Der Oberste Gerichtshof hat am 17. November 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Rechtspraktikantin Dr. Walcher als Schriftführerin in der Strafsache gegen Egon V***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 216 U 199/08g des Bezirksgerichts Graz-Ost, über die von der Generalprokuratur gegen unterlassene Information und Ladung des Opfers erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur Generalanwalt Mag. Bauer, zu Recht erkannt:
Im Verfahren AZ 216 U 199/08g des Bezirksgerichts Graz-Ost verletzen die unterlassene Information des Erich L***** über seine wesentlichen Verfahrensrechte und die unterbliebene Ladung des Genannten zur Hauptverhandlung § 10 Abs 1 und Abs 2 iVm § 66 StPO sowie § 221 Abs 1 erster Halbsatz StPO idF BGBl I 2007/93 iVm §§ 447, 455 Abs 1 StPO.
Gründe:
Mit in gekürzter Form ausgefertigtem (§ 458 Abs 3 StPO idF vor BGBl I 2009/52) Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 22. Jänner 2009, GZ 216 U 199/08g-8, wurde Egon V***** von der Anklage, er habe „am 30. Juli 2008 in Graz, Leonhardstraße 135, als Lenker eines Straßenbahnzuges den gegenständlichen Verkehrsunfall infolge Reaktionsverspätung mitverursacht, wodurch der blinde Fußgänger Erich L***** schwere Verletzungen erlitt", gemäß § 259 Z 3 StPO (iVm §§ 447, 458 Abs 5 StPO idF BGBl I 2007/93) freigesprochen. Eine Vernehmung des Erich L***** im Ermittlungsverfahren oder in der Hauptverhandlung ist ebensowenig aktenkundig wie eine Information über seine Verfahrensrechte als Opfer (§ 65 Z 1 lit c StPO) oder seine Ladung zur Hauptverhandlung. Von einem rechtswirksamen Privatbeteiligtenanschluss des zum Zeitpunkt der Unfallaufnahme nicht ansprechbaren (ON 2 S 1) Erich L***** musste das Gericht (ungeachtet der Anmerkung in ON 2 S 25) nicht ausgehen.
Aktenkundig ist eine telefonische Mitteilung des „LKH Graz (I. Chirurgie)" gegenüber der Kriminalpolizei vom 12. August 2008. Danach musste Erich L***** „neuerlich am Kopf operiert werden" und es war mit ihm - weil er „sowohl blind als auch taubstumm ist" - „eine Kommunikation fast nicht möglich". „Weder die Belegschaft des LKH-Graz noch die Mutter von L*****" hatten damals „eine Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren". „Laut Angaben des behandelnden Arztes Dr. P***** wird sich L***** höchstwahrscheinlich nicht mehr an den Unfallhergang erinnern können" (ON 2 S 31).
Die unterlassene Belehrung des Erich L***** über seine Verfahrensrechte als Opfer und die unterbliebene Ladung des Genannten zur Hauptverhandlung stehen mit dem Gesetz - wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt - nicht im Einklang:
Opfer von Straftaten sind berechtigt, sich am Strafverfahren zu beteiligen (§ 10 Abs 1 StPO). Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht sind verpflichtet, auf die Rechte und Interessen der Opfer von Straftaten angemessen Bedacht zu nehmen und alle Opfer über ihre wesentlichen Rechte im Verfahren (§ 66 StPO) sowie über die Möglichkeit zu informieren, Entschädigungs- oder Hilfeleistungen zu erhalten (§ 10 Abs 2 StPO; vgl auch § 70 Abs 1 StPO).
§ 221 Abs 1 StPO idF BGBl I 2007/93 (abgeändert durch das Budgetbegleitgesetz 2009, BGBl I 2009/52), der gemäß §§ 447, 455 Abs 1 StPO (mit der dort genannten, hier nicht relevanten Maßgabe) auch im bezirksgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist, bestimmte, dass zur Hauptverhandlung neben den Beteiligten im Sinn des § 220 StPO auch Opfer (sowie deren Vertreter) zu laden sind, sofern nicht einer der (hier nicht aktuellen) Ausnahmetatbestände des § 221 Abs 1 dritter und vierter Satz StPO idF BGBl I 2007/93 vorliegt.
Durch Missachtung dieser Verfahrensvorschriften wurde dem Opfer die Möglichkeit genommen, die ihm gesetzlich gewährleisteten Mitwirkungsrechte im Strafverfahren (insbesondere §§ 66 Abs 1 Z 7, 249 Abs 1 StPO) wahrzunehmen und durchzusetzen.
Letztlich ist anzuführen, dass eine Vernehmung des Erich L***** - dem Vorbringen seines nun bestellten Sachwalters in einer Eingabe an die Generalprokuratur vom 15. Juli 2009 zufolge - mittels Übersetzungshilfe möglich gewesen wäre.
Da die aufgezeigten Gesetzesverletzungen infolge Freispruchs des Angeklagten nicht zu dessen Nachteil wirken, hat es mit deren Feststellung sein Bewenden.
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