Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Philipp Franz G*****, infolge Revisionsrekurses der Mutter Veronika G*****, derzeit ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Rudolf Tobler, Dr.Karl Heinz Götz und Dr.Rudolf Tobler jun., Rechtsanwälte in Neusiedl am See, gegen den Beschluß des Landesgerichts Eisenstadt als Rekursgericht vom 12.Jänner 1996, GZ 20 R 187/95 28, womit der Beschluß des Bezirksgerichts Neusiedl am See vom 6.November 1995, GZ P 138/95 13, bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
Die Eltern des Minderjährigen sind seit März 1992 verheiratet. Die Mutter stammt aus der Slowakei. Die Eltern hatten ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Der Minderjährige ist österreichischer Staatsbürger; ob er auch die slowakische Staatsangehörigkeit besitzt, steht nicht fest. Im Juli 1995 zog der Vater mit dem Minderjährigen aus der ehelichen Wohnung in das Anwesen der Eltern des Vaters. Seitdem leben die Ehegatten nicht bloß vorübergehend getrennt.
Beide Elternteile stellten im August bzw. September 1995 Anträge, die Obsorge für den Minderjährigen jeweils allein dem Antragsteller zu übertragen. Vom zuständigen Jugendamt wurde die Übertragung der Obsorge an den Vater befürwortet, weil das Kind im Haus der Großeltern gut integriert sei. Die Mutter sei nach Bratislava verzogen und habe seit der Trennung von ihrem Mann im Juli 1995 kaum Kontakt zu dem Minderjährigen gesucht.
Am 2.11.1995 brachte die Mutter den Minderjährigen von seinem bisherigen Wohnort in die Slowakei.
Über Antrag des Vaters übertrug das Erstgericht die Obsorge für den Minderjährigen vorläufig dem Vater und verpflichtete die Mutter, das Kind an den obsorgeberechtigten Vater herauszugeben. Der Minderjährige sei aus seiner gewohnten Umgebung plötzlich herausgerissen und in ein ihm fremdes Umfeld gebracht worden, in dem auch eine andere Sprache gesprochen werde. Die Gefahr, daß damit dem Wohl des Kindes geschadet werde, sei umso größer, als der Minderjährige nach den glaubhaften Aussagen des Vaters im Prostituierten und Unterweltmilieu festgehalten werde. Infolge der gewaltsamen Entfernung aus dem großelterlichen Haus und der Geheimhaltung des derzeitigen Aufenthalts des Kindes bestehe die Gefahr, daß die Mutter mit ihrem minderjährigen Sohn für immer unauffindbar bleibe.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es sei nicht zu rechtfertigen, daß die Mutter während des anhängigen Pflegschaftsverfahrens ohne Befassung der zuständigen Gerichte eigenmächtig das Kind aus seiner bisherigen Umgebung herausgerissen habe. Dem Erstgericht sei zuzustimmen, daß die Vertrautheit der Umgebung gerade für die gedeihliche Entwicklung eines Kleinkindes von besonderer Bedeutung sei. Dazu komme, daß nach den bisherigen Verfahrensergebnissen zumindest der Verdacht bestehe, daß die Mutter Prostituierte sei bzw. in Unterweltskreisen verkehre. Dies könne allerdings erst abschließend im Verfahren über die endgültige Zuteilung der Obsorge beurteilt werden. Für die Verfügung nach § 176 ABGB reiche schon der substantiierte Verdacht aus, das Kindeswohl werde bei Belassung des Minderjährigen in seiner bisherigen Umgebung gefährdet. Die Vorgangsweise der Mutter, eigenmächtig einen faktischen Zustand zu schaffen, werde von der Rechtsordnung mißbilligt. Die vom Erstgericht gemäß § 176 ABGB beschlossene Maßnahme sei daher dringend geboten gewesen. Auch die Aussage der Mutter könne an dieser rechtlichen Beurteilung nichts ändern, weil sich dieser auch nicht ansatzweise konkrete Umstände entnehmen ließen, die eine Belassung des Kindes in der gewohnten Umgebung beim Vater als dem Kindeswohl abträglich erscheinen ließen. Nicht einmal aus den eigenen Angaben der Mutter seien Umstände ersichtlich, die ihre eigene Vorgangsweise rechtfertigen oder auch nur entschuldigen könnten.
Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und auch berechtigt.
Weder die ehemalige Tschechoslowakei war noch die Slowakei ist Vertragsstaat des Haager Minderjährigenschutzabkommens (BGBl 1975/446 MSA). Aufgrund des Vorbehalts der Republik Österreich zu Art.13 Abs.3 MSA ist dessen Anwendung im Inland auf Minderjährige beschränkt, die einem der Vertragsstaaten angehören. Da das MSA nur auf alle jene Minderjährigen anzuwenden ist, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten haben (Art 13 Abs.1 MSA), hätte es wäre mit Rücksicht auf die nun schon längere Dauer des Aufenthalts des Minderjährigen auf dem Gebiet der Slowakei dessen gewöhnlicher Aufenthalt in diesem Staat zu unterstellen dann mangels Geltung des MSA aus dem Grunde des Art 13 Abs.1 des Abkommens bei der Regel des § 110 Abs.1 Z 1 JN zu bleiben, nach der für die im § 109 JN bezeichneten Angelegenheiten die inländische Gerichtsbarkeit unter anderem dann gegeben ist, wenn der Minderjährige wie hier österreichischer Staatsbürger ist; nach den mangels Anwendbarkeit des MSA dann maßgeblichen autonomen österreichischen Kollisionsnormen (§ 24 IPRG) wäre dann auch für die hier anstehende Entscheidung österreichisches Sachrecht maßgeblich ( Schwimann in Rummel , ABGB 2 § 24 IPRG Rz 2 mwN); an diesem Anknüpfungsergebnis könnte es auch nichts ändern, würde sich herausstellen, daß der Minderjährige auch slowakischer Staatsangehöriger ist, weil in diesem Fall gemäß § 9 Abs.1 IPRG die österreichische Staatsbürgerschaft maßgeblich ist.
Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man unterstellt, daß der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt (noch) im Inland hat. Dieser ist dort gegeben, wo sich der Mittelpunkt der Lebensführung befindet. Im Zweifel kann zwar ein solcher nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten angenommen werden (RZ 1989/90 mwN), es bedarf aber vor allem dann einer sorgfältigen Prüfung aller Umstände, wenn der gegenwärtige Aufenthalt des Kindes mehr oder minder hier durch Entführung zwangsweise herbeigeführt wurde, weil das Kind noch vor einer gerichtlichen Entscheidung über die Zuweisung der Elternrechte von einem Elternteil in einen anderen Staat gebracht wurde ( Schwimann , Das Haager Minderjährigenschutzabkommen und seine Anwendung in Österreich, in JBl 1976, 233, 276). Wäre mangels Relevanz der Verbringung des Kindes in die Slowakei nach wie vor von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen im Inland auszugehen, wäre dann die inländische Gerichtsbarkeit schon nach Art 1 MSA zu bejahen und österreichisches materielles Recht anzuwenden (Art 2 MSA), weil das MSA zufolge seines Art 13 Abs 1 auch auf minderjährige österreichische Staatsbürger anzuwenden ist, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben (SZ 60/212 mwN).
Wird ein Minderjähriger von einem nicht (allein) sorgeberechtigten Elternteil ins Ausland verbracht, wird sich der dem entgegenstehende Wille des anderen Elternteils regelmäßig rein tatsächlich dahin auswirken, daß der Aufenthalt des Minderjährigen in einem anderen Staat noch nicht als auf Dauer angelegt angesehen werden kann, sodaß allein deshalb ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts noch nicht eintritt. Der Wille des nicht (allein) sorgeberechtigten Elternteils und gegebenenfalls auch der Wille des Minderjährigen selbst, im neuen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, kann seinen Aufenthalt objektiv auf Dauer noch nicht festlegen, solange die Möglichkeit besteht, daß der (Mit )Sorgeberechtigte die Rückführung des Minderjährigen durchsetzt, ehe es zu dessen sozialer Eingliederung in seine neue Umwelt kommt (EvBl 1988/120). Wenngleich die Slowakei weder Vertragsstaat des MSA noch des Haager Kindesentführungsübereinkommens (BGBl 1988/512) ist, und auch das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechtes (BGBl 1985/321) nicht ratifiziert hat, kann doch nicht gesagt werden, daß schon aus diesem Grund eine vorläufige Maßnahme gemäß § 176 ABGB mangels Vollstreckbarkeit im ausländischen Staat nicht zu treffen wäre. Die Möglichkeit, daß die slowakischen Gerichte und Behörden bei der Durchsetzung eines österreichischen Gerichtsbeschlusses mitzuwirken bereit sind, kann nämlich nicht ohneweiteres ausgeschlossen werden.
Allerdings ist zu beachten, daß vorläufige Maßnahmen gemäß § 176 ABGB nur bei akuter Gefährdung des Kindeswohles getroffen werden dürfen (EFSlg 66.038 ua). Ist mangels Einigung der nicht bloß vorübergehend getrennt lebenden Eltern gemäß § 177 Abs.2 ABGB über ihren Antrag eine Entscheidung zu treffen, welchem Elternteil die aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten allein zustehen sollen, kann das Gericht nur dann, wenn besondere Umstände im Interesse des Kindes eine sofortige Entscheidung erfordern, auch vorläufige Maßnahmen anordnen. Ohne zwingende Notwendigkeit darf dabei aber der endgültigen Entscheidung nicht vorgegriffen werden. Da bei vorläufiger Zuweisung des Sorgerechtes keine für die Kontinuität der Pflege und Erziehung bei der endgültigen Entscheidung unberücksichtigt zu lassende bloß faktische Situation, sondern ein sehr wohl zu berücksichtigender gesetzmäßiger Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil gegeben wäre, läge bei sonst gleicher Erziehungssituation bei den Elternteilen aufgrund einer vorläufigen Zuteilung bereits ein solcher Vorgriff vor (SZ 59/160 ua). Der Oberste Gerichtshof hat mehrfach ausgesprochen, daß der Gefahr der Verbringung eines Kindes ins Ausland und einer dadurch unabänderlich bedingten nachteiligen Erziehungssituation durch Maßnahmen gemäß § 176 ABGB entgegengewirkt werden könne (SZ 59/160; EFSlg 68.826; 66.038 ua; 8 Ob 566/92). Ein derartiger Fall liegt aber hier nicht vor. Die Verbringung des Kindes ins Ausland ist bereits erfolgt, sodaß nur mehr ausschlaggebend ist, ob ein neuerlicher Obsorgewechsel zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Die gerichtlichen Entscheidungen haben nämlich ausschließlich auf den Schutz des Minderjährigen und nicht auf die Wahrung der Elternrechte abzustellen (EvBl 1988/120 ua; zuletzt wieder 1 Ob 601/95). Es kommt daher ausschließlich darauf an, ob die Belassung des Kindes in der nunmehrigen Umgebung eine solche Gefährdung für dieses mit sich bringt, daß Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung des bestehenden Zustandes dringend geboten erscheinen (RZ 1992/7).
Wenngleich das Verhalten der Mutter nicht zu billigen ist, können somit weder dieses noch der nunmehrige Aufenthalt des Kindes im Ausland allein eine vorläufige Maßnahme nach § 176 ABGB rechtfertigen. Der von den Vorinstanzen geäußerte bloße Verdacht, die Mutter verkehre in der Slowakei im „Rotlichtmilieu“, vermag sich die gefällte vorläufige Entscheidung nicht zu begründen. Es trifft zwar zu, daß bei einer Provisorialmaßnahme nicht sämtliche notwendigen Erhebungen zu treffen sind, weil andernfalls bereits mit einer endgültigen Entscheidung vorgegangen werden könnte (EFSlg 43.349; EvBl 1994/123 ua), doch ist den Beschlüssen nicht einmal zu entnehmen, ob Erst und Rechtsmittelgericht ein derartiges Verhalten der Mutter für glaubhaft erachteten oder nicht. Da die Mutter zwischenzeitig vernommen wurde und die Behauptungen des Vaters bestritt, wird es im fortgesetzten Verfahren unumgänglich sein, weitere Erhebungen zu führen, wobei es erforderlich sein wird, zumindest zu versuchen, die Lebensverhältnisse des Minderjährigen in der Slowakei unter Einschaltung der zuständigen Behörden festzustellen. Dem Kindeswohl entspricht es, daß das Gericht seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerungen durchführt sowie nach ausreichender Klärung aller maßgeblichen Umstände eine nicht nur vorläufige, sondern endgültige Entscheidung über die Zuweisung der elterlichen Rechte und Pflichten trifft (SZ 59/160). Eine vorläufige Entscheidung wird daher nach diesen Erhebungen voraussichtlich nicht mehr erforderlich sein. Dennoch kann der Antrag derzeit nicht ohneweiteres abgewiesen werden, weil es in einem derartigen Fall die Berücksichtigung des Kindeswohls erfordert, daß sämtliche notwendige Erhebungen durchgeführt werden (EvBl 1994/123).
Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben.
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