Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätin Dr. Fichtenau, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Mag. Korn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S*, geboren am *, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 1, 4–9, Amerlingstraße 11, 1060 Wien), infolge Revisionsrekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. September 2015, GZ 43 R 342/15k 17, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 13. Mai 2015, GZ 3 Pu 25/14d-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den
Beschluss
gefasst:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts zu lauten hat:
„1. Dem Kind wird von 1. Mai 2015 bis 30. April 2020 gemäß §§ 3, 4 Z 1 Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 252,00 EUR, jedoch höchstens in der Höhe des jeweiligen Richtsatzes für pensionsberechtigte Halbwaisen gemäß § 293 Abs 1 lit c bb erster Fall, § 108 f des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) gewährt.
2. Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien wird um die Auszahlung der Vorschüsse an die Zahlungsempfängerin ersucht.
3. Dem Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, die Pauschalgebühr in Höhe von 252 EUR innerhalb von 14 Tagen zu zahlen.
4. Dem Unterhaltsschuldner wird weiters aufgetragen, alle Unterhaltsbeträge – sonst hätten sie keine schuldbefreiende Wirkung – an das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (als gesetzlichen Vertreter des Kindes) zu zahlen.
5. Der Kinder- und Jugendhilfeträger wird ersucht, die bevorschussten Unterhaltsbeträge einzutreiben und, soweit eingebracht, monatlich dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien zu überweisen.“
Begründung:
Die am * 2013 geborene S* und ihre Mutter M* sind serbische Staatsbürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich. Der Vater M* ist türkischer Staatsbürger; er lebt in Österreich und ist hier – nach den Antragsbehauptungen – geringfügig beschäftigt. Der Vater ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 24. März 2014 zu einem monatlichen Geldunterhalt von 252 EUR verpflichtet.
Am 8. Mai 2015 beantragte das Kind die Gewährung von Titelvorschüssen nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG im Wesentlichen mit der Begründung, der Vater habe den laufenden Unterhalt nach Eintritt der Vollstreckbarkeit nicht zur Gänze geleistet. Exekution sei beantragt worden. Der Vater gehe nur einer geringfügigen Beschäftigung nach. Außerdem sei über sein Vermögen ein Schuldenregulierungsverfahren eröffnet worden.
Das Erstgericht wies den Antrag ab. Voraussetzung für die Gewährung sei, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe und entweder österreichischer Staatsbürger oder staatenlos sei. Da dies auf die Antragstellerin nicht zutreffe, bestehe kein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss. Die türkische Staatsbürgerschaft des Unterhaltsschuldners rechtfertige keine Vorschussgewährung.
Dem gegen diesen Beschluss gerichteten Rekurs des Kindes gab das Rekursgericht nicht Folge.
Die Antragstellerin sei serbische Staatsbürgerin. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs 1 UVG bestehe daher kein Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Zwar werde diese Regelung durch unionsrechtliche Normen überlagert. Zweck dieser Bestimmungen sei aber nur die Koordination und nicht die Harmonisierung der verschiedenen sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten für Personen mit grenzüberschreitendem Berufsverlauf. Drittstaatsangehörige Kinder – so wie die Antragstellerin – fielen nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnungen (EWG) 1408/71 und 574/72, weshalb sie keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse im Inland hätten. An dieser Rechtslage habe sich durch die neue Koordinierungs VO (EG) 883/2004 nichts geändert, weil der persönliche Geltungsbereich dieser Verordnung Drittstaatsangehörige nicht erfasse; für diese gelte weiterhin die VO (EWG) 1408/71. Wenn auch nach dem Assoziationsratsbeschluss (ARB) Nr 3/80 türkische Arbeitnehmer, die sich legal in Österreich aufhalten, wie Unionsbürger zu behandeln seien, sei diese Inländergleichstellung im Licht der unionsrechtlichen Regelungen nicht auf das antragstellende Kind mit serbischer Staatsangehörigkeit auszuweiten.
Der Revisionsrekurs wurde wegen des Fehlens höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den zu beantwortenden Rechtsfragen zugelassen.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes, mit dem es die Stattgebung seines Antrags anstrebt.
Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.
In seinem Rechtsmittel macht das Kind geltend, dass der ARB 3/80 nicht nur türkischen Staatsbürgern, sondern auch ihren in Österreich lebenden Familienangehörigen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Inländergleichstellung einräume. Auf eine Wanderbewegung im EU-Raum komme es dabei nicht an.
Dazu wurde erwogen:
1. Gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 UVG haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind, Anspruch auf Vorschüsse auf den gesetzlichen Unterhalt. Diese Voraussetzungen erfüllt das Kind unstrittig nicht.
2. In Bezug auf türkische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen ist allerdings der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ARB 3/80) zu beachten, der die Geltung der Wanderarbeitnehmer VO (EWG) 1408/71 und der Durchführungs VO (EWG) 574/72 partiell auf türkische Arbeitnehmer ausdehnt. Gemäß Art 1 lit a des ARB 3/80 haben unter anderem die Ausdrücke Familienangehörige, Wohnort und Familienleistungen die Bedeutung, wie sie in Art 1 der Verordnung (EWG) 1408/71 definiert sind.
2.1. Nach seinem Art 2 ist der ARB 3/80 auf Arbeitnehmer anzuwenden, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten und die türkische Staatsangehörige sind, sowie für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer. Nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C 262/96, Sürül (Slg 1999, I 2685), ist der persönliche Geltungsbereich nach Art 2 der VO (EWG) 1408/71 entsprechend auch für die Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs des ARB 3/80 maßgebend (RIS Justiz RS0116469 [T5]).
2.2. Demnach besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft nach der VO (EWG) 1408/71, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist (vgl RIS Justiz RS0121106). Dieser Begriff des Arbeitnehmers setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus; vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko – so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte – zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft (RIS Justiz RS0115509 [T2], RS0116469).
Der Vater, die Mutter und der Bund haben sich nicht am Revisionsrekursverfahren beteiligt.
2.3. Nach der VO (EWG) 1408/71 ist Familienangehöriger jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, zum Teil nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist. Dies gilt in Österreich für leibliche Kinder unabhängig vom Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft (6 Ob 118/03a mit Hinweis auf § 123 ASVG).
2.4. Die Staatsbürgerschaft ist für die Familienangehörigkeit ohne Bedeutung. In der Rechtssache C 451/11, Dülger , hat der EuGH zu der insofern vergleichbaren Regelung im ARB 1/80 ausgeführt, dass sich ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines anderen Drittlands als der Türkei ist, im Aufnahmemitgliedstaat auf die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Rechte berufen kann, wenn alle anderen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei verwies der EuGH zusammengefasst darauf, dass Art 2 Abs 1 der VO (EWG) 1408/71 zwei deutlich unterschiedene Personengruppen behandle, nämlich die Arbeitnehmer auf der einen Seite und ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen auf der anderen Seite. Erstere fielen unter die Verordnung, wenn sie Angehörige eines Mitgliedstaats oder in einem Mitgliedstaat ansässige Staatenlose oder Flüchtlinge seien. Dagegen hänge die Anwendbarkeit der Verordnung auf Familienangehörige oder Hinterbliebene von Arbeitnehmern, die Gemeinschaftsangehörige seien, nicht von deren Staatsangehörigkeit ab. Dies gelte daher auch für das Assoziierungsabkommen, dessen Zwecke, die Familienzusammenführung und die dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat, unabhängig von der Staatsangehörigkeit seien. Diese Auslegung sei umso mehr gerechtfertigt, als sie sich auch für den ARB 3/80 aufdränge.
Dementsprechend stehen die im ARB 3/80 eingeräumten Rechte den Angehörigen eines türkischen Arbeitnehmers unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu.
3.1. Sachlich gilt der ARB 3/80 unter anderem für Familienleistungen. Da der Begriff der Familienleistungen so wie in Art 1 der VO (EWG) 1408/71 zu verstehen ist, fallen auch Unterhaltsvorschussleistungen unter den Begriff der Familienleistungen (10 Ob 14/09w). Insofern besteht im Assoziierungsrecht mit der Türkei ein gravierender Unterschied zur Sozialrechtskoordinierung nach der VO (EG) 883/2004, die Unterhaltsvorschussleistungen explizit vom sachlichen Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnung ausschließt.
3.2 Der ARB 3/80 sieht in seinem Art 3 ein Gleichbehandlungsgebot vor, das nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar anwendbar ist und unmittelbare Wirkungen entfaltet (C-262/96, Sürül , Slg 1999, I 2685; C 373/02, Öztürk , Slg 2004, I 3605). Daraus folgt, dass sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann und ebenso behandelt werden muss, wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats (10 Ob 14/09w).
4. Für den konkreten Fall bedeutet das:
– Der Vater der Antragstellerin, der die türkische Staatsbürgerschaft besitzt und in Österreich geringfügig beschäftigt ist, ist aufgrund der Unfallversicherung nach § 7 Z 3 lit a ASVG als Arbeitnehmer im Sinn des Art 2 ARB 3/80 anzusehen.
– Damit ist aber auch die Antragstellerin als Familienangehörige unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft nach Art 3 ARB 3/80 in Bezug auf Familienleistungen nach Art 1 der VO (EWG) 1408/71 inländischen Staatsbürgern gleichgestellt.
– Daher steht ihr trotz ihrer serbischen Staatsangehörigkeit grundsätzlich ein Anspruch auf Titelvorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1 UVG zu.
Erneut ist zu betonen, dass dieses Ergebnis auf der geltenden Sozialrechtskoordinierung mit der Türkei aufgrund des ARB 3/80 beruht und nicht auf sonstige Fälle der Drittstaatsangehörigkeit übertragbar ist.
5. Dass das Kind die weiteren Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Titelvorschüssen erfüllt, ist im Verfahren nicht strittig.
Daher ist dem Revisionsrekurs dahin Folge zu geben, dass der Antragstellerin Unterhaltsvorschüsse im beantragten Umfang, beginnend mit dem Monat der Antragstellung gewährt werden.
Die Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Entrichtung der Pauschalgebühr in Höhe des gewährten monatlichen Vorschussbetrags beruht auf § 24 UVG.
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