W169 2276304-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU-GmbH), gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.07.2023, Zl. 1302264703-220993198, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.05.2024, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Somalia, stellte nach illegaler, schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 02.04.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie Somali spreche. Sie gehöre der Religionsgemeinschaft der Muslime an und stamme aus Adan Yabal. Sie sei zu Hause unterrichtet worden und habe keinen Beruf ausgeübt. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter und ihre Schwester würden in Somalia leben. Die Beschwerdeführerin habe im Juni 2021 Somalia illegal mit dem Flugzeug verlassen. Zu ihrem Ausreisegrund führte sie an, dass ihr Stiefvater sie mit jemandem zwangsverheiraten habe wollen. Sie sei von ihrem Stiefvater mehrmals verletzt worden. Das werde in Somalia als normal angesehen.
2. Anlässlich ihrer Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 01.06.2023 gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie der Religionsgemeinschaft der Muslime und der Minderheit der Madhibaan angehöre. Sie stamme aus dem Dorf XXXX im Bezirk Aden Yabal in der Region Middle Shabelle, wo sie bis zu ihrer Ausreise gelebt habe. Sie habe in der Koranschule lesen und schreiben gelernt. Sie habe in ihrem Heimatdorf ihre Mutter und ihre Schwester. Ihr leiblicher Vater sei verstorben, als sie ca. acht Jahre alt gewesen sei und etwa zwei Jahre später habe ihre Mutter erneut geheiratet. Vonseiten ihres Stiefvaters, der dem Clan der Abgaal angehöre, habe die Beschwerdeführer drei Halbbrüder. Sie hätten einige Ziegen besessen und es sei ihnen wirtschaftlich immer schlecht gegangen. Ihr Stiefvater sei ein bewaffneter Verbrecher in einer Gruppierung. Die Beschwerdeführerin habe zuletzt im August 2021 über einen entfernten Verwandten telefonischen Kontakt zu ihrer Familie gehabt.
Zu ihrem Fluchtgrund führte die Beschwerdeführerin in freier Erzählung aus, dass ihr Vater verstorben sei, als sie noch ein Kind gewesen sei. Sie habe zuerst mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester zusammengelebt. Ihre Schwester leide an einer Nervenerkrankung. Nach dem Tod des Vaters seien diese Verbrecher in ihre Familie gekommen und ihre Mutter sei zwangsverheiratet worden. Dieser Mann habe auch eigene Kinder, die er mitgebracht habe. Er habe ihre Mutter geschlagen und sie als „Boon“ beschimpft. Auch die Beschwerdeführerin sei davon betroffen gewesen. Die Kinder hätten sie auch als „Boon“ beschimpft. Sie sei ihre Sklavin im Haushalt gewesen und habe auf die Ziegen aufpassen und Wasser holen müssen. Die Söhne des Verbrechers hätten sie körperlich attackiert. Ihre Schwester sei mit den Füßen getreten worden. Die Beschwerdeführerin sei immer wieder von diesem Mann geschlagen worden. Sie hätten nicht mit demselben Geschirr essen wollen. Manchmal habe die Beschwerdeführerin zusätzlich von fremden Leuten den Haushalt machen, Reinigungsarbeiten durchführen und waschen müssen. Er habe immer seine Waffe bei sich getragen. Manchmal habe er sie später in der Nacht mit Fußtritten geweckt. Wenn sich ihre Mutter eingemischt habe, sei sie von ihm geschlagen worden. Dann habe er ihr einen fremden Mann gebracht und ihr gesagt, dass sie diesen Mann heiraten müsse. Sie habe nichts zu sagen gehabt. Ihre Mutter habe ihm sagen wollen, dass die Beschwerdeführerin diesen Mann nicht unter Zwang heiraten müsse. Er habe sie dann geschlagen. Die Beschwerdeführerin habe er so heftig geschlagen, dass sie ohnmächtig geworden sei. Der Mann, mit dem sie verheiratet habe werden sollen, sei deutlich älter als der Stiefvater gewesen und habe zu seiner Gruppe gehört. Er sei im Dorf sehr bekannt und ein Killer gewesen. Die Menschen im Dorf hätten Angst vor ihm. Die Beschwerdeführerin hätte diesen Mann heiraten sollen. Das sei ihr Fluchtgrund.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und monierte nach Wiederholung der bisher getätigten Angaben unter Ausführung näherer Gründe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine fehlerhafte Beweiswürdigung und daraus folgend eine unrichtige rechtliche Beurteilung.
5. Am 03.05.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt (s. Verhandlungsprotokoll).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest. Sie ist eine Staatsangehörige von Somalia und gehört der Religionsgemeinschaft der Muslime an. Sie wurde im Bezirk Adan Yabal in der Region Middle Shabelle geboren und hat dort bis zu ihrer Ausreise gelebt.
Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführerin versuchte ihr Stiefvater nicht, sie im Mai 2021 zwangsweise zu verheiraten. Sie wurde auch nicht aufgrund ihrer behaupteten Zugehörigkeit zur berufsständischen Minderheit der Madhibaan von ihrem Stiefvater und seinen Söhnen misshandelt und von der Dorfgemeinschaft entrechtet. Sie ist keine alleinstehende Frau in Somalia.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgehalten:
1. Bevölkerungsstruktur
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, S. 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, S. 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, S. 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vgl. NLMBZ 1.12.2021, S. 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, S. 44; vgl. SEM, 31.5.2017, S. 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, S. 5).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, S. 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, S. 8).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, S. 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, S. 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, S. 9).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, S. 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, S. 38ff).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, S. 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, S. 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, S. 25).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report
BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Somalia Country Report
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020
GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A
LI - Landinfo [Norwegen] (4.4.2016): Somalia: Practical issues and security challenges associated with travels in Southern Somalia
NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa
UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
2. Berufsständische Minderheiten
Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen (UNHCR 22.12.2021, S. 57). Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet (UNHCR 22.12.2021, S. 57; vgl. NLMBZ 1.12.2021, S. 45; SEM 31.5.2017, S. 14ff) - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen (NLMBZ 1.12.2021, S. 45). Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (UNHCR 22.12.2021, S. 57).
Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (SEM 31.5.2017, S. 43f). In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, S. 3).
Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, S. 9). Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen (GIGA 3.7.2018; vgl. SEM 31.5.2017, S. 44ff). Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (SEM 31.5.2017, S. 44ff).
Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (SEM 31.5.2017, S. 49).
Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch (SEM 31.5.2017, S. 44ff; vgl. ÖB 11.2022, S. 4). Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks (FH 2022a, G3) kommen Mischehen äußerst selten vor (SEM 31.5.2017, S. 44ff; vgl. FIS 5.10.2018, S. 26). Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden (ÖB 11.2022, S. 4; vgl. SEM 31.5.2017, S. 44ff). Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt (SEM 31.5.2017, S. 44ff). In Mogadischu sind Mischehen möglich (FIS 5.10.2018, S. 26). Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (ICG 27.6.2019, S. 7f). Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).
Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert (SEM 31.5.2017, S. 44ff). Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört (ÖB 11.2022, S. 4). So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck (SEM 31.5.2017, S. 44ff). Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (FIS 5.10.2018, S. 26).
Quellen:
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report
FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A
ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency
Ingiriis, M. H. (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18
LI - Landinfo [Norwegen] (21.5.2019b): Somalia: Rer Hamar-befolkningen i Mogadishu
NLMBZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië
ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa
3. Frauen
Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten (USDOS 12.4.2022, S. 40). Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär (AA 28.6.2022, S. 17). Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet (LIFOS 16.4.2019, S. 10; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 40). Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (USDOS 12.4.2022, S. 40).
Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst (ICG 27.6.2019, S. 3). Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie (SIDRA 6.2019b, S. 2). Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 11). Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen (WB 22.3.2022).
Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37), bleiben häusliche (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (USDOS 12.4.2022, S. 34/37).
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs (FH 2022a, G3; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34ff, ÖB 11.2022, S. 11). Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet (HRW 13.1.2022; vgl. UNFPA 14.4.2022). Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs (UNFPA 14.4.2022). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert (USDOS 12.4.2022, S. 35).
Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der Covid-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im Juli 2021 wurden von der UN 168 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt (USDOS 12.4.2022, S. 35f). Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können (TE 11.3.2019). Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (AA 28.6.2022, S. 17).
Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings handelt es sich um ein Vergehen gegen Anstand und Ehre - und nicht gegen die körperliche Integrität (HRW 13.1.2022). Die Strafandrohung beträgt 5-15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 12.4.2022, S. 34). Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften (SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen (SIDRA 6.2019b, S. 5ff; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 34). Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert (AA 28.6.2022, S. 17). Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte (UNSC 13.5.2022, Abs. 60).
Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. BS 2022, S. 19). Generell herrscht Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, S. 35; vgl. ÖB 11.2022, S. 11). Nach anderen Angaben nimmt die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen (UNFPA 14.4.2022).
Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind (SIDRA 6.2019b, S. 2). Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung (USDOS 12.4.2022, S. 36). Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet (TE 11.3.2019). Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet (ÖB 11.2022, S. 11; vgl. UNFPA 14.4.2022; UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (USDOS 12.4.2022, S. 36).
Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt (USDOS 12.4.2022, S. 36; vgl. AA 28.6.2022, S. 18; UNSC 10.10.2022, Abs. 132), was u. a. an der Angst vor Rache, vor Stigmatisierung und am schwachen Justizsystem und der allgemeinen Straflosigkeit der Täter liegt (UNSC 10.10.2022, Abs. 132). Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers (SIDRA 6.2019b, S. 5ff), oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen (TE 11.3.2019; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 36). Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft (SEM 31.5.2017, S. 49; vgl. ÖB 11.2022, S. 11; SIDRA 6.2019b, S. 5ff). Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente (UNSC 6.10.2021).
Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden (UNSC 13.5.2020, Abs. 56f). Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (UNSC 13.11.2020, Abs. 49).
Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 12.4.2022, S. 35). In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert (UNSC 13.5.2020, Abs. 48/58). Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias (UNSC 10.8.2021, Abs. 48). In Baidoa wurde ein Mann, der eine Frau ermordet hatte, zum Tode verurteilt und Anfang Juni 2022 öffentlich von einem Erschießungskommando exekutiert (GN 7.6.2022). In zwei Vergewaltigungsfällen an Minderjährigen in Jubaland und Galmudug wurden die Täter (ein Soldat und ein Clanmilizionär) verhaftet, die Opfer wurden medizinisch versorgt (UNSC 1.9.2022, Abs. 61).
Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können (USDOS 12.4.2022, S. 37). Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt (UNFPA 14.4.2022). Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste (UNICEF 29.6.2021). UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten (UNFPA 5.2022). In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z.B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt (UNFPA 14.4.2022). In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung (USDOS 12.4.2022, S. 35). Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt (UNFPA 14.4.2022).
Frauen - al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt (ICG 27.6.2019, S. 2/6). Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt (USDOS 12.4.2022, S. 37). Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt (ICG 27.6.2019, S. 6; vgl. DI 6.2019, S. 9).
Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird (AA 28.6.2022, S. 18). Die Zahl an Zwangs- und Frühehen durch al Shabaab hat zugenommen (UNSC 6.10.2021). Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten (USDOS 12.4.2022, S. 37). Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente (ICG 27.6.2019, S. 8). Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen (DI 6.2019, S. 9).
Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein (TE 11.3.2019). Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitgehenden Diskriminierung von Frauen (AA 28.6.2022, S. 18). Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird (USDOS 12.4.2022, S. 40). Nach anderen Angaben hat al Shabaab einen pragmatischen Zugang. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (ICG 27.6.2019, S. 11).
Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 11.2022, S. 10). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. „nobler“ Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Ehe-Alter / Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke „Erwachsener“ und „Kind“ in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert (SPA 1.2021). Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen (ICG 27.6.2019, S. 8), doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an (LI 14.6.2018, S. 7). Generell herrscht unter den relevanten Stakeholdern keine Einigkeit darüber, wann denn nun eigentlich das Heiratsalter erreicht ist (UNFPA 14.4.2022) - und dies, obwohl Somalia die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, die eigentlich gegen eine Ehe vor dem Alter von 18 Jahren spricht (Sahan 19.9.2022). Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das „age of maturity“ erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. Sahan 19.9.2022). Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 42; vgl. FH 2022a, G3) – gerade in ärmeren, ländlichen Gebieten (ICG 27.6.2019, S. 8; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27; LI 14.6.2018, S. 7). Denn die Scharia, in der kein Mindestalter vorgesehen ist, hat das Familiengesetz weitestgehend ersetzt (Sahan 19.9.2022). Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht (FIS 5.10.2018, S. 27). Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass diese die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen (UNFPA 14.4.2022). Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (AV 7.2017, S. 36). Schätzungen zufolge heiraten 45 % der Mädchen vor ihrem 18. und 8 % vor ihrem 15. Geburtstag. Die Dürre hat das Risiko für viele Mädchen erhöht, bereits in jungen Jahren einer Ehe zugeführt zu werden. Es ist zu einem starken Anstieg der Zahl an Kinderehen gekommen. Viele durch die Dürre verarmte Familien holen Töchter aus den Schulen und verheiraten diese, um vom Brautgeld (yarad) leben zu können. In einem unsicheren Umfeld – etwa in einem IDP-Lager – wollen Eltern u.U. auch die Tochter vor Missbrauch schützen, indem sie diese verheiraten (Sahan 19.9.2022).
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 28.6.2022, S. 18). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 12.4.2022, S. 43). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).
Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich (LI 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (LI 14.6.2018, S. 18). Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (LI 14.6.2018, S. 19). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019, S. 9).
In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (LI 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021
AV - Africa’s Voices (7.2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report
DI - Development Initiatives (6.2019): Towards an improved understanding of vulnerability and resilience in Somalia
FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia
FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018
GN - Goobjoog News (7.6.2022): Man who killed woman in Baidoa and dumped body in sewer executed by firing squad
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia
ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency
LI - Landinfo [Norwegen] (14.6.2018): Somalia: Marriage and divorce
LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)
ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia
Sahan - Sahan / Somali Wire Team (19.9.2022): Worsening drought in Somalia leads to rise in child marriages, in: The Somali Wire Issue No. 453, per e-Mail
SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten
SIDRA - Somali Institute for Development Research and Analysis (6.2019b): Rape: A rising Crisis and Reality for the Women in Somalia
SPA - Somali Public Agenda (1.2021): A comparative review of Somalia’s controversial Sexual Offences Bills
TE - The Elephant / Rasna Warah (11.3.2019): The Invisible Clan: Is Somalia Ready for a Women’s Revolution?
UNFPA - UN Population Fund (5.2022): UNFPA Response in Somalia, Situation Report, Issue #5
UNFPA - UN Population Fund (14.4.2022): Overview of Gender Based Violence Situation in Somalia
UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region
UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754]
UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665]
UNSC - UN Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392]
UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849)
UNSC - UN Security Council (10.8.2021): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2021/723]
UNSC - UN Security Council (13.11.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/1113]
UNSC - UN Security Council (13.5.2020): Situation in Somalia; Report of the Secretary-General [S/2020/398]
USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia
WB - Weltbank / Sophia Friedson-Ridenour (22.3.2022): Voices of women entrepreneurs in a changing Somalia
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Mangels Vorlage eines nationalen Identitätsdokuments steht die Identität der Beschwerdeführerin nicht fest. Der Beschwerdeführerin kann aber in ihren insoweit gleichbleibenden Angaben zu ihrer Staats- und Religionszugehörigkeit sowie ihrer örtlichen Herkunft gefolgt werden, zumal sie zweifellos aus dem somalischen Kulturraum stammt.
Die Beschwerdeführerin brachte als Fluchtgrund im Wesentlichen vor, dass ihr Stiefvater sie an einen älteren Mann verheiraten habe wollen, doch wies ihre Erzählung mehrere Ungereimtheiten auf. So gab sie in der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 01.06.2023 auf der einen Seite an, dass ihr Stiefvater ihr eines Tages gesagt habe, dass er sie bereits am nächsten Tag verheiraten werde, um dann aber gleich darauf die damit unvereinbare Aussage zu treffen, dass sie zwei Tage vor der Flucht aus ihrem Heimatort von der geplanten Zwangsverheiratung erfahren habe, welche einen Tag nach der Flucht stattfinden hätte sollen (AS 61). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.05.2024 meinte sie dann schon etwas vager, diesen Zeitraum damit aber erweiternd, dass sie noch „2-3 Tage“ nach dieser Mitteilung zuhause geblieben sei (Verhandlungsprotokoll S. 6). In der Verhandlung berichtete sie auch, dass sie zwischen der Ankündigung der Verheiratung und der Flucht aus dem Heimatort keinen Kontakt mehr mit ihrem Stiefvater gehabt habe (Verhandlungsprotokoll S. 7), sodass auch auszuschließen ist, dass sie in der Einvernahme von zwei tageweise aufeinanderfolgenden Ankündigungen gesprochen hätte. Hier gab sie weiters zu Protokoll, dass sich all dies Mitte Mai 2021 zugetragen habe (Verhandlungsprotokoll S. 3 und 5), wohingegen sie in der Einvernahme durch das Bundesamt von Ende Mai 2021 sprach (AS 61). Obwohl die Beschwerdeführerin anhand ihres angegebenen Geburtsdatums zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre alt gewesen wäre, sagte sie in der Einvernahme aus, erst 17 gewesen zu sein (AS 59). Nachdem ihre Flucht organisiert worden sei, habe sie sich – laut ihrer Erzählung in der Einvernahme – am Tag vor der geplanten Verheiratung aus dem Haus „weggeschlichen“, was niemand bemerkt habe (AS 67 f). In der mündlichen Verhandlung dagegen gab sie an, dass sie das Haus normal verlassen und sie sich von ihrer Mutter verabschiedet habe (Verhandlungsprotokoll S. 8). Sie habe ihr Haus laut Einvernahmeprotokoll in der Nacht verlassen, als es bereits dunkel gewesen sei (AS 65), nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung dagegen schon gegen 18 Uhr (Verhandlungsprotokoll S. 8), somit also noch vor Sonnenuntergang, welcher in diesen Breitengraden im Mai, wie öffentlich im Internet einsehbar ist, kurz nach 18 Uhr mit einer anschließenden Dämmerung bis kurz vor 18:30 Uhr stattfindet. Wie die Beschwerdeführerin in ihrer Einvernahme weiter erläuterte, sei sie von ihrem Zuhause zu einem Verwandten gegangen und anschließend mit diesem zum Schlepper (AS 65), wohingegen sie in der mündlichen Verhandlung behauptete, dass der Schlepper zum Verwandten gekommen sei (Verhandlungsprotokoll S. 8). Ob die Beschwerdeführerin sodann mit dem Schlepper oder mit dem Verwandten aus Somalia ausgereist ist, stellte sie in der Einvernahme durch das Bundesamt uneinheitlich dar (AS 51 f und AS 59). Soweit die Beschwerdeführerin in der Einvernahme angab, dass der Schlepper mit einem Ziegentransporter von Mogadischu in ihr Heimatdorf gekommen sei, um sie mitzunehmen, wobei der Weg von dort ca. zwei Tage in Anspruch nehme (AS 65), steht diese Reisezeit in einem erheblichen Spannungsverhältnis zu ihrem Vorbringen, dass sie erst einen Tag oder aber auch zwei Tage (s. oben) vor ihrer Flucht von ihrer bevorstehenden Zwangsverheiratung erfahren habe und somit erst ab diesem Zeitpunkt ihre Flucht organisieren hätte können. Die Beschwerdeführerin erklärte ebenso nie, woher sie eigentlich davon gewusst habe, dass der Schlepper mit dem Transporter nun im Heimatdorf angekommen sei und sie sich von ihrem Zuhause wegschleichen könne, zumal sie den Ort, an dem der Transporter gestanden habe, nicht gekannt habe (AS 67), was wiederum anhand ihres Vorbringens, dass der Ziegentransporter regulär wöchentlich ins Dorf gekommen sei (AS 65), wenig nachvollziehbar ist. Schlussendlich ist noch bemerkenswert, dass die Beschwerdeführerin zwar grundsätzlich erklärte, im Falle einer Rückkehr vor ihrem Stiefvater Angst zu haben, jedoch zu Beginn der Einvernahme durch das Bundesamt vorbrachte, dass ihr Stiefvater nicht mehr in ihrem Heimatdorf lebe („(…) gebe ich an, dass wir zuerst mit meinem Stiefvater zusammenlebten. Zuletzt war er im Dorf und jetzt wissen wir nicht, wo er ist.“), um dann aber zu behaupten, dass sie nie gesagt habe, dass ihr Stiefvater nicht mehr zuhause lebe (AS 47). Zumal die Beschwerdeführerin im Übrigen im Verfahren kaum Substantielles zu ihrer Bedrohungslage aufgrund einer Zwangsverheiratung vorbrachte, sondern in ihrer Erzählung nur oberflächlich blieb und diesen Fluchtgrund in wenigen Sätzen abhandelte, konnte sie aufgrund dieser Erwägungsgründe nicht von der Wahrheit ihres Vorbringens überzeugen.
Daneben brachte die Beschwerdeführerin in der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass sie im Dorf beschimpft und ausgegrenzt worden sei, weil sie der Minderheit der Madhibaan zugehörig sei. Deswegen sei sie auch von ihrem Stiefvater und dessen Söhnen beschimpft und geschlagen worden und habe den Haushalt führen müssen. Manchmal habe sie auch den Haushalt von fremden Leuten machen müssen (AS 55 f). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ergänzte die Beschwerdeführerin, dass die Leute im Dorf gesagt hätten, dass sie keine Menschen seien. Sie hätten für die Leute im Haushalt und auf der Weide arbeiten müssen und seien von ihnen als „Boon“ und „Tumaal“ beschimpft worden. Sie seien die einzige Familie im Dorf gewesen, die den Madhibaan angehört habe (Verhandlungsprotokoll S. 9 f). Damit widersprach sich die Beschwerdeführerin aber, denn in der Einvernahme durch das Bundesamt hatte sie noch angegeben, dass jener entfernte Verwandte, der ihre Ausreise organisiert habe, ebenso dieser Minderheit angehöre. Dieser Verwandte habe zudem über ausreichend Ressourcen verfügt, um die Schleppung der Beschwerdeführerin von Somalia nach Österreich zu finanzieren, welche alleine für den Streckenteil ab der Türkei 2.000,- US-Dollar gekostet habe (AS 51). Diese finanziellen Möglichkeiten stehen aber in einem erheblichen Kontrast zur von der Beschwerdeführerin beschriebenen sklavenartigen Stellung in ihrem Heimatdorf. Die Beschwerdeführerin schilderte zudem, dass ihre Familie keiner traditionell berufsständischen Tätigkeit nachging, sondern – wie Angehörige der Mehrheitsclans – als Pastoralisten gelebt habe (AS 49), demgemäß auch Land für das Vieh besessen haben muss. Auch dies lässt sich nicht mit der von der Beschwerdeführerin beschriebenen Diskriminierung in Einklang bringen. Zu bemerken ist schließlich, dass die Beschwerdeführerin zwar behauptet, der Minderheit der Madhibaan anzugehören, aber meint, als Tumaal beschimpft worden zu sein, obwohl es sich dabei um eine andere Minderheitengruppe handelt. Aus diesen Gründen sind auch die Ausführungen der Beschwerdeführerin über eine Diskriminierung aufgrund einer zumindest behaupteten Zugehörigkeit zur Minderheit der Madhibaan nicht glaubhaft, zumal eine derart schwere Diskriminierung, wie sie die Beschwerdeführerin beschrieb, auch nicht aus den Länderberichten hervorgeht.
Aufgrund dieses gesamthaft unglaubhaften Vorbringens lässt sich auch nicht sagen, dass es sich bei der Beschwerdeführerin in Somalia um eine alleinstehende Frau handeln würde.
Sonstige Fluchtgründe oder Rückkehrbefürchtungen führte die Beschwerdeführerin nicht an und sind auch sonst nicht hervorgekommen.
2.2. Zu den Feststellungen zur Situation in Somalia:
Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Somalia vom 08.01.2024 (Version 6). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zum Spruchteil A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).
Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).
Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist Diskriminierung mit Verfolgung gleichzusetzen. Dies wäre nur der Fall, wenn die Diskriminierungsmaßnahmen Konsequenzen mit sich brächten, welche die betroffene Person in hohem Maße benachteiligen würden, z.B. eine ernstliche Einschränkung des Rechts, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder des Zugangs zu den normalerweise verfügbaren Bildungseinrichtungen. In Fällen, in denen die Diskriminierungen an sich noch nicht allzu schwer wiegen, können sie trotzdem die Ursache verständlicher Furcht vor Verfolgung sein, wenn sie bei der betroffenen Person ein Gefühl der Furcht und Unsicherheit im Hinblick auf ihre Zukunft hervorrufen; ob solche Akte der Diskriminierung einer Verfolgung gleichkommen, muss unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Das Vorbringen einer Furcht vor Verfolgung wird umso eher begründet sein, wenn eine Person bereits eine Reihe diskriminierender Akte dieser Art zu erdulden hatte und daher ein kumulatives Moment vorliegt (UNHCR Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Dezember 2003, Paragraph 54 f).
Wie beweiswürdigend unter Punkt II.2.1. ausgeführt wurde, ist das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin über eine versuchte Zwangsverheiratung nicht glaubhaft. Eine asylrelevante Diskriminierung aufgrund ihrer behaupteten Zugehörigkeit zur Minderheit der Madhibaan konnte nicht festgestellt werden. Sonstige Gründe einer aktuellen, asylrelevanten Bedrohung sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Es besteht somit keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der Beschwerdeführerin aus Konventionsgründen.
Da sohin keine Umstände vorliegen, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre, ist die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich des Status einer Asylberechtigten durch das Bundesamt im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zum Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen, wie sie in der rechtlichen Beurteilung dargelegt wurden. Maßgeblich für die Beurteilung der Sache waren letztlich beweiswürdigende Erwägungen über die Unglaubhaftigkeit des Vorbringens.
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