Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Mag. Malesich als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka und Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Mag. Elke Wostri (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch die Haider/Obereder/Pilz Rechtsanwält:innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei F*, vertreten durch Dr. Peter Döller, Rechtsanwalt in Wien, wegen Entlassungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. April 2025, GZ 8 Ra 59/24s 68, den
Beschluss
gefasst:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] 1.1. Ob ein Entlassungsgrund verwirklicht ist, hängt immer von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und wirft regelmäßig – vom (hier nicht vorliegenden) Fall krasser Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf (vgl etwa RS0106298 ; RS0029833 [T37]; RS0029420 [T3]; RS0029547 [T28, T38, T40]).
[2] 1.2. Die Revision führt ins Treffen, entgegen der Ansicht der Vorinstanzen seien dem Kläger als in leitender Funktion Tätigem zum Vertrauensverlust führende Verfehlungen vorzuwerfen.
[3] Entgegen den Behauptungen im Rechtsmittel hat sich aber das Berufungsgericht mit Fehlern und Ungenauigkeiten der komplexen haustechnischen Arbeitsleistung des Klägers umfassend auseinandergesetzt. Im Lichte seiner Arbeitsbelastung, der Einbindung anderer zur inhaltlichen Prüfung zuständiger Stellen des Beklagten und teils ausdrücklicher, den Behauptungen des Beklagten entgegenstehender Feststellungen (etwa zu dem Kläger von Vorgesetzten erteilten Weisungen zu nunmehr vom Beklagten inkriminiertem Verhalten oder zum Fehlen bewusster und zielgerichteter Umgehung von betraglichen Auftragsgrenzen) konnte es in einer Gesamtbewertung ( RS0029547 [T45]) kein bewusstes oder fahrlässiges, einen Vertrauensverlust und damit eine Entlassung rechtfertigendes Fehlverhalten erkennen.
[4] Warum dies unvertretbar sein sollte oder sonst zwingende Gründe vorlägen, aus welchen eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung abzuleiten wäre, zeigt die Revision mit ihren Hinweisen auf einzelne von ihr als besonders schwerwiegend bezeichnete Umstände nicht auf. Auf die in der Revision kritisierte, vom Berufungsgericht aber nur als bloßes Hilfsargument aufgeworfene Frage, ob dem Kläger das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung zugutekäme, kommt es schon deshalb nicht an, weil bereits die Diskrepanz zwischen zwei Detailaussagen des Klägers zu unterschiedlichen Zeitpunkten für sich genommen vertretbar als nicht ausreichend beurteilt wurde.
[5] 2.1. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in einem Aufhebungsbeschluss vom 30. 11. 1994, 9 ObA 228/94 (im Volltext nicht nur im RIS Justiz, sondern auch in Arb 11.340 und infas 1995, A 48 veröffentlicht), ausgesprochen, dass ein Anfechtungsverfahren gemäß § 106 Abs 2 ArbVG nicht losgelöst von der Tatsache der Entlassung unter der Fiktion einer bloßen Dienstgeberkündigung ausschließlich im Sinne des § 105 Abs 3 ArbVG durchgeführt werden kann. In einem Anfechtungsverfahren nach § 106 ArbVG ist vielmehr zunächst zu prüfen, ob ein Entlassungsgrund vorliegt. Wird diese Frage bejaht, kommt es auf die geltend gemachten Anfechtungsgründe überhaupt nicht mehr an. Erst wenn das Vorliegen eines Entlassungsgrundes – wie hier – verneint wird, hat das Verfahren nach denselben Grundsätzen und mit denselben Beurteilungskriterien stattzufinden wie bei einer Kündigungsanfechtung (vgl RS0029457 [insb T7, T10]). Die – schon aufgrund des jeweiligen Beendigungsdatums (hier 14./16. 4. 2021) regelmäßig augenfällige – Tatsache der Entlassung steht in engem Zusammenhang mit der anzustellenden Prognose, ob durch die Auflösung des Dienstverhältnisses wesentliche Interessen des betroffenen Arbeitnehmers beeinträchtigt werden. Es liegt nämlich auf der Hand, dass eine erfolgreiche Arbeitsplatzsuche durch die vom beklagten Arbeitgeber behaupteten Entlassungsgründe schwer beeinträchtigt wird. Es wäre lebensfremd, anzunehmen, dass bei der Einstellung eines Arbeitnehmers die Gründe, die für die vorzeitige Auflösung des vorangehenden Arbeitsverhältnisses maßgeblich waren, vom neuen Dienstgeber nicht genau geprüft würden. Erfolgte aber die Entlassung unberechtigt, so sind ausgehend von der stigmatisierenden Tatsache der (wenn auch nicht gerechtfertigten) Entlassung die Anfechtungsgründe im Sinne des § 105 Abs 3 ArbVG zu prüfen (9 ObA 228/94, vgl RS0116698 ), zumal die Auflösung des Dienstverhältnisses eben gerade nicht durch Kündigung, sondern durch Entlassung erfolgte und die bloß hypothetische Annahme einer Kündigung der Sachlage nicht gerecht werden könnte: Die Sozialwidrigkeit einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses ist nämlich nach ständiger Rechtsprechung anhand der konkreten Beeinträchtigung der Interessen des jeweiligen Arbeitnehmers zu beurteilen (vgl RS0051806 [T7]; RS0051918 [T1]).
[6] 2.2.1. Von 9 ObA 228/94 abweichende Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs sind nicht ersichtlich.
[7] 2.2.2. Die Entscheidung hat erst jüngst ausdrückliche Erwähnung und überwiegend auch Zustimmung im Schrifttum gefunden ( Trost/Mathy in Jabornegg/Resch/Kammler , ArbVG § 106 [2024] Rz 38/1 ; und Prankl , Zur Berücksichtigung der Stigmatisierungswirkung einer unbegründeten Entlassung bei der Sozialwidrigkeitsprüfung, ecolex 2022/384, 551; beide unter ausdrücklicher Ablehnung der aM von Greiner , Zur Sozialwidrigkeit einer unbegründeten Entlassung, ASoK 2022, 82 ).
[8] 2.2.3. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, zumal – wie hier – eines Fachsenats, selbst wenn sie bisher die einzige ist, die aber ausführlich begründet und mehrfach veröffentlicht wurde, zu der gegenteilige Entscheidungen nicht vorliegen und die auch vom Schrifttum ohne Kritik übernommen wurde, reicht aber für das Vorliegen einer gesicherten Rechtsprechung aus (RS0103384).
[9] 2.3. Die sich die erwähnte Einzelgegenmeinung im Schrifttum zu eigen machende Revision des Beklagten zeigt dagegen nicht auf, aus welchem Grund von der Rechtsprechung – die entgegen seiner Behauptung sehr wohl fundiert begründet war, von der Lehre trotz Veröffentlichung jahrzehntelang unwidersprochen blieb und jüngst auch zustimmend rezipiert wurde – abgegangen werden sollte. Insbesondere setzt sich die Revision nicht mit dem zentralen Argument der Entscheidung auseinander, dass der entlassene Arbeitnehmer individuell und konkret mit den Folgen einer Entlassung und nicht den fiktiven einer Kündigung konfrontiert ist, und dass daher jene bei der Interessenabwägung zur Sozialwidrigkeit zu berücksichtigen sind. Es erschließt sich auch nicht, aus welchem Grund diese Ansicht dazu führen sollte, dass Entlassungen immer eine wesentliche Interessenbeeinträchtigung bewirken oder die zwei Voraussetzungen des § 106 Abs 2 ArbVG gegen den Gesetzeswortlaut zu einer einzigen verschmelzen würden und dadurch in nicht sachgerechter Weise ein erhöhter Bestandschutz bewirkt würde.
[10] 2.4. Der Senat sieht sich somit nicht veranlasst, von der Rechtsprechung zu 9 ObA 228/94 abzugehen. Das Berufungsgericht hat die sich im vorliegenden Streitfall stellende Rechtsfrage mithilfe der bereits vorhandenen Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung und im Einklang mit dieser gelöst, sodass kein Fall des § 502 Abs 1 ZPO vorliegt (vgl RS0042742 [T11, T13, T17]).
[11] 3.1. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner jüngeren Rechtsprechung bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG in Ansehung von Einkommenseinbußen nicht auf starre Prozentsätze abgestellt werden darf ( RS0051727 [T10]; RS0051753 [T7]). Es sind vielmehr alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten (RS0110944 [T3]; RS0051845 [T10]). Schon daraus erhellt, dass auch der Frage, ob die Sozialwidrigkeit einer Kündigung oder Entlassung im Einzelfall nachgewiesen werden kann, regelmäßig keine erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zukommt (RS0051746 [T9]; RS0051640 [T5]; RS0051753 [T9]).
[12] 3.2. Dass die – wie dargelegt (oben Pkt 2.) unter zutreffender Berücksichtigung der stigmatisierenden Wirkung der Entlassung – festgestellten zu erwartenden Arbeitssuchzeiten und Gehaltseinbußen des Klägers im Einzelfall nicht unvertretbar als zur Sozialwidrigkeit führend angesehen werden können, ist mit bloßen Hinweisen auf entsprechende Ergebniszahlen anderer Einzelfälle nicht zu entkräften.
[13] 4. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).
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