Der Oberste Gerichtshof hat am 9.Februar 1995 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kuch, Mag.Strieder, Dr.Rouschal und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Köttner als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Karin B***** wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 9 U 1040/93 des Bezirksgerichtes Donaustadt, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen
1) die Strafverfügung des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 22.November 1993, GZ 9 U 1040/93-3,
2) den Beschluß des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 30.Dezember 1993, GZ 9 U 1040/93-3 (verso) und
3) den Beschluß des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 31.Jänner 1994, GZ 9 U 1040/93-5,
nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Weiß, jedoch in Abwesenheit der Verurteilten, zu Recht erkannt:
Das Gesetz wurde durch das Bezirksgericht Donaustadt verletzt, und zwar
1./ durch die Erlassung der Strafverfügung vom 22.November 1993, GZ 9 U 1040/93-3, gegen die jugendliche Beschuldigte in der Bestimmung des § 32 Abs 4 JGG und infolge Überschreitens der örtlichen Zuständigkeit in der Bestimmung des § 6 Abs 2 des Bezirksgerichts-Organisationsgesetzes für Wien, BGBl 1985/203, iVm § 23 Z 1 lit b JGG,
2./ durch den Beschluß vom 30.Dezember 1993, GZ 9 U 1040/93-3 (verso), in dem trotz unterbliebener Zustellung der Strafverfügung an den gesetzlichen Vertreter der jugendlichen Beschuldigten bereits der Eintritt der Rechtskraft der Strafverfügung festgestellt, das Strafregister hievon verständigt und die Annahme der Geldstrafe und der Pauschalkosten vermerkt wurde, in der Bestimmung des § 38 Abs 2 JGG, und
3./ durch den Beschluß vom 31.Jänner 1994, GZ 9 U 1040/93-5, mit dem die wirksame, wenn auch noch nicht rechtskräftige Strafverfügung ohne Vorliegen eines Einspruches für gegenstandslos erklärt und das Verfahren an den Jugendgerichtshof Wien abgetreten wurde, in den Bestimmungen des § 462 Abs 1 StPO.
Die Strafverfügung vom 22.November 1993 wird aufgehoben und die Sache an den örtlich zuständigen Jugendgerichtshof Wien verwiesen, dem aufgetragen wird, das Verfahren dem Gesetz gemäß fortzusetzen.
Gründe:
Die am 22.Oktober 1975 geborene, im zwölften Wiener Gemeindebezirk wohnhafte Karin B***** wurde wegen eines am 18.Oktober 1993 (somit von ihr noch als Jugendliche) im zweiten Wiener Gemeindebezirk versuchten Ladendiebstahls von drei Musikkassetten und einer Börse im Wert von 254,60 S mit Strafverfügung des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 22.November 1993, GZ 9 U 1040/93-3, des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer (unbedingten) Geldstrafe verurteilt. Die Strafverfügung wurde nur der Jugendlichen und der Bezirksanwältin beim Bezirksgericht Donaustadt zugestellt, die beide dagegen keinen Einspruch erhoben. Die Geldstrafe (sowie die in der Strafverfügung bereits bestimmten Pauschalkosten) wurde von Karin B***** noch vor Erlassung der Endverfügung vom 30.Dezember 1993 an das Bezirksgericht Donaustadt überwiesen. In dieser Endverfügung wurde (rechtsirrtümlich, weil die Zustellung der Strafverfügung an den gesetzlichen Vertreter der Jugendlichen unterblieben war) die Rechtskraft der Strafverfügung mit 21. Dezember 1993 vermerkt, das Strafregisteramt verständigt und die Annahme der Geldstrafe und der Pauschalkosten vermerkt (S 18, 19).
Erst nach Abfertigung der Endverfügung erkannte die zuständige Richterin des Bezirksgerichtes Donaustadt den bei Erlassung der Straf- und der Endverfügung unterlaufenen Irrtum über das jugendliche Alter der Beschuldigten zum Tatzeitpunkt und bei Erlassung der Strafverfügung. Mit der (an sich richtigen) Begründung, daß aus diesem Grund zur Behandlung der Strafsache der Jugendgerichtshof Wien zuständig gewesen wäre und die Erlassung einer Strafverfügung überhaupt unzulässig war, faßte dieses Bezirksgericht daraufhin am 31. Jänner 1994 nachstehenden Beschluß (ON 5):
"1./ Das Bezirksgericht 22 ist zur Führung des Verfahrens gegen Karin B***** unzuständig. Das Verfahren wird gemäß § 23 JGG an den Jugendgerichtshof Wien abgetreten.
2./ Die Strafverfügung vom 22.November 1993, GZ 9 U 1040/93-3, ist gemäß dem § 32 Abs 4 JGG unzulässig und somit gegenstandslos."
Zugleich verfügte das Gericht die Rücküberweisung des von Karin B***** überwiesenen Geldbetrages (Geldstrafe und Pauschalkosten; vgl S 22).
Vom Jugendgerichtshof Wien wurde mit Beschluß vom 7.April 1994 (S 1 a) in weiterer Folge unter Hinweis auf die rechtskräftige Verurteilung Karin B***** "vorerst" seine Zuständigkeit nicht anerkannt und der Akt dem Bezirksgericht Donaustadt rückabgetreten. Vom Bezirksgericht Donaustadt über Antrag der Staatsanwaltschaft Wien sodann wiederholt unternommene Versuche, die gesetzliche Vertreterin der Jugendlichen vorzuladen und sie zu einem Einspruch gegen die Strafverfügung vom 22.November 1993 anzuhalten, blieben erfolglos.
Die geschilderte Vorgangsweise des Bezirksgerichtes Donaustadt steht - wie die Generalprokuratur in ihrer deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend geltend macht - in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Die örtliche Zuständigkeit des Bezirksgerichtes Donaustadt in Ausübung der den Bezirksgerichten übertragenen Gerichtsbarkeit in Strafsachen umfaßt wohl auch den zweiten Wiener Gemeindebezirk (§ 2 Z 8 des Bezirksgerichts-Organisationsgesetzes für Wien, BGBl 1985/203 idgF), allerdings nur, soweit hiezu nicht der Jugendgerichtshof Wien berufen ist (§ 6 Abs 2 leg. cit), der aber für die Sprengel aller in Wien gelegenen Bezirksgerichte zur Ausübung der den Bezirksgerichten zustehenden Gerichtsbarkeit in Jugendstrafsachen, dh in Strafverfahren gegen Personen, die als Jugendliche eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung begangen haben (§ 1 Z 3 und 4 JGG), berufen ist (§ 23 Z 1 lit b JGG).
Das Bezirksgericht Donaustadt war somit für die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit in Ansehung des von der Jugendlichen Karin B***** begangenen versuchten Ladendiebstahles nicht zuständig.
Abgesehen davon, daß dieses Gericht infolge der unterbliebenen Feststellung des Alters der Beschuldigten unter 19 Jahren auch die sonstigen materiellrechtlichen und prozessualen Sonderbestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes (§§ 2 ff JGG) nicht eingehalten hat, war auch die Verurteilung Karin B***** durch Erlassung einer Strafverfügung unzulässig, weil die Genannte auch in diesem Zeitpunkt noch jugendlich war (§ 32 Abs 4 JGG).
Wenn auch die Erlassung einer Strafverfügung unzulässig war, so hätte doch deren Zustellung an den (damaligen) gesetzlichen Vertreter der (damals noch) Jugendlichen erfolgen müssen, stehen diesem doch im selben Umfang wie dem jugendlichen Beschuldigten Rechtsmittel gegen schuldigsprechende gerichtliche Entscheidungen zu (§ 38 Abs 2 und Abs 3 JGG). Zu Unrecht wurde daher in der Endverfügung bereits der Eintritt der Rechtskraft der Strafverfügung mit 21.Dezember 1993 angenommen. Daher war auch die vom Gericht angeordnete Verständigung des Strafregisters sowie die vermerkte Annahme der Geldstrafe und der Pauschalkosten (S 18) verfehlt.
Trotz der bei Erlassung der Strafverfügung unterlaufenen Gesetzwidrigkeit war das Bezirksgericht Donaustadt aber ab Übergabe der Entscheidungsurschrift an die Geschäftsstelle (zur Ausfertigung) an die bezeichnete Strafverfügung gebunden. Gemäß § 462 Abs 1 StPO kann nämlich das ordentliche Verfahren im Anschluß an die Erlassung einer Strafverfügung - von einer Maßnahme nach § 292 letzter Satz StPO abgesehen - nur auf Grund des Einspruches einer Partei (im Fall der unzulässigen Erlassung der Strafverfügung gegen einen Jugendlichen - wie oben ausgeführt - auch auf Grund eines Einspruches seines gesetzlichen Vertreters) eingeleitet werden. Insofern stellt die Erlassung einer Strafverfügung ein temporäres Verfolgungshindernis eigener Art dar, das nur mit der Erhebung des Einspruches oder mit der Aufhebung der Strafverfügung zum Wegfall kommen kann (Mayerhofer-Rieder StPO3 § 460 E 20 mwN).
Aus diesem Grund war daher auch die mit Beschluß vom 31.Jänner 1994 ohne Vorliegen eines Einspruches ausgesprochene "Gegenstandsloserklärung" der Strafverfügung und auch die Abtretung des Verfahrens an den an sich gemäß § 23 Z 1 lit b JGG zuständigen Jugendgerichtshof Wien unzulässig.
Die gesetzwidrige Strafverfügung war zu kassieren und dem zuständigen Jugendgerichtshof Wien die gesetzgemäße Verfahrensfortsetzung aufzutragen.
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