Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende, die Richter Mag. Atria und Mag. Pöhlmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Daniel Staudigl und Renate Müller in der Sozialrechtssache der Klägerin R***** B***** , *****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Kremser Landstraße 5, 3100 St. Pölten, wegen Pflegegeld, über die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 13.11.2012, 40 Cgs 61/12i - 9, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin ab dem 1.11.2011 Pflegegeld der Stufe 1 in der Höhe von EUR 154,20 monatlich zu bezahlen, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden jeweils am Ersten des Folgemonats im Nachhinein.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit EUR 544,13 (darin EUR 90,69 USt) bestimmten Kosten der Berufung binnen 14 Tagen zu bezahlen.
Die ordentliche Revision ist zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Klagebegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld in Höhe von mindestens der Stufe 1 ab dem 1.11.2011 abgewiesen.
Dabei legte das Erstgericht seiner Entscheidung den auf den Seiten 2 und 3 der Urteilsausfertigung wiedergegebenen Sachverhalt zugrunde, auf den zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird.
Daraus ist hervorzuheben, dass der am 10.11.1965 geborenen Klägerin im Jahr 2011 nach einem Verkehrsunfall das linke Bein oberhalb des Kniegelenks amputiert wurde. Auf Grund des amputierten linken Beines ist die Klägerin in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Der Klägerin ist die Benützung von zwei Stützkrücken zur Fortbewegung und einer Stützkrücke zum Stehen grundsätzlich möglich. Die Klägerin bewegt sich jedoch derzeit bevorzugt mit einem Rollstuhl fort, da sie sich mit den Stützkrücken noch unsicher fühle und am 13.6.2011 beim Aussteigen aus der Dusche gestürzt sei. Zur Verbesserung der Mobilität wird eine weitere Rehabilitation ab dem 3.10.2012 für die Dauer von drei bis vier Monaten durchgeführt, um den Gebrauch der Stützkrücken zu trainieren und auch eine prothetische Versorgung vorzubereiten.
Für die Klägerin ist eine Unterstützung bei der gründlichen Körperreinigung erforderlich. Die Essenszubereitung ist teilweise selbständig möglich, da im Sitzen alle Tätigkeiten verrichtet werden können und im Stehen auch alle Tätigkeiten mit einer Hand durchgeführt werden können, wie etwa Umrühren im Kochtopf. Lediglich beim Hantieren mit zwei Händen im Stehen benötigt die Klägerin Hilfe, so etwa beim Heben von Kochtöpfen. Falls die Klägerin beim Herd eine Sitzgelegenheit hat, können noch beidhändige Tätigkeiten ausgeübt werden. Insgesamt sind der Klägerin bei der Zubereitung von Mahlzeiten nur gewisse einzelne Handgriffe nicht ohne fremde Hilfe möglich.
Die Klägerin benötigt weiters Hilfe für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie der Pflege der Leib- und Bettwäsche. Ebenso ist Mobilitätshilfe im weiteren Sinn erforderlich.
Bei der Versorgung der Klägerin mit einer Prothese könnte sich die Situation der Klägerin so weit bessern, dass sich diese im Haushalt und in der Wohnung ohne Erkennbarkeit nach außen hin wie ein gesunder Mensch bewegen könnte, wobei die tatsächliche Besserung von Training, Qualität der Prothese und der Prothesenversorgbarkeit abhängt. Lediglich das Benutzen von Leitern wird der Klägerin weiterhin unmöglich sein.
In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, dass Voraussetzung für einen Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 gemäß § 4 Abs 2 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 60 Stunden monatlich sei. Nach Darstellung der Rechtsprechung zum Pflegebedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten sowie für ein allfälliges Unterschreiten des Mindestwertes für diesen Pflegebedarf führte das Erstgericht aus, dass die Klägerin lediglich bei jenen Tätigkeiten Hilfe benötige, welche im Stehen und darüber hinaus mit zwei Händen durchgeführt werden müssen. Die Klägerin benötige daher nur bei ganz bestimmten Kochvorgängen, welche keinesfalls zwingend jeden Tag anfielen, fremde Hilfe. So könnten etwa Vorbereitungsarbeiten (zB das Zubereiten von Fleischlaibchen oder einem Schnitzel samt Salat und Beilagen) grundsätzlich im Sitzen erfolgen und könne auch der eigentliche Kochvorgang (Heben der Pfanne, Eingießen des Öls, Wenden des Fleisches) mit einer Hand bewerkstelligt werden. Für den Abwasch des gesamten Geschirrs werde nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung ein Pflegebedarf von lediglich 7,5 Stunden pro Monat angesetzt. Selbst unter Berücksichtigung einer teilweise erforderlichen Hilfe beim Geschirrabwasch liege der Pflegebedarf der Klägerin bei der Zubereitung von Mahlzeiten daher lediglich bei zehn Stunden . Gemeinsam mit dem – im Berufungsverfahren nicht mehr strittigen – Pflegebedarf für die gründliche Körperreinigung (vier Stunden), die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn (jeweils zehn Stunden) ergebe dies einen monatlichen Pflegebedarf von 54 Stunden . Damit werde die Untergrenze für einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 in der Höhe von 60 Stunden nicht erreicht.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Die Berufung ist berechtigt.
Die Berufungswerberin führt in ihrer Rechtsrüge aus, dass es ihr gänzlich unmöglich sei, frei zu stehen. Auch sei es ihr unmöglich, den Transport von Lebensmitteln, Töpfen und Geschirr durchzuführen, da sie zur Fortbewegung auf zwei Krücken angewiesen sei. Auf Grund des Unvermögens, frei zu stehen, sei ihr auch die Reinigung des verwendeten Koch- und Essgeschirrs sowie der Kochstelle unmöglich. Es sei zwar nach ständiger Rechtsprechung ein geeigneter Küchenhocker, der das Arbeiten im Sitzen ermöglicht, als einfaches und zumutbares Hilfsmittel anzusehen, jedoch werde in diesen Zusammenhängen davon ausgegangen, dass die Klägerin zumindest einige Minuten frei stehen könne und Zu- und Abtragetätigkeiten sowie kurze Vorbereitungshandlungen möglich wären.
Weiters führt die Berufungswerberin aus, dass eine Unterschreitung des in der Einstufungsverordnung vorgesehenen Mindestwertes für die Zubereitung von Mahlzeiten nur zulässig sei, wenn sich der tatsächliche Betreuungsaufwand auf wenige Stunden beschränke und damit nur einen geringen Prozentsatz des vorgesehenen Mindestwertes ausmache.
Unter Berücksichtigung des pauschalierten Mindestbedarfs von 30 Stunden monatlich für die Zubereitung von Mahlzeiten würde sich ein Gesamtpflegebedarf von 74 Stunden monatlich ergeben und der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 1 im gesetzlichen Ausmaß zustehen.
Diese Ausführungen sind im Ergebnis zutreffend.
Das Erstgericht hat bereits zutreffend die wesentliche oberstgerichtliche Rechtsprechung zum Pflegebedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten, für welchen § 1 Abs 4 der EinstV einen Mindestwert von einer Stunde täglich (30 Stunden monatlich) vorsieht, wiedergegeben. Daraus ist hervorzuheben, dass zu dieser Verrichtung die Zubereitung aller üblichen Mahlzeiten (Frühstück, Mittagessen, eventuell Jause und Abendessen) samt der damit im Zusammenhang stehenden notwendigen Reinigung des verwendeten Koch- und Essgeschirrs sowie der Kochstelle steht. Für eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung ist ein mal täglich die Einnahme einer ordentlich gekochten warmen Mahlzeit, bestehend aus Hauptspeise, Zuspeise und Salat, erforderlich, deren Zubereitung nicht nur eine ganz kurze Zeit in Anspruch nimmt. Dass der Betroffene wegen seiner Behinderungen die notwendigen Verrichtungen nur umständlich und mit überdurchschnittlichem Zeitaufwand durchführen kann, rechtfertigt für sich nicht die Annahme eines Pflegebedarfs (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld [2013] Rz 431, 433 und 435). Die Zubereitung warmer Mahlzeiten erfordert nicht ununterbrochenes Arbeiten im Stehen, sondern kann weitgehend im Sitzen verrichtet werden. Zumindest Vorbereitungsarbeiten und das Abwarten der Garzeit können in einer sitzenden Körperhaltung erfolgen; ein geeigneter Küchenhocker, der das Arbeiten im Sitzen ermöglicht, ist als einfaches und zumutbares Hilfsmittel anzusehen (RIS
Zutreffend ist auch, dass es diesen Grundsätzen folgend der Klägerin möglich wäre, die Vorbereitungsarbeiten (zB Waschen des Salats, Putzen des Gemüses, Schneiden des Gargutes) im Sitzen sowie den unmittelbaren Kochvorgang am Herd (Heben der Pfanne, Eingießen des Öls, Wenden des Gargutes) im Stehen unter Verwendung alleine der freien rechten Hand durchzuführen. Da die Klägerin jedoch auf Grund der prothetisch noch nicht versorgten Amputation ihres linken Beines für jegliche Fortbewegung beide Stützkrücken und somit beide Arme und Hände benötigt, ist ihr keinerlei Tragen möglich . Es ist ihr daher auch nicht möglich, Nahrungsmittel aus dem Kühlschrank zur Kochstelle bzw zu einem Platz zur weiteren Bearbeitung, das vorbereitete Gargut zur Kochstelle, die fertigen Speisen von der Kochstelle zum Esstisch, das Koch- und Essgeschirr von der Kochstelle bzw dem Essplatz zur Abwasch zu transportieren und letztlich das abgewaschene Geschirr wieder wegzuräumen. Dieses oftmalige Hin- und Hertragen von Nahrungsmitteln, vorbereitetem Kochgut bzw fertigen Speisen, Koch- und Essgeschirr fällt bei den meisten Mahlzeiten, jedenfalls bei jeder warmen Hauptmahlzeit an. Auch handelt es sich dabei um Tätigkeiten, die während des gesamten Zubereitungsvorganges notwendig sind, und nicht nur um einen kleinen Teil der Betreuungsmaßnahme, wie etwa die erforderliche Fremdhilfe nur für die Reinigung des Koch- und Essgeschirrs (10 ObS 279/03g) oder einzelne Vorbereitungsarbeiten (10 ObS 247/00x; Greifeneder aaO Rz 442). Eine das Abgehen vom zeitlichen Mindestwert rechtfertigende erhebliche Unterschreitung des Pflegebedarfs für die Zubereitung von Mahlzeiten kann somit nicht angenommen werden.
Für die Klägerin ist daher für die Zubereitung von Mahlzeiten der Mindestwert von 30 Stunden monatlich gemäß § 1 Abs 2 und 4 EinstV heranzuziehen. Zuzüglich des weiteren im Berufungsverfahren nicht mehr strittigen Pflegebedarfs ergibt dies einen Gesamtpflegebedarf von 74 Stunden monatlich. Die Klägerin hat daher ab dem 1.11.2011 Anspruch auf ein Pflegegeld der Stufe 1.
Der Berufung war somit Folge zu geben und das Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der eigenständigen Zubereitung von Mahlzeiten trotz körperlicher Gebrechen handelt es sich primär um einen Aspekt der rechtlichen Beurteilung (10 ObS 304/99z). Die Frage, ob bei einer Person, die für die Fortbewegung zwei Stützkrücken und das Stehen eine Stützkrücke benötigt, der Mindestwert für die Zubereitung von Mahlzeiten nach § 1 Abs 4 EinstV zu veranschlagen ist, kommt eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu und wurde, soweit vom Berufungsgericht überblickbar, bisher noch nicht in einer oberstgerichtlichen Entscheidung beantwortet. Gemäß § 502 Abs 1 ZPO war daher die ordentliche Revision zuzulassen.
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