Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Vodera (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte GesbR in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 27. Juli 2023, GZ 8 Rs 71/23d 17.3, mit dem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 1. Februar 2023, GZ 36 Cgs 9/23m 12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der am 28. Februar 1952 geborene Kläger ist ukrainischer Staatsangehöriger und im Besitz des österreichischen Aufenthaltstitels „Ausweis für Vertriebene“ mit Gültigkeit bis 3. März 2023.
[2] Mit Bescheid vom 14. Oktober 2022 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 18. Juli 2022 auf Gewährung von Pflegegeld mit Verweis auf den von den §§ 3, 3a BPGG erfassten Personenkreis ab.
[3] In seiner dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Gewährung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß ab 1. August 2022. Er zähle zum anspruchsberechtigten Personenkreis des BPGG.
[4] Die Beklagte beantragt die Klageabweisung mit der Begründung, der Aufenthaltstitel als Vertriebener sei in der Aufzählung des § 3a Abs 2 BPGG nicht enthalten. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 3a BPGG nicht und zähle nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis.
[5] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger habe (offenbar unstrittig) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Er beziehe (offenbar ebenfalls unstrittig) weder eine Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG, noch sei er österreichischer Staatsbürger. Seine Anspruchsberechtigung sei gemäß § 3a Abs 2 BPGG zu beurteilen. Aufgrund der Vertriebenen-Verordnung seien der von ihr erfassten Personengruppe Leistungen der Grundversorgung zu gewähren, aber keine dem Pflegegeld entsprechende Leistung. Die in § 3a Abs 2 Z 2 bis 4 BPGG genannten Fälle sollten nach dem Willen des Gesetzgebers nur jene zusätzlichen Fälle betreffen, die nicht bereits durch das unmittelbar anwendbare Staatsvertragsrecht bzw Unionsrecht nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst würden; es könne daher nicht von einer planwidrigen Unvollständigkeit ausgegangen werden, wenn der Aufenthaltstitel des Klägers darin nicht genannt sei. Das sei auch nicht gleichheitswidrig. Da sich die Entscheidung auf eine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stütze, sei die ordentliche Revision nicht zulässig.
[7] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts (gemeint) im Sinn einer Stattgabe des Klagebegehrens beantragt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[8] Die Beklagte hat sich – trotz Freistellung der Revisionsbeantwortung – am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
[9] Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[10] 1. Der Kläger macht in der Revision ein Abweichen der Beurteilung der Vorinstanzen von der Entscheidung 10 ObS 62/23z geltend, wonach er als Vertriebener, der vorübergehenden Schutz nach der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 (über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten [ABl L 212/12 vom 7. August 2001]; künftig: MassenzustromRL) genieße, zu dem nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis zähle.
[11] 2. Zutreffend ist, dass sich der Oberste Gerichtshof erst unlängst mit dem Pflegegeldanspruch von Vertriebenen ukrainischen Staatsangehörigen befasste und nach eingehender Darstellung der Rechtslage zum Ergebnis gelangte, dass Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen und besondere Bedürfnisse haben, gemäß Art 13 Abs 4 MassenzustromRL einen Anspruch auf „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“ haben, wozu auch das Pflegegeld gehört. Solche Personen zählen daher zu dem gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis und haben bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld (10 ObS 62/23z; RS0134492).
[12] 3. Ob der Kläger vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießt und deswegen (bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen) zu dem nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis zählt, kann im derzeitigen Verfahrensstadium aber noch nicht verlässlich beurteilt werden.
[13] 3.1. Der Kläger behauptet zwar, dass er vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genieße, sieht aber anscheinend „alle Flüchtlinge aus der Ukraine“ als erfasst an. Nach Art 2 Abs 1 lit a des Durchführungsbeschlusses 2022/382/EU des Rates vom 4. März 2022 (zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinn des Art 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes [ABl L 71/1 vom 4. März 2022]; künftig: Durchführungsbeschluss) gilt der vorübergehende Schutz jedoch (nur) für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten und am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurden.
[14] 3.2. Anhaltspunkte, die eine Prüfung dieser Voraussetzungen zuließen, lassen sich weder dem Akt noch dem Vorbringen der Parteien mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Die Feststellung, dass der Kläger im Besitz des österreichischen Aufenthaltstitels „Ausweis für Vertriebene“ ist, sagt darüber nichts aus.
[15] 4.1. Das Verfahren erweist sich daher jedenfalls in diesem Punkt als ergänzungsbedürftig. Die Revision ist folglich im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zu prüfen haben, ob der Kläger vorübergehenden Schutz iSd Art 2 Abs 1 lit a des Durchführungsbeschlusses genießt. Sollte dies der Fall sein, werden in weiterer Folge Feststellungen zum Pflegebedarf des Klägers zu treffen sein.
[16] 4.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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