche Merkmale des Patentanspruchs der Beklagten verwirklichen.
Die Beklagte habe daher Anspruch auf Unterlassung des Vertriebs und auf Beseitigung der Waagen, die sich noch bei der Beklagten befinden. Die Klägerin habe aber keinen Anspruch auf Rückholung der bereits veräußerten Waagen, weil sie über diese Waagen keine Verfügungsmacht habe. Es bestehe ein berechtigtes Interesse an der Urteilsveröffentlichung, doch sei das Begehren hinsichtlich der Websites und Broschüren der belieferten Elektrofachmärkte abzuweisen, weil es sich um Medien Dritter handle, denen keine Verpflichtung zur Veröffentlichung auferlegt werden könne. Schließlich sei der Klägerin ein Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruch zuzubilligen, damit sie ihren Entschädigungsanspruch beziffern könne.
Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten aus den Berufungsgründen der Nichtigkeit, der Aktenwidrigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass das Klagebegehren vollinhaltlich abgewiesen werde, in eventu das Urteil aufzuheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die Berufung ist im Aufhebungsantrag berechtigt.
Zur Nichtigkeitsberufung:
1.1. Die Beklagte macht als Nichtigkeit geltend, dass die Klägerin bereits beim Landgericht Düsseldorf eine Unterlassungsklage eingebracht habe, mit welcher der Beklagten der Vertrieb der Waagen in Deutschland untersagt werden solle. Den Klagen liege der idente Sachverhalt zugrunde, nämlich dass die Beklagte solche Waagen aus Deutschland an österreichische Elektrofachmärkte geliefert habe. Das Erstgericht hätte das Verfahren deshalb aussetzen müssen.
1.2. Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so hat das später angerufene Gericht nach Art 27 Abs 1 EuGVVO das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Das Gericht hat die Voraussetzungen des Art 29 Abs 1 EuGVVO von Amts wegen zu prüfen, sobald Umstände darauf hindeuten, dass derselbe Rechtstreit bereits vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats anhängig sein könnte ( Wallner-Friedl in Czernich/Kodek/Mayr 4 Art 29 EuGVVO Rz 35).
1.3. Die Beklagte legte dazu mit der Berufung eine von der Klägerin gegen die Beklagte am 11.4.2018 beim Landgericht Düsseldorf eingebrachte Klage als Beilage ./7 vor, die auf Unterlassung des Vertriebs von Waagen mit Merkmalen des Patents der Klägerin EP 1371954 sowie Beseitigung, Auskunft, Rechnungslegung und Zahlung des sich daraus ergebenden Entschädigungsbetrags gerichtet ist. Die Echtheit der vorgelegten Urkunden wird von der Klägerin in ihrer Rechtsmittelbeantwortung nicht bestritten.
1.4. Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt eine Identität des Streitgegenstands vor, wenn beide Klagen dieselbe „Grundlage“ und denselben „Gegenstand“ betreffen (RIS-Justiz RS0111769; RS0118405). Nach der „Kernpunkttheorie“ ist derselbe Anspruch bereits gegeben, wenn es im Kern um denselben Streit geht (RIS-Justiz RS0111769 [T8, T10, T14] sowie mwN Mayr in Fasching/Konecny 2 Art 27 EuGVVO Rz 14 ff).
1.5. Die Klägerin leitet ihre Ansprüche in beiden Verfahren aus dem für sie zu EP 1371954 eingetragenen europäischen Patent ab. Aus Art 2 Abs 2 und Art 64 Abs 1 EPÜ ergibt sich aber, dass das europäische Patent weiterhin dem nationalen Recht jedes der Vertragsstaaten unterliegt, für die es erteilt worden ist. Deshalb ist auch jede Klage wegen Verletzung eines europäischen Patents anhand des jeweiligen nationalen Rechts zu prüfen. Den in verschiedenen Vertragsstaaten eingebrachte Klagen wegen Verletzung des europäischen Patents liegt deshalb nicht die selbe Rechtslage zugrunde (EuGH C-539/03 Roche Nederland BV ua gegen Frederick Primus und Milton Goldberg Rz 31).
1.6. Aufgrund der jeweils unterschiedlichen nationalen Rechtslage betreffen Klagen aus der Verletzung verschiedener nationaler Teile eines europäischen Patents – auch unter Anwendung der zu Art 27 EuGVVO entwickelten Kernpunkttheorie – nicht denselben Streitgegenstand (OLG Düsseldorf 2 U 76/99 IPRspr 2000 Nr 128;
1.7. Da sich die Klägerin in der beim Landgericht Düsseldorf eingebrachten Klage auf Verletzungshandlungen in Deutschland und damit auf den deutschen Teil des zu EP 1371954 für sie eingetragenen europäischen Patents stützt, sich in der beim Handelsgericht Wien eingebrachten Klage aber ausdrücklich auf den österreichischen Teil dieses Patents beruft, handelt es sich nicht um denselben Streitgegenstand, weshalb die beim Landgericht Düsseldorf eingebrachte Klage der Fortsetzung des beim Handelsgericht Wien geführten Verfahrens nicht entgegensteht. Die behauptete Nichtigkeit war dementsprechend zu verneinen.
Zur Verfahrensrüge:
2.1. Die Beklagte rügt als Verfahrensmangel, dass das Erstgericht keinen Sachverständigen bestellt habe, sondern die Feststellungen, wonach bei den Waagen kein „Druckschalter“ vorhanden sei, bloß aufgrund eines Augenscheins der Waage „BS 444 Connect“ getroffen habe.
2.2. Das Erstgericht führt in der Beweiswürdigung aus, dass sich die Senatsmitglieder von der Funktionsweise der Waagen durch eigenhändiges Inbetriebnehmen und Betätigen der Schaltvorrichtung überzeugen konnten:
«Von der Funktionsweise der Waagen konnten sich die Senatsmitglieder durch eigenhändiges Inbetriebnehmen und Betätigen der Schaltvorrichtungen überzeugen (./T, ./U1, ./U2).»
Welche Ergebnisse dieser Augenschein gebracht hat, ist im Akt nicht dokumentiert: Er fand nicht in der einzigen Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung statt, die für den 3.12.2018 anberaumt war. In dieser Tagsatzung lag ein Exemplar von [...] als Beilage ./T vor. Die Verhandlung wurde nach § 193 Abs 3 ZPO geschlossen, offenbar um das Eintreffen der Gegenstände [...] abzuwarten. Die im Urteil zitierte Beilage ./U lag in der Verhandlung noch nicht vor.
Aus den im Urteil getroffenen Feststellungen ergibt sich, dass die Trägerplatte der Waagen auf Berührung reagierte, ohne dass dabei „Druck ausgeübt“ werden musste, nicht aber bei einer „sehr leichten, minimalen“ Berührung.
2.3. Zu Recht verweist die Beklagte auf die Widersprüchlichkeit dieser Feststellungen. Jedenfalls lässt eine solche Beobachtung keine Rückschlüsse darauf zu, ob in den Waagen ein Druck-, Berührungs- oder Näherungssensor verbaut ist. Im Übrigen hat die Beklagte in der Klagebeantwortung Seite 4 ausdrücklich bestritten, dass die Einschaltfunktion der Waage [...] über einen „kapazitiven Schalter“ gesteuert würde und dazu die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
2.4. Die Feststellungen zur Art der in den Waagen der Beklagten verbauten elektrischen Schaltung und ihrer Funktion sind entscheidungswesentlich, weil davon abhängt, ob in das Patent der Klägerin eingegriffen wurde. Eine Ergänzung des Beweisverfahrens durch das Berufungsgericht ist angesichts des einzuholenden Sachverständigengutachtens und des damit voraussichtlich noch verbundenen Erörterungsbedarfs nach § 496 Abs 3 ZPO untunlich (RIS-Justiz RS0042126).
2.5. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren ein Sachverständigengutachten einzuholen und auf dieser Grundlage Feststellungen zu treffen haben, aus denen sich ergibt, welche Schaltung in den Waagen der Beklagten verbaut ist, um die Waagen einzuschalten, und ob diese Schaltvorrichtung der im Patent der Klägerin vorgeschlagenen technischen Lösung entspricht.
3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Rückverweise
Keine Verweise gefunden