Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Pulkrab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Margarete P*****, Pensionistin, ***** vertreten durch ihre Sachwalterin Mag.Brigitte D*****, Verein für Sachwalterschaft, ***** diese vertreten durch Dr.Kurt Dellisch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Hilflosenzuschusses und Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19.Mai 1994, GZ 8 Rs 9/94-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8.November 1993, GZ 34 Cgs 180/93d-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Begründung:
Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 16.6.1993 wurde der Antrag der Klägerin vom 13.5.1993 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses abgelehnt, weil sie nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe (§ 105a ASVG). Seit 1.8.1990 bezieht die Klägerin eine Invaliditätspension von zuletzt monatlich S 4.907,70.
Das Erstgericht wies das auf Gewährung des Hilflosenzuschusses für die Zeit vom 1. bis 30.6.1993 und des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß ab 1.7.1993 gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß die am 15.4.1948 geborene Klägerin in der Lage sei, alle lebensnotwendigen Verrichtungen ohne fremde Hilfe durchzuführen. Es gebe keinen Hinweis auf eine organische Erkrankung im Bereich des zentralen oder peripheren Nervensystems. Psychiatrisch liege ebenfalls keine Störung vor. Von einer erheblichen Übergewichtigkeit abgesehen sei die Klägerin sowohl in somatischer als auch psychischer Hinsicht weitgehend unauffällig. Gewisse Verhaltensstörungen könnten behandelt werden. Insgesamt handle es sich bei ihr um eine psychisch instabile Persönlichkeit.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin sei nicht hilflos sie bedürfe keiner ständigen Wartung und Hilfe (§ 105a ASVG), weil sie alle lebensnotwendigen Verrichtungen selbst ausführen könne. Daher bestehe weder ein Anspruch auf Hilflosenzuschuß nach § 105a ASVG noch auf Pflegegeld (§ 4 BPGG).
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels, übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und führte in Erledigung der Rechtsrüge aus, eine Pflegebedürftigkeit könne zwar auch durch nicht krankhafte Vergeßlichkeit oder durch eine Verwahrlosung begründet werden, die auf eine Charakterstörung oder andere Störung nicht psychiatrischer Natur zurückzuführen sei, doch liege eine solche Störung nach dem festgestellten Sachverhalt nicht vor; dies werde auch dadurch bestätigt, daß die Klägerin einen Sachwalter nur zur Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten beigestellt erhalten habe. Selbst wenn die Klägerin täglich zu den lebensnotwendigen Verrichtungen angehalten werden müßte, bestünde kein Anleitungsaufwand von mindestens 50 Stunden monatlich.
Die Revision der Klägerin ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Gemäß § 43 Abs 2 BPGG sind allen am 1.7.1993 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren für die Zeit bis zum 30.6.1993 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen der im § 3 genannten Normen (hier des ASVG) zugrunde zu legen. Der Anspruch der Klägerin war daher bis zum 30.6.1993 nach § 105a ASVG und ab dem 1.7.1993 nach dem BPGG zu beurteilen (10 ObS 139/94 ua).
Davon sind auch die Vorinstanzen zutreffend ausgegangen. Die vom Erstgericht getroffenen und vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen reichen jedoch zu einer abschließenden rechtlichen Beurteilung nicht aus.
Nach § 105a Abs 1 ASVG gebührte Beziehern einer Pension, die derart hilflos sind, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedürfen, ein Hilflosenzuschuß. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes war auch ein Versicherter, der zwar körperlich in der Lage ist, die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst auszuführen, wegen seiner Kritik- und Antriebslosigkeit aber dazu angehalten muß, hilflos im Sinne des Gesetzes (SZ 61/72 = SSV-NF 2/32). Daran schließt die Bestimmung des § 4 der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz, BGBl 1993/314 (EinstV) an. Danach sind die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Auch Anleitung und Beaufsichtigung zählen daher zum Pflegebedarf im Sinne des § 4 Abs 1 BPGG und sind gegebenenfalls unter Berücksichtigung der in den §§ 1 und 2 EinstV normierten zeitlichen Vorgaben - der zeitliche Aufwand ist ja insofern der gleiche - bei der Ermittlung des Bedarfsausmaßes in Rechnung zu stellen. Unter Umständen wird, worauf Pfeil (Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem, dritter Teil, Abschnitt 2, III. 3.5.5. - in Druck) zutreffend hinweist, sogar ein höherer Bedarf anerkannt werden müssen, wenn die Hilfe besonders mühsam umgesetzt werden kann, weil sich Symptome wie Negativismus oder Autismus häufig gegen die Pflegeperson richten. Die Erläuterungen zur Einstufungsverordnung verweisen darauf, daß Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung in vielen Fällen nicht im eigentlichen Sinn "pflegebedürftig", sondern durch die Unfähigkeit zur sozialen Anpassung und Integration vielfach außerstande sind, für sich selbst entsprechend zu sorgen. Sie müssen daher zur Vornahme der täglich notwendigen Verrichtungen wie etwa Aufstehen, Waschen oder Essen angehalten werden, um einen strukturierten Tagesablauf bewältigen und ein sozialintegriertes Leben führen zu können.
Nach dem Gutachten des psychiatrischen und neurologischen Sachverständigen schilderte der Quartiergeber der Klägerin, sie erscheine hochgradig vergeßlich, müsse zu allem angehalten werden, nässe sich zwei bis dreimal in der Woche ein, wasche sich nicht ohne Anleitung, beschäftige sich nicht, sitze nur herum und sei weinerlich. Es ist richtig, daß diese Angaben im weiteren Verlauf des Gutachtens keinen Niederschlag gefunden haben, wobei es allerdings eine Frage der dem Obersten Gerichtshof nicht obliegenden Beweiswürdigung darstellt, ob wirklich davon ausgegangen werden kann, daß der Sachverständige seine Befundaufnahme der Verifizierung oder Widerlegung dieser Angaben gewidmet hat. Entscheidend ist, welcher Sachverhalt von den Tatsacheninstanzen festgestellt wurde. Nach den erstgerichtlichen und vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen ist die Klägerin zwar in der Lage, alle lebensnotwendigen Verrichtungen ohne fremde Hilfe durchzuführen, doch bieten diese Feststellungen keinen Anhaltspunkt dafür, ob die Klägerin etwa wegen ihrer festgestellten psychischen Instabilität zu diesen Verrichtungen angeleitet und/oder dabei beaufsichtigt werden muß. Wenngleich die Klägerin körperlich zur Vornahme aller notwendigen Verrichtungen in der Lage wäre, könnte Hilflosigkeit oder Pflegebedürftigkeit dann vorliegen, wenn sie dazu Anleitung und/oder Beaufsichtigung bedarf, weil eben nach dem klaren Wortlaut des Verordnungstextes die Anleitung und die Beaufsichtigung von Menschen bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen sind.
Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war diese unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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