Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Jänner 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Nagl als Schriftführerin in der Strafsache gegen Verica J***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 7 U 123/09f des Bezirksgerichts Leopoldstadt, über die von der Generalprokurator gegen das Urteil des genannten Gerichts vom 16. April 2013, GZ 7 U 123/09f 19, und weitere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:
Im Verfahren AZ 7 U 123/09f des Bezirksgerichts Leopoldstadt verletzen
1./ die in der Hauptverhandlung am 16. April 2013 vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Vernehmungen der Biljana A***** und des Zlatko An***** als Beschuldigte §§ 252 Abs 1, 458 StPO;
2./ das Unterbleiben der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls vom 16. April 2013 an die Angeklagte §§ 271 Abs 6 letzter Satz, 458 StPO.
Das (Abwesenheits )Urteil des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 16. April 2013, GZ 7 U 123/09f 19, wird aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Bezirksgericht verwiesen.
Gründe:
Im Strafverfahren AZ 7 U 123/09f des Bezirksgerichts Leopoldstadt legte die Staatsanwaltschaft Wien Verica J***** (vormals: An***** [s ON 1 S 8]) mit Strafantrag vom 6. März 2009 (ON 4) ein von ihr als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Tatgeschehen zur Last.
Am 16. April 2013 führte die Bezirksrichterin die Hauptverhandlung in Abwesenheit der von diesem Termin infolge persönlicher Übernahme der Ladung am 20. März 2013 (ON 1 S 5) verständigten Angeklagten durch (ON 18). Nach ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Gesetzesstelle erfolgter Verlesung der Generalien der Angeklagten, ihrer Verantwortung ON 2 S 23 ff, der Strafregisterauskunft ON 17 und der „ON 2 (Abschlussbericht samt Einvernahmen)“ wurde Verica J***** anklagekonform des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür unter Bedachtnahme nach §§ 31, 40 StGB auf das im Verfahren AZ 40 U 60/09h des Bezirksgerichts Leopoldstadt ergangene Urteil vom 20. Juni 2011 zu einer nach § 43 Abs 1 StGB für die Dauer von drei Jahren bedingt nachgesehenen Zusatzfreiheitsstrafe von vier Wochen verurteilt (s Hauptverhandlungsprotokoll ON 18 sowie [Abwesenheits ]Urteil ON 19).
Danach hat sie am 11. Oktober 2008 in Wien Biljana A***** vorsätzlich am Körper verletzt, indem sie ihr mit der Faust ins Gesicht schlug, wodurch diese ein Hämatom im Bereich des linken Jochbeins und eine offene Wunde an der Oberlippeninnenseite erlitt.
Die schriftliche Urteilsausfertigung (ON 19) nicht aber eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung vom 16. April 2013 (ON 18) wurde der Angeklagten am 17. Juni 2013 persönlich ausgefolgt (vgl ON 1 S 8).
Die gegen das Urteil von der Angeklagten erst am 12. Juli 2013 ohne vorherige Anmeldung und daher verspätet persönlich bei Gericht überreichte Berufung (ON 21) wurde mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 27. August 2013, AZ 135 Bl 79/13p, als unzulässig zurückgewiesen.
Die in der Hauptverhandlung vom 16. April 2013 erfolgte Verlesung polizeilicher Protokolle über die Vernehmung anderer (mitbeschuldigter) Personen in Abwesenheit der Angeklagten sowie die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Angeklagte stehen wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt mit dem Gesetz nicht im Einklang:
1./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 StPO dürfen (ua) Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, sowie Gutachten von Sachverständigen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO normierten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO) verlesen werden (RIS Justiz RS0118778).
Keiner dieser Ausnahmetatbestände lag fallaktuell vor. Die Verlesung der ON 2, somit auch der Protokolle über die polizeilichen Vernehmungen der früheren (im Hauptverfahren nur als Zeugen in Betracht kommenden) Mitbeschuldigten Biljana A***** (ON 2 S 13 ff) und Zlatko An***** (ON 2 S 17 ff), widerspricht dem Gesetz, weil aus dem bloßen Nichterscheinen der Angeklagten zu Hauptverhandlung deren Einwilligung iSd § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS Justiz RS0117012).
Wenngleich das erkennende Bezirksgericht in den Urteilsgründen darauf hinwies, dass sich die Vernehmung des Opfers Biljana A***** und des Zlatko An***** als Zeugen „erübrigt“ habe, und die vorgetragenen Aussagen dieser beiden Personen bei der Beweiswürdigung auch keine (ausdrückliche) Berücksichtigung gefunden haben, bleibt aus dem Blickwinkel der aufgezeigten Gesetzesverletzung aber dennoch zweifelhaft, ob der Inhalt dieser unzulässiger Weise vorgekommenen die Angeklagte massiv belastenden Beweisergebnisse das Gericht bei der Entscheidung über die Frage der Schuld der Angeklagten und somit bei der Ablehnung ihrer (einen Faustschlag strikt in Abrede stellenden) Verantwortung nicht doch für sie nachteilig beeinflusste (vgl Ratz , WK StPO § 281 Rz 740; 12 Os 154/12g).
Da die aufgezeigte Gesetzesverletzung geeignet ist, der Angeklagten zum Nachteil zu gereichen, war deren Feststellung mit konkreter Wirkung (§ 292 letzter Satz StPO) zu verknüpfen.
2./ Zufolge der auch im Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht anzuwendenden (§ 458 letzter Satz StPO) Bestimmung des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten des Verfahrens, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Mangels eines im Anlassfall erklärten Verzichts verletzt die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Angeklagte § 271 Abs 6 letzter Satz StPO.
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