Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende und die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Pallauf Meissnitzer Staindl Partner, Rechtsanwälte (OG) in Zell am See, gegen die beklagten Parteien 1. G*, 2. M*, und 3. K*, alle vertreten durch Kinberger-Schuberth-Fischer Rechtsanwälte-GmbH in Zell am See, wegen 57.200 EUR sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 12. Juni 2024, GZ 1 R 62/24d 18, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 24. April 2024, GZ 1 Cg 81/23p 11, in der Fassung des Ergänzungsbeschlusses vom 30. April 2024, GZ 1 Cg 81/23p 13, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art 4 der Verordnung Nr 650/2012 dahin auszulegen, dass eine „Erbsache“ vorliegt, wenn ein Anspruch auf Pflegevermächtnis nach § 677 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) geltend gemacht wird?
2. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Begründung:
1. Sachverhalt
[1] Der Kläger ist der ehemalige Lebensgefährte der 2021 verstorbenen Erblasserin, die bis zu ihrem Tod ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hatte. Er erbrachte in den letzten drei Jahren vor dem Tod der Erblasserin Pflegeleistungen. Die Verlassenschaft nach der Erblasserin wurde den Beklagten mit Beschluss des Bezirksgerichts Zell am See rechtskräftig eingeantwortet.
2. Vorbringen der Parteien
[2] Der Kläger begehrt von den Beklagten die Zahlung von 57.200 EUR aus dem Titel des Pflegevermächtnisses (§ 677 ABGB [österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch]). Strittig ist, ob die österreichischen Gerichte international zuständig sind.
[3] Der Kläger stützt sich auf Art 4 VO (EU) Nr 650/2012 (in der Folge nur: VO). Der Anspruch auf das Pflegevermächtnis sei einem Pflichtteilsanspruch ähnlich und daher als erbrechtlicher Anspruch im Sinne der VO zu qualifizieren.
[4] Die Beklagten beantragen die Zurückweisung der Klage wegen internationaler „bzw sachlicher und örtlicher“ Unzuständigkeit, weil der geltend gemachte Anspruch kein solcher aus der Rechtsnachfolge von Todes wegen sei. Der Anspruch stelle ein Entgelt für zu Lebzeiten des Erblassers vom Anspruchswerber erbrachte Pflegeleistungen dar und sei daher als schuldrechtlicher Anspruch anzusehen.
3. Bisheriges Verfahren
[5] Das Erstgericht wies die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück. Zwar sei das Pflegevermächtnis formal als gesetzliches Vermächtnis ausgestaltet, inhaltlich gehe es dabei aber um die Abgeltung von Pflegeleistungen, die zu Lebzeiten des Erblassers erbracht worden seien. Damit sei das Pflegevermächtnis als schuldrechtlicher Anspruch zu qualifizieren und unterfalle nicht der VO.
[6] Das Rekursgericht verwarf die Einrede der internationalen Unzuständigkeit. Der autonom zu beurteilende und weit auszulegende Anwendungsbereich der VO erstrecke sich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen. Das Pflegevermächtnis sei ein gesetzliches Vermächtnis mit pflichtteilsähnlichem Charakter. Nicht entscheidend sei, ob die „Grundlage“ für das Bestehen des Anspruchs bereits zu Lebzeiten des Erblassers geschaffen worden sei.
[7] Der Oberste Gerichtshof hat über einen Revisionsrekurs der Beklagten zu entscheiden, mit dem sie die Wiederherstellung der die Klage zurückweisenden Entscheidung des Erstgerichts anstreben. Die Regelungen über das Pflegevermächtnis seien systematisch unrichtig im Vermächtnisrecht enthalten. Inhaltlich gehe es dabei um einen Anspruch aus einem Vorgang unter Lebenden, der bloß anlässlich des Todes des Erblassers entstehe und einem bereicherungsrechtlichen Anspruch vergleichbar sei.
4. Relevante Normen
[8] 4.1. Die VO (EU) Nr 650/2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses lautet auszugsweise:
„Erwägungsgrund 9
Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken, und zwar auf jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge. […]
Artikel 1
Anwendungsbereich
(1) Diese Verordnung ist auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden. Sie gilt nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.
(2) Vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind: […]
g) Rechte und Vermögenswerte, die auf andere Weise als durch Rechtsnachfolge von Todes wegen begründet oder übertragen werden, wie unentgeltliche Zuwendungen, Miteigentum mit Anwachsungsrecht des Überlebenden (joint tenancy), Rentenpläne, Versicherungsverträge und ähnliche Vereinbarungen, unbeschadet des Artikels 23 Absatz 2 Buchstabe i […]
Artikel 3
Begriffsbestimmungen
(1) Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
a) 'Rechtsnachfolge von Todes wegen' jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge […]
Artikel 4
Allgemeine Zuständigkeit
Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. […]
Artikel 23
Reichweite des anzuwendenden Rechts
(1) Dem nach Artikel 21 oder Artikel 22 bezeichneten Recht unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen.
(2) Diesem Recht unterliegen insbesondere: [...]
g) die Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten;
h) der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahe stehen, gegen den Nachlass oder gegen den Erben […]“
[9]
„Pflegevermächtnis
§ 677 (1) Einer dem Verstorbenen nahe stehenden Person, die diesen in den letzten drei Jahren vor seinem Tod mindestens sechs Monate in nicht bloß geringfügigem Ausmaß gepflegt hat, gebührt dafür ein gesetzliches Vermächtnis, soweit nicht eine Zuwendung gewährt oder ein Entgelt vereinbart wurde.
(2) Pflege ist jede Tätigkeit, die dazu dient, einer pflegebedürftigen Person soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen.
(3) Nahe stehend sind Personen aus dem Kreis der gesetzlichen Erben des Verstorbenen, deren Ehegatte, eingetragener Partner oder Lebensgefährte und deren Kinder sowie der Lebensgefährte des Verstorbenen und dessen Kinder.
§ 678 (1) Die Höhe des Vermächtnisses richtet sich nach Art, Dauer und Umfang der Leistungen.
(2) Das Vermächtnis gebührt jedenfalls neben dem Pflichtteil, neben anderen Leistungen aus der Verlassenschaft nur dann nicht, wenn der Verstorbene das verfügt hat. Das Vermächtnis kann nur bei Vorliegen eines Enterbungsgrundes entzogen werden.“
5. Begründung der Vorlagefrage
[10] 5.1. Die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts müssen in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten, die unter Berücksichtigung nicht nur ihres Wortlauts, sondern auch des Kontextes der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (EuGH 1. 3. 2018, Rs C 558/16, Mahnkopf , Rn 32). Die VO soll eine einheitliche Behandlung des Nachlasses fördern, um zu einer effizienten Beilegung von Rechtsstreitigkeiten über den Nachlass beizutragen. Eine Auslegung der Normen dieser Verordnung, die eine Nachlassspaltung nach sich zöge, wäre mit den Zielen der VO unvereinbar (EuGH 7. 4. 2022, Rs C 645/20, Rn 37 mwN). Die VO soll eine einheitliche Regelung schaffen, die auf alle zivilrechtlichen Aspekte einer Rechtsnachfolge von Todes wegen mit grenzüberschreitendem Bezug, insbesondere auf jede Form des Übergangs von Vermögenswerten von Todes wegen, anwendbar ist. Die in Art 1 Abs 2 VO geregelten Ausnahmen von der Anwendbarkeit der VO sind daher eng auszulegen (EuGH 9. 9. 2021, Rs C 277/20, UM , Rn 33 f).
[11] In Anwendung dieser Grundsätze hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass eine Schenkung auf den Todesfall in den Anwendungsbereich der VO fällt (Rs C 277/20, UM ). Auch die Regelung des § 1371 Abs 1 dBGB, wonach der überlebende Ehegatte seinen Anteil an einer bis zum Tod des Ehepartners bestehenden Zugewinngemeinschaft durch Erhöhung des gesetzlichen Erbteils um ein Viertel der Erbschaft erhält, fällt nach der Rechtsprechung des EuGH in den Anwendungsbereich der VO. Maßgeblich dafür ist, dass der Hauptzweck der Bestimmung nicht in der Aufteilung der Vermögenswerte zwischen den Ehegatten, sondern in der Bestimmung des dem überlebenden Ehegatten zufallenden Erbteils liegt. Es geht bei der Bestimmung des § 1371 Abs 1 dBGB nicht um die Aufteilung der Vermögenswerte zwischen den Ehegatten, sondern um die Rechte des überlebenden Ehegatten an den Gegenständen, die schon zum Nachlassvermögen gezählt werden (Rs C 558/16, Mahnkopf , Rn 40).
[12] 5.2. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 2 Ob 63/21k (ECLI:AT:OGH0002:2021:E132373) folgende grundlegenden Ausführungen zum Pflegevermächtnis gemacht:
[13] Das Pflegevermächtnis stellt nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 688 BlgNR 25. GP 16) ein unabhängig von einer letztwilligen Anordnung des gepflegten Erblassers entstehendes (gesetzliches) Vermächtnis dar. Es weist eine janusköpfige Rechtsnatur auf, weil es zwischen dem Vermächtnis – als das es der Gesetzgeber ausdrücklich eingeordnet hat – und dem Pflichtteilsrecht – weil es nur bei Vorliegen eines Enterbungsgrundes entzogen werden kann – angesiedelt ist. Da es der Abgeltung bestimmter Dienstleistungen gilt, weist es auch ein Naheverhältnis zu vertraglichen oder bereicherungsrechtlichen Ansprüchen auf. Das Pflegevermächtnis hat zumindest pflichtteilsähnlichen Charakter, weil es einem Bestandschutz unterliegt (Entziehung nur bei Vorliegen eines Enterbungsgrundes) und es neben dem Pflichtteil zustehen kann. Ein wirksamer (Voraus )Verzicht auf das Pflegevermächtnis kommt jedenfalls nur bei Einhaltung der in § 551 ABGB normierten besonderen Formvorschriften in Betracht. Die letztlich vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion des Pflegevermächtnisses und die gewählten Formulierungen führen damit im Ergebnis zu einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts bzw der Privatautonomie des Erblassers (Rz 24 bis 26 und 35 bis 37).
[14] 5.3. In der Literatur ist die Frage umstritten, ob vor diesem Hintergrund ein Anspruch auf Pflegevermächtnis in den Anwendungsbereich der VO fällt.
[15] 5.3.1. Nach Christandl (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ §§ 677, 678 ABGB Rz 52) ist das Pflegevermächtnis ein erbrechtliches Rechtsinstitut, das mit der erbrechtlichen Systematik beträchtlich verwickelt ist: Die Bestimmungen über die Erbfähigkeit und die Ausschlagung des Erbrechts sind sinngemäß anzuwenden, ein Verzicht ist – wie beim Erbverzicht – nur unter Einhaltung besonderer Formvorschriften möglich und ein Entzug des Pflegevermächtnisses kommt nur bei Vorliegen von Enterbungsgründen in Betracht. Zwar handelt es sich bei funktionaler Betrachtung um eine bereicherungsrechtlich konstruierte Abgeltung von geleisteter Pflege, allerdings überwiegen die erbrechtlichen Elemente. Wenn schon die Haftung für Nachlassverbindlichkeiten dem Erbstatut unterliegt (Art 23 Abs 2 lit g VO), muss dies umso mehr für eine Verbindlichkeit gelten, die einer erbrechtlichen Anspruchsgrundlage entspringt und funktional einer Nachlassverbindlichkeit sehr nahe steht (ebenso Jetzinger , Das Pflegevermächtnis im Gefüge des Erb-, Schuld- und Sozialrechts [2022] 243 ff; Spruzina/Hofer in Kletečka/Schauer , ABGB-ON 1.03 § 677 Rz 21). Christandl (in Laimer , IPR Praxiskommentar Art 23 EuErbVO Rz 36) führt als Argument für die erbrechtliche Qualifikation des Anspruchs auf Pflegevermächtnis auch die Ausgestaltung als pflichtteilsähnlicher Anspruch ins Treffen.
[16] 5.3.2. Deixler-Hübner/Schauer (in Deixler-Hübner/Schauer , EuErbVO² Art 3 Rz 14) gehen davon aus, dass der Anspruch auf Pflegevermächtnis seinen Rechtsgrund nicht in der Rechtsnachfolge von Todes wegen hat, weil es um die Abgeltung von Leistungen geht, die der Erblasser zu Lebzeiten vom Berechtigten erhalten hat.
[17] Baldovini (Die kollisionsrechtliche Qualifikation des Pflegevermächtnisses, JEV 2019, 48 sowie Pflegevermächtnis [2020] 142 ff) betont, dass zwar formal betrachtet ein gesetzliches Vermächtnis vorliegt. Funktionell betrachtet überwiegt jedoch der schuldrechtliche Charakter des Anspruchs, der der Abgeltung erbrachter Pflegeleistungen dient. Der Todesfall an sich ist nur Anlass, nicht aber Grund für die begehrte Abgeltung. Es geht also nicht um eine „Rechtsnachfolge von Todes wegen“. Der Anspruch ist daher bereicherungsrechtlich nach der Rom II VO anzuknüpfen. Zu bedenken ist, dass eine nach § 677 Abs 3 ABGB anspruchsberechtigte Person unter bestimmten Voraussetzungen alternativ ihren Anspruch auch (nur) auf Bereicherungsrecht (condictio causa data causa non secuta) stützen kann. Eine abweichende kollisionsrechtliche Qualifikation je nach gewählter Anspruchsgrundlage ist aber sachlich nicht zu rechtfertigen.
[18] 5.4. Der Oberste Gerichtshof neigt eher zur Auffassung, dass der auf den Titel des Pflegevermächtnisses nach § 677 ABGB gestützte Anspruch des Klägers als „Erbsache“ iSd Art 4 VO zu qualifizieren ist. Ausschlaggebend dafür sind die erbrechtlichen Implikationen des Rechtsinstituts, insbesondere dessen Ausgestaltung als „Sonderpflichtteil“ ( Neumayr in KBB 7 §§ 677–678 ABGB Rz 1), und das vom EuGH bereits vertretene weite Begriffsverständnis der „Rechtsnachfolge von Todes wegen“. Allerdings könnte wegen der offenbaren Nähe zu einem bereicherungsrechtlichen Anspruch und dem Umstand, dass das Rechtsinstitut letztlich eine Abgeltung von zu Lebzeiten des Erblassers erbrachten Pflegeleistungen anstrebt, auch eine andere Auslegung vertreten werden. Daher ist der Oberste Gerichtshof als letztinstanzliches Gericht zur Vorlage verpflichtet.
6. Aussetzung des Verfahrens
[19] Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über den Revisionsrekurs der Beklagten auszusetzen.
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