Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Engers als Vorsitzenden, die Richterinnen des Oberlandesgerichts Mag. Rofner und Mag. Kitzbichler sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christian Winder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Erwin Vones (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , vertreten durch Dr. Katja Matt, Rechtsanwältin in Bregenz, als Verfahrenshelferin, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, vertreten durch deren Mitarbeiter Mag. C*, wegen Versehrtenrente, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 25.3.2025, signiert mit 28.5.2025, **-186, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird k e i n e Folge gegeben.
Ein Kostenersatz findet im Berufungsverfahren n i c h t statt.
Die (ordentliche) Revision ist n i c h t zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Die nunmehr 54-jährige Klägerin wollte am 24.7.2019 (als Dienstnehmerin) eine Kiste mit fertigen Teilen zur nächsten Maschine bringen. Dazu hob sie die Kiste an und trat einen Schritt nach hinten, wodurch eine an der Wand angelehnte Palette umfiel und sie im Bereich der linken Wade und der Achillessehne traf. Dadurch erlitt sie ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS Typ 1) nach Prellung des linken Unterschenkels und Abschürfung im Bereich der linken Achillessehne. Für den Zeitraum vom 27.12.2019 bis 31.5.2020 bestand eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 %.
Mit Bescheid vom 17.2.2020 anerkannte die Beklagte den Unfall vom 24.7.2019 als Arbeitsunfall, stellte als dessen Folgen ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS Typ 1) nach Prellung des linken Unterschenkels mit einer oberflächlichen Abschürfung im Bereich der Achillessehne als Unfallfolge fest und sprach aus, dass der Klägerin eine Gesamtvergütung von EUR 1.326,93 als vorläufige Versehrtenrente von 20 % der Vollrente für den Zeitraum vom 17.12.2019 bis 31.5.2020 gewährt werde.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin, qualifiziert vertreten im Sinn des § 40 Abs 1 Z 2 ASGG rechtzeitig Klage mit dem Begehren, die Beklagte zur Leistung einer 20 %-igen Versehrtenrente als Dauerrente auch über den 31.5.2020 hinaus zu verpflichten. Begründend trug sie vor, sie sei nach der Erstbehandlung nach Hause entlassen worden; die Schmerzsituation habe sich jedoch nicht verbessert. Sie habe immer noch starke Schmerzen beim Stehen, Gehen und Sitzen. Sogar beim Liegen verspüre sie starke Schmerzen; Laufen sei ihr nur sehr eingeschränkt mit einem Rollator möglich.
Damals war die Klägerin sich der Tragweite ihres Handelns bewusst. Sie war in der Lage zu überblicken, was es bedeutet, wenn sie einem Mitarbeiter der Arbeiterkammer eine Vollmacht erteilt und dieser in ihrem Namen eine Klage einbringt. Sowohl zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung als auch zum Zeitpunkt der Klagseinbringung konnte die Klägerin die Tragweite ihrer Entscheidungen überblicken (war somit prozessfähig).
Mit Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 14.10.2024 wurde ein Verfahren, in dem die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters für die Klägerin geprüft wurde, eingestellt, da es aufgrund des Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin nach Rumänien an der inländischen Gerichtsbarkeit fehlte. Die Klägerin war jedoch auch nach Einstellung dieses Verfahrens aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung in ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht in der Lage, dieses Gerichtsverfahren ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen.
Die Beklagte bestreitet und wendet im Wesentlichen ein, nach dem 1.6.2020 mangle es an einem rentenbegründenden Ausmaß der MdE der Klägerin.
Nach Aufhebung eines klagsabweisenden Urteils infolge unterbliebener Beiziehung eines Dolmetschers für die rumänische Sprache zu den medizinischen Befundaufnahmen (ON 38) und Aufhebung eines klagszurückweisenden Beschlusses aufgrund fehlender Feststellungen zur Frage der Prozessunfähigkeit der Klägerin bei Klagseinbringung wies das Erstgericht nunmehr im dritten Rechtsgang das Begehren der Klägerin – unter Bescheidwiederholung – ab. Hiebei ging es vom eingangs referierten Sachverhalt aus und traf folgende im Berufungsverfahren umkämpfte Feststellungen:
Die unfallbedingte MdE ab 31.5.2020 beträgt auf Dauer 10 %. Die Klägerin war ab dem 1.6.2020 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu 10 % in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert und wird dies auch künftig noch sein.
Rechtlich verwies es auf § 203 Abs 1 ASVG, wonach rentenbegründend nur eine MdE von zumindest 20 % sei.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die rechtzeitige Berufung der seit 13.7.2022 (ON 134) durch die nunmehrige Verfahrenshilferechtsanwältin vertretenen Klägerin aus den Rechtsmittelgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung infolge unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das bekämpfte Urteil im Sinn einer Klagsstattgebung abzuändern, hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Überdies enthält das Rechtsmittel eine Kostenrüge.
Die Beklagte beantragt in ihrer fristgerechten Berufungsbeantwortung, dem Rechtsmittel der Gegenseite den Erfolg zu versagen.
Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Rechtsmittelgründe war über die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Hiebei erwies sie sich als nicht begründet:
1. Aus den unbekämpft gebliebenen Feststellungen ist rechtlich abzuleiten, dass die Klägerin bei Einleitung des gerichtlichen Verfahrens prozessfähig war und dies nunmehr nicht mehr ist. Dies steht einer Sachentscheidung nicht entgegen, weil es der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs entspricht, dass durch den erst im Laufe des Prozesses eingetretenen Verlust der Prozessfähigkeit einer Partei die auf § 64 Z 3 ZPO beruhende Vertretungsmacht des vor Verlust der Prozessfähigkeit der Partei bestellten Verfahrenshilferechtsanwalts nicht berührt wird; die von ihm gesetzten Prozesshandlungen und die an ihn bewirkten Zustellungen sind ohne Mitwirkung des nach Verlust der Prozessfähigkeit der Partei bestellten gesetzlichen Vertreters wirksam (RIS-Justiz RS0035674; 10 Ob 64/11a).
2. In ihrer Beweisrüge wendet sich die Berufungswerberin gegen die oben kursiv hervorgehobenen Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts; ersatzweise wird die Feststellung angestrebt, bei der Klägerin liege (wohl seit 1.6.2020) eine dauernde MdE von 20 % vor. Begründend wird ausgeführt, die Ausführungen des bestellten Sachverständigen (ON 67), auf die das Erstgericht die angefochtenen Feststellungen gründe, seien weder schlüssig noch nachvollziehbar. Nach dessen Darstellung habe der anhaltende Disstress auf den Körper der Klägerin zu einer Senkung der Schmerzschwelle und einer verstärkten Schmerzwahrnehmung geführt. Unbegründet und nicht nachvollziehbar folgere der Sachverständige dann, dass trotz dieser verstärkten Schmerzwahrnehmung die Klägerin ihre Bewegungseinschränkungen „simuliere“. Diese Annahme stehe mit seinen sonstigen Ausführungen zur erhöhten Schmerzwahrnehmung im Widerspruch und führe zu einer falschen Einschätzung des Ausmaßes der „Invalidität“. Richtigerweise wären die von der Klägerin geschilderten Bewegungseinschränkungen in die Beurteilung mitaufzunehmen gewesen. Es sei unschlüssig, der Klägerin einerseits ein unfallkausales erhöhtes Schmerzempfinden und eine psychogene Symptomverstärkung zu attestieren, andererseits aber die Folgen dieses Schmerzempfindens (zeitweise Gehbehinderung) als simuliert und damit nicht anspruchsbegründend abzutun.
2.1. Die Frage, inwieweit die Erwerbsfähigkeit aus medizinischer Sicht gemindert ist, gehört zum Tatsachenbereich (RIS-Justiz RS0043525, RS0086443).
Die Geltendmachung des Berufungsgrunds der unrichtigen Beweiswürdigung erfordert die bestimmte Angabe, welche Beweise der Erstrichter unrichtig gewürdigt hat, aus welchen Erwägungen sich dies ergibt und welche Tatsachenfeststellungen bei richtiger Beweiswürdigung aufgrund welcher Beweismittel zu treffen gewesen wären (RIS-Justiz RS0041835 [T4]). Entgegen der Behauptung der Berufungswerberin ergibt sich aus dem angesprochenen Gutachten (ON 67 S 53) völlig eindeutig, dass ab dem 31.5.2020 die MdE unter Einbeziehung der derzeitig vorliegenden unfallkausalen Funktionseinbußen und klinischen Symptome interdisziplinär bei 10 % auf Dauer liegt. Damit kann die Beweisrüge nicht durchdringen.
2.2. Da es nicht darauf ankommt, wie die geltend gemachten Berufungsgründe bezeichnet werden, sondern darauf, welchem Berufungsgrund die Ausführungen im Rechtsmittel zuzuzählen sind (RIS-Justiz RS0111425) und das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen hat, dass ein beschlossenes Sachverständigengutachten vollständig abgegeben wird, widrigenfalls ein Verfahrensmangel vorliegen kann (RIS-Justiz RS0040604; OLG Innsbruck 3 R 3/12h, 2 R 127/17v), sind die Argumente der Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrensmangels zu behandeln. Ein solcher liegt aber nicht vor:
Der medizinische Sachverständige hat ein äußerst umfangreiches und detailliertes schriftliches Gutachten erstellt (ON 67), dem die durchwegs qualifiziert vertretene Klägerin inhaltlich nichts entgegenzuhalten wusste, sondern bloß – unvertreten – ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte (siehe die Stellungnahme des Sachverständigen ON 78). Entgegen den Ausführungen im Rechtsmittel hat der Sachverständige die Klägerin nicht als „Simulantin“ bezeichnet, sondern die behaupteten Symptome als medizinisch nicht nachvollziehbar angesehen; auch hat er nicht ausgeführt, der anhaltende Disstress auf den Körper der Klägerin habe zu einer Senkung der Schmerzschwelle und einer verstärkten Schmerzwahrnehmung geführt, sondern dargestellt, der anhaltende Disstress auf den Körper der Klägerin mit mutmaßlicher Senkung der Schmerzschwelle und verstärkter Schmerzwahrnehmung sei aus orthopädisch-traumatologischer Sicht nicht dem gegenständlichen Arbeitsunfall zuzuordnen (ON 67 S 52). Vielmehr ist das Gutachten in sich schlüssig und begründet überzeugend in welchem Ausmaß eine unfallbedingte MdE vorliegt; dass die Klägerin mit diesem Ergebnis nicht zufrieden ist, führt nicht zu dessen mangelnder Nachvollziehbarkeit.
3. In ihrer Rechtsrüge im weiteren Sinn vermisst die Berufungswerberin folgende Feststellungen:
„ Bei der Klägerin liegen bereits 2018 eine exogene Belastungsstörung, eine Ein- und Durchschlafstörung und eine akute Depression vor. Durch den Job- und Wohnungswechsel war sie ab Ende Oktober 2018 sehr belastet. Mit geregelter Wohnsituation und der Einnahme von Medikamenten hat sich die Situation weiter gebessert. “
Da sich der zur Rede stehende Unfall am 24.7.2019 zugetragen hat, können die behaupteten Beeinträchtigungen der Klägerin nicht unfallkausal sein. Soweit das Rechtsmittel argumentiert, aus der begehrten Feststellung ergebe sich, dass die Klägerin durch die erneute Belastung, die sich in einer erhöhten Schmerzsymptomatik äußere, dauerinvalid geworden und damit anspruchsberechtigt im Sinn der Klage sei, wird verkannt, dass eine Invaliditätspension nicht Gegenstand des Verfahrens ist. Außerdem lässt sich aus der gewünschten Feststellung kein Konnex zum nachmaligen Zustand der Klägerin herstellen. Mangels Relevanz musste diese Sachverhaltsannahme somit nicht getroffen werden.
4. In ihrer Rechtsrüge im engeren Sinn meint die Klägerin, das Erstgericht habe rechtsirrig nicht berücksichtigt, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin zwischen der Gutachtenserstellung am 22.6.2021 und der Urteilsfällung am 25.3.2025 wesentlich verschlechtert habe. Es liege somit eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 ASVG vor. Die MdE habe sich nach der Gutachtenserstellung für mehr als drei Monate um zumindest 10 % verschlechtert, sodass die Voraussetzungen für den Zuspruch einer Dauerrente über den Zeitpunkt 31.5.2015 vorlägen (10 Ob 150/01h).
Die zitierte Entscheidung betrifft die Frage der Gewährung der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit und ist daher nicht einschlägig. Außerdem geht es hierin auch nicht um eine Verschlechterung eines Gesundheitszustands, sondern Änderungen der Rechtslage. Soweit die Berufungswerberin schließlich in diesem Zusammenhang auf den Verlust der Prozessfähigkeit reflektiert, übersieht sie, dass aus den Feststellungen jedenfalls nicht hervorgeht, dass dieser Aspekt ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei. Damit schlägt auch die Rechtsrüge im engeren Sinn nicht durch.
5. Schließlich wird im Kostenpunkt darauf hingewiesen, sowohl die Berufung der Klägerin vom 30.3.2020 als auch deren Rekurs vom 14.10.2024 seien erfolgreich gewesen; durch diese Rechtsmittel sei auch ein vollstreckbarer Titel geschaffen worden. Ein Kostenzuspruch gebühre auch dann, wenn inhaltlich keine über den Bescheid hinausgehende Leistung zugesprochen worden sei. Damit seien die Kosten der beiden Rechtsmittel in Höhe von insgesamt EUR 1.947,38 im Rahmen der Billigkeit zuzuerkennen.
Richtig ist, dass sowohl der angesprochene Rekurs als auch die erwähnte Berufung im Sinn einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sozialrechtssache erfolgreich waren (ON 38 und 174). Demgemäß wurde jeweils ausgesprochen, dass die Kosten der Rechtsmittelverfahren als weitere Kosten des Verfahrens erster Instanz zu behandeln seien. Ein „vollstreckbarer Titel“ wurde somit jedenfalls nicht geschaffen. Im Übrigen setzt ein Kostenersatzanspruch nach Billigkeit eine finanzielle Bedürftigkeit und das Vorliegen tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten voraus; bereits das Fehlen derartiger Schwierigkeiten steht einem Kostenersatz nach Billigkeit entgegen (10 ObS 116/06s; Sonntag in Köck/Sonntag ASGG § 77 Rz 21). Diese Voraussetzung lag hier objektiv aber nicht vor; vielmehr war ausschließlich das Ausmaß der MdE zu prüfen.
6. Zusammengefasst ist dem Rechtsmittel somit zur Gänze ein Erfolg zu versagen.
Ein Kostenersatz nach Billigkeit an die (auch) im Berufungsverfahren unterlegene Klägerin scheitert an denselben Gründen wie ein solcher in erster Instanz.
Im Rechtsmittelverfahren waren ausschließlich nicht revisible Tatfragen und ein gleichfalls einer Revision nicht zugänglicher behaupteter Verfahrensmangel erster Instanz zu behandeln. Demgegenüber war eine Rechtsfrage mit der von § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität nicht zu lösen. Somit ist auszusprechen, dass die
ordentliche Revision nicht zulässig ist (§§ 2 Abs 1 ASGG, 500 Abs 2 Z 3, 502 Abs 5 Z 4 ZPO).
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