Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Pasquinelli ua gg San Marino, Urteil vom 29.8.2024, Bsw. 24622/22.
Art 8, 14, 35 EMRK, Art 1 12. ZPEMRK - Indirekte Verpflichtung von Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems zu Covid-19-Impfung .
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 8 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 14 EMRK und Art 1 12. ZPEMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die 26 Bf sind Bedienstete des Instituts für soziale Sicherheit, einer für die Verwaltung des Gesundheits- und Sozialwesens zuständigen öffentlichen Einrichtung. Im Mai 2021 wurden sie von ihrer Arbeitgeberin aufgefordert, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, was sie jedoch ablehnten.
Die Impfung des im Gesundheits- und Sozialbereich tätigen Personals war im Gesetz Nr 85/2021 vorgesehen, das mit 16.6.2017 durch Gesetz Nr 107/2021 ersetzt wurde. Dessen § 8 sah für den Fall der Verweigerung der Impfung vor, dass das Institut für soziale Sicherheit zunächst organisatorische Änderungen in Betracht ziehen sollte, um den Kontakt zu Klient*innen zu minimieren. Wo dies nicht möglich war, sah das Gesetz weitere Maßnahmen vor. Diese umfassten insb die Versetzung auf eine andere Stelle innerhalb des Instituts oder in eine andere öffentliche Einrichtung, die Inanspruchnahme des zustehenden Urlaubs oder als letzte Option die vorübergehende Freistellung unter Entfall der Bezüge. In diesem Fall stand eine Beihilfe iHv maximal € 600,– zu, die jedoch von der Bereitschaft abhing, gemeinnützige Arbeiten zu verrichten. Sofern Mitarbeiter*innen des Gesundheits- oder Sozialbereichs aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden konnten, hatten sie Anspruch auf eine bezahlte Beurlaubung.
Da die Bf die Impfung verweigerten, wurden abhängig von den konkreten Umständen unterschiedliche der genannten Maßnahmen auf sie angewendet.
Die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzes Nr 107/2021 wurden im Wege einer Popularbeschwerde an das Verfassungsgericht San Marinos herangetragen. (Anm: Eine solche Beschwerde bedarf der Unterstützung durch 750 Staatsbürger*innen. Jene Bf, die Staatsangehörige San Marinos sind, schlossen sich der Beschwerde an.) Darin wurde insb vorgebracht, die Konsequenzen einer Verweigerung der Impfung würden auf eine Verletzung des Rechts auf Arbeit, Gesundheit und Selbstbestimmung hinauslaufen, außerdem würden sie ungeimpfte Personen diskriminieren. Mit Urteil vom 2.11.2021 bestätigte das Verfassungsgericht die Vereinbarkeit der angefochtenen Bestimmungen mit der Verfassung San Marinos und der EMRK.
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) alleine und iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sowie von Art 1 12. ZPEMRK (allgemeines Diskriminierungsverbot) durch die Maßnahmen, von denen sie aufgrund ihrer Weigerung, sich einer Impfung gegen Covid-19 zu unterziehen, betroffen waren.
Zu den Verfahrenseinreden der Regierung
(29) Die Regierung brachte [...] vor, die Beschwerde sei insofern missbräuchlich, als die Bf die Verwaltungsverfahren verschwiegen hätten, die von vier von ihnen eingeleitet wurden.
(30) Alternativ geht sie davon aus, dass [...] die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft wären, weil die meisten der Bf kein Verwaltungsverfahren angestrengt und jene, bei denen dies der Fall war, kein Rechtsmittel [...] erhoben hätten. [...]
(36) [...] Wenn ein Bf eine in einem Gesetz oder einer Verordnung enthaltene Bestimmung als konventionswidrig bekämpft, [...] muss ein im innerstaatlichen Recht vorgesehenes Rechtsmittel zur Prüfung der Vereinbarkeit der Bestimmung mit dem höherrangigen Recht erschöpft werden, vorausgesetzt es ist für die Bf direkt zugänglich und das angerufene Gericht ist dazu befugt [...], Bestimmungen in einem Gesetz oder einer Verordnung [...] aufzuheben [...]. [...]
(39) Da das Verfassungsgericht San Marinos die Vereinbarkeit von Gesetzen mit höherrangigem Recht prüfen und diese wenn nötig aufheben kann, wäre eine Beschwerde an dieses grundsätzlich als innerstaatlicher Rechtsbehelf anzusehen, der erschöpft werden muss. Allerdings stellt der GH fest, dass Einzelpersonen keinen direkten Zugang zum Verfassungsgericht haben und dieses Rechtsmittel den Bf im vorliegenden Fall nicht direkt zugänglich war. Erstens hatten jene Bf, die [...] keine Staatsangehörigen San Marinos sind, überhaupt keinen Zugang zum Verfahren [...]. Zweitens waren selbst die Bf mit Staatsangehörigkeit San Marinos als einzelne Parteien nicht berechtigt, sich direkt an das Verfassungsgericht zu wenden. Dazu waren vielmehr 750 Unterschriften erforderlich [...]. Folglich musste keiner der Bf des vorliegenden Falls eine Beschwerde an das Verfassungsgericht erheben.
(41) Was das Argument der Regierung betrifft, die Bf hätten Verwaltungsverfahren anstrengen müssen [...], bemerkt der GH, dass die Verwaltungsgerichte in San Marino [...] die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der EMRK nicht prüfen können. [...] Außerdem wäre es nach dem Urteil des Verfassungsgerichts sehr unwahrscheinlich gewesen, dass die Verwaltungsgerichte eine Erfolgsaussicht geboten hätten [...].
(43) Angesichts des Fehlens eines zugänglichen und effektiven Rechtsbehelfs [...] ist die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung [...] zu verwerfen.
(44) Da die Verwaltungsverfahren aussichtslos waren und keine Bedeutung für die Beurteilung der Beschwerden hatten, liegt hinsichtlich der vier Bf, die Verwaltungsverfahren anstrengten und den GH nicht darüber informierten, keine Frage der Arglist vor. Daher ist auch die sich auf den Missbrauch des Beschwerderechts beziehende Einrede zu verwerfen.
Zu den sonstigen Fragen der Zulässigkeit
(47) [...] Die in Art 35 Abs 1 EMRK enthaltenen Voraussetzungen der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und der Frist von sechs (jetzt vier) Monaten hängen eng zusammen. In der Regel läuft die Frist [...] ab dem Datum der endgültigen Entscheidung im Verfahren, im Zuge dessen die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft werden. Wenn jedoch von vornherein klar ist, dass für den Bf kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht, läuft die Frist ab dem Datum, an dem die umstrittenen Handlungen oder Maßnahmen gesetzt werden, der Bf von diesen Kenntnis erlangt oder sie sich auf ihn auswirken. In Fällen, in denen eine fortdauernde Situation besteht, [...] beginnt die Frist hingegen im Ergebnis erst dann zu laufen, wenn diese Situation endet.
(49) [...] Im vorliegenden Fall fällt die Situation in eine besondere Kategorie. Während die Beschwerde an das Verfassungsgericht angesichts des Fehlens eines direkten Zugangs zu diesem kein Rechtsmittel ist, das die Bf erschöpfen mussten, kann der GH nicht außer Acht lassen, dass einige der Bf gemeinsam mit weiteren Personen die erforderlichen 750 Unterschriften vorlegten und so Zugang zu diesem Rechtsbehelf erlangten und das Verfassungsgericht die Beschwerde annahm und die selben Rügen prüfte, die auch vor dem GH vorgebracht wurden. [...]
(50) Die Einschätzung des Verfassungsgerichts leistet einen wertvollen Beitrag für die Prüfung der Beschwerden durch den GH, da die staatlichen Instanzen grundsätzlich besser in der Lage sind, die örtlichen Bedürfnisse und den Kontext zu beurteilen als ein internationales Gericht. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass aus Art 35 Abs 1 EMRK keine Verpflichtung eines Bf abgeleitet werden kann, seine Beschwerde an den GH zu erheben, bevor [...] die Angelegenheit auf innerstaatlicher Ebene endgültig entschieden wurde, ist nach Ansicht des GH davon auszugehen, dass die Frist im Hinblick auf alle Bf am Tag der Zustellung des Urteils des Verfassungsgerichts, also am 2.11.2021, zu laufen begann. Somit wurde die Beschwerde innerhalb von sechs Monaten [...] eingebracht.
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(51) Die Bf brachten vor, die ihnen als Mitarbeiter*innen des Gesundheits- und Sozialwesens auferlegte Verpflichtung, sich [...] gegen Covid-19 impfen zu lassen, und die folgenden Konsequenzen wären mit Art 8 EMRK unvereinbar gewesen [...].
Zum Umfang der Rechtssache
(52) [...] Die Bf beschwerten sich über die indirekte Verpflichtung, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen [...] und über die daraus folgende Suspendierung von ihren Stellen bzw über andere beschäftigungsbezogene Maßnahmen, die auf § 8 des Gesetzes Nr 107/2021 beruhten. Auch wenn das Gesetz Nr 107/2021 keine Vorschrift über eine zwangsweise Verabreichung der Impfung enthalte, bestünde für Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens eine verschleierte Verpflichtung, die durch die Anwendung übertriebener Maßnahmen [...] indirekt durchgesetzt würde. [...]
(57) In Anbetracht [der Rsp der EKMR und des Urteils Vavřička ua/CZ] erachtet es der GH als für die Bestimmung des in einem bestimmten Fall anzuwendenden Ansatzes relevant, ob die Impfung verpflichtend ist bzw auf einer Pflicht beruht oder im Gegensatz dazu nur freiwillig oder empfohlen ist. Der GH muss daher beurteilen, welche Art von System in San Marino bezüglich der Kampagne zur Impfung gegen Covid-19 bestand.
(58) [...] § 8 des umstrittenen Gesetzes bezog sich auf [das Versäumnis], sich »freiwillig impfen zu lassen«. Somit war die Impfung gesetzlich nicht verpflichtend und den Bf wurde keine direkte Impfpflicht auferlegt. Dies wurde auch vom Verfassungsgericht San Marinos bestätigt.
(59) Die Bf brachten vor, »eine freiwillige oder empfohlene Impfung« könne durch die Konsequenzen einer Weigerung, sich impfen zu lassen, indirekt zu einer Pflichtimpfung werden. Der GH stellt allerdings fest, dass das Gesetz im vorliegenden Fall keine gesetzlichen Sanktionen vorsah. Insb konnte das Versäumnis, sich impfen zu lassen, in keiner Weise zu einer Geldstrafe oder sonstigen verwaltungs- oder disziplinarrechtlichen Sanktion führen.
(60) Zudem führte sie nicht zu irgendwelchen automatischen Konsequenzen für die Bf [...]. Das umstrittene Gesetz, das sich auf Mitarbeiter*innen des Gesundheits- und Sozialwesens beschränkte, sah lediglich vor, dass Konsequenzen folgen »könnten«. Soweit möglich, blieb ungeimpftes Personal in diesem Sektor auf seinem Posten und es wurden nur geringfügige Anpassungen vorgenommen, um den Kontakt zu Klient*innen zu verringern. Wo dies nicht möglich war, wurde eine Versetzung zu anderen Diensten oder eine optionale gemeinnützige Arbeit angeboten und im schlimmsten Fall wurden ungeimpfte Personen, die letztere Möglichkeit ablehnten, ohne Bezahlung freigestellt. Jede dieser Maßnahmen beruhte auf der individuellen Situation und den Bedürfnissen der staatlichen Dienste. Daher kann nach Ansicht des GH keine dieser Maßnahmen als verschleierte Sanktion angesehen werden.
(61) Eine andere Feststellung würde darauf hinauslaufen, dass eine empfohlene Impfung durch jede Art von Konsequenz, ungeachtet ihrer Intensität und anderer relevanter Faktoren, zu einer Pflichtimpfung wird. Dies kann nicht sein. Selbst die Parlamentarische Versammlung des Europarats ging in ihrer Resolution Nr 2383 (2021) davon aus, dass »ernste« Konsequenzen – und nicht jegliche Konsequenzen – der Verweigerung auf eine Impfpflicht hinauslaufen könnten.
(62) Aufgrund des Fehlens landesweiter oder auf bestimmte Kategorien bezogener unvermeidbarer und schwerwiegender Konsequenzen kann folglich im vorliegenden Fall keine allgemeine Impfpflicht festgestellt werden.
(63) Angesichts der obigen Ausführungen unterscheidet der GH den vorliegenden Fall von Vavřička ua/CZ, wo er die Impfpflicht und die davon nicht zu trennenden Folgen ihrer Nichtbefolgung durch die Bf als Gegenstand der Rechtssache ansah.
(64) Im vorliegenden Fall kann der Gegenstand der Rechtssache hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK nicht in einer Impfpflicht bestehen, die es nicht gab. Er betrifft daher nur die spezifischen Maßnahmen, die gegen die Bf aufgrund ihrer Entscheidung, sich der empfohlenen Impfung nicht zu unterziehen, unter den sonstigen relevanten Umständen verhängt wurden. Daher wird der GH die auf die Bf angewendeten Maßnahmen zu beurteilen und zu entscheiden haben, ob sie entsprechend seiner Rsp zu arbeitsrechtlichen Streitigkeiten in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK fallen.
Zur Zulässigkeit
(69) [...] Sich auf ein Beschäftigungsverhältnis beziehende Streitigkeiten sind nicht per se vom Anwendungsbereich des »Privatlebens« iSv Art 8 EMRK ausgeschlossen. [...] Es gibt zwei Arten, wie sich eine Frage des Privatlebens üblicherweise aus einer solchen Streitigkeit ergeben kann: entweder durch die der umstrittenen Maßnahme zugrunde liegenden Gründe [...] oder – in bestimmten Fällen – durch die Konsequenzen für das Privatleben.
(74) Die Bf wurden durch eine oder mehrere der in Beschwerde gezogenen Maßnahmen betroffen: Freistellung ohne Bezüge, wo sie die Verrichtung gesellschaftlich nützlicher Arbeiten verweigerten; gemeinnützige Arbeit im Gegenzug für eine von den geleisteten Arbeitsstunden abhängige Beihilfe (in Höhe von maximal € 600,– monatlich); Versetzung auf freie Stellen im öffentlichen Dienst bei gleichen oder zum Teil niedrigeren Bezügen [...]. Alle diese Maßnahmen waren vorübergehend und dauerten zwischen weniger als zwei Wochen und rund 15 Monaten. In der Mehrzahl der Fälle dauerten die Maßnahmen weniger als sieben Monate, weil sich die Bf entweder von einer Covid-19-Infektion erholten, impfen ließen, dauerhaft versetzt wurden oder ihre Verträge ausliefen.
(75) Der GH muss daher beurteilen, ob diese Maßnahmen sich auf das Privatleben der Bf auswirkten und Art 8 EMRK somit anwendbar war.
(76) Der GH wird zunächst die Art beurteilen, wie sich im vorliegenden Fall eine Frage des Privatlebens ergeben könnte: entweder durch die zugrunde liegenden Gründe für die auf die Bf angewendeten Maßnahmen oder wegen der Folgen für ihr Privatleben.
(77) Wie bereits oben in Rz 64 festgestellt, waren die spezifischen Maßnahmen, die gegen die Bf verhängt wurden, unter anderem eine Folge ihrer Entscheidung, sich nicht der optionalen Impfung zu unterziehen, sowie weiterer relevanter Umstände. Während der GH bekräftigt, dass optionale Impfsysteme als solche keinen Eingriff in Art 8 EMRK begründen, ist er bereit zu akzeptieren, dass die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder auch nicht, die im gegenständlichen Fall vermutlich ausschließlich auf den Bedenken der Bf hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität beruht, ausreichend mit der persönlichen Autonomie zusammenhängt, um annehmen zu können, dass die auf die Bf in Folge ihrer Weigerung, sich freiwillig impfen zu lassen, angewendeten Maßnahmen unter anderem auf Gründen beruhten, die in die individuelle Entscheidungsfreiheit im Bereich des Privatlebens eingreifen. Da die Gründe, die den sich auf das Berufsleben beziehenden umstrittenen Maßnahmen zugrunde lagen, im vorliegenden Fall unter anderem mit dem Privatleben zusammenhängen, reichen diese Gründe aus, um Art 8 EMRK anwendbar zu machen.
(78) Folglich begründeten die angefochtenen Maßnahmen einen Eingriff in das Privatleben der Bf [...].
(79) [...] Soweit sich die Beschwerde auf alle Bf außer die Bf Nr 25 bezieht, (Anm: Die Bf Nr 25 war von keinen Maßnahmen betroffen, da sie sich am 21.7.2021 impfen ließ. Soweit sich die Beschwerde auf sie bezieht, wurde sie daher für unzulässig erklärt.) ist sie weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Entscheidung in der Sache
(93) Keines der dem GH gegenüber geäußerten Argumente vermag die Gesetzmäßigkeit der [...] Maßnahmen in Frage zu stellen, die auch vom Verfassungsgericht bestätigt wurde.
(94) [...] Das Ziel der Maßnahmen bestand darin, im Kontext einer Pandemie, die eine ernste Bedrohung für die gesamte Bevölkerung darstellte, deren Gesundheit zu schützen und angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Wie vom Verfassungsgericht angemerkt, haben die Mitgliedstaaten nach Art 2 EMRK eine positive Verpflichtung, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens [...] zu setzen.
(95) Im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie schloss der GH nicht aus, dass einzelne Personen Opfer einer behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK sein könnten, weil [...] die Handlungen oder Unterlassungen des Staats ihr Leben einer realen und unmittelbaren Gefahr ausgesetzt haben oder haben könnten. [...]
(96) Es besteht daher kein Zweifel daran, dass eine Reihe restriktiver Maßnahmen im Gesundheitssektor, die wie im vorliegenden Fall an die laufende Entwicklung der Covid-19-Pandemie angepasst wurde, das legitime Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer verfolgte.
(97) [...] Die WHO bestätigte am 31.12.2020 die Wirksamkeit der ersten Covid-19-Impfung im Zuge einer Notfallzulassung. Am 5.5.2023 hob die WHO nach einer Massenimpfkampagne (mehr als 13 Milliarden Impfdosen wurden weltweit verabreicht), die es ermöglichte, die Wirkungen der Seuche einzudämmen, die Warnung auf, mit der Covid-19 als internationaler Gesundheitsnotfall eingestuft worden war. Zu diesem Zeitpunkt waren weltweit mehr als 766 Millionen Fälle einer Covid-19-Infektion und beinahe 7 Millionen Todesfälle verzeichnet worden. Der GH hat diese Situation bereits als einen »außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Kontext« angesehen (vgl Fenech/MA, Rz 96).
(98) Ob die über die Bf verhängten Maßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren, muss der GH in diesem Kontext und ohne den Vorteil der Betrachtung im Nachhinein beurteilen.
(99) Die Bf brachten vor, sie hätten als ungeimpfte Personen kein größeres Risiko für andere dargestellt als geimpfte Personen. Das Verfassungsgericht San Marinos kam zu einem anderen Ergebnis. Wie der GH anmerkt, ging die Parlamentarische Versammlung des Europarats anhand des damals verfügbaren Materials davon aus, dass »Impfung und Genesung von einer Infektion die Gefahr einer Übertragung verringern könnten, Ausmaß und Dauer dieses Effekts jedoch derzeit ungewiss seien«. Auch wenn die Vorbringen der Bf weitgehend auf diesem Argument beruhen, muss der GH diese Frage allerdings nicht entscheiden. Denn es ist unbestreitbar, dass ungeimpfte Personen [...] sich sowohl anstecken konnten als auch in der Lage waren, die Krankheit zu übertragen und das Virus weiter zu verbreiten, das damals (2021–2022) zirkulierte. Die Aufrechterhaltung von Maßnahmen zum Schutz der Gesamtbevölkerung, einschließlich der Bf, und insb der vulnerablen Gruppen, die auf Gesundheits- und Sozialeinrichtungen angewiesen waren, diente daher zur Zeit der umstrittenen Maßnahmen, die vor dem 5.5.2023 angewendet wurden, weiterhin einer dringenden gesellschaftlichen Notwendigkeit.
(100) Zudem kann der GH nicht außer Acht lassen, dass das umstrittene Gesetz eine Folge der globalen Rücknahme restriktiver Maßnahmen im Licht der Verfügbarkeit einer Impfung ab 2021 war, die notwendig geworden war, um den Stillstand der Welt und einen weiteren wirtschaftlichen Rückgang zu vermeiden. Selbst wenn die Effektivität der Impfung für die Einschränkung der Verbreitung noch zweifelhaft war, war es nicht unvernünftig, Maßnahmen im Hinblick auf geimpfte Personen zu lockern, die selbst weniger gefährdet waren, während sie für die Bf aufrecht erhalten wurden, die nicht nur gewiss ein Risiko für andere darstellten, sondern auch selbst weiterhin der Gefahr einer Ansteckung und schwerer gesundheitlicher Folgen ausgesetzt waren. Die Bf bestritten nicht die Wirksamkeit der Impfung hinsichtlich einer Abschwächung der Symptome, was implizit bedeutet, dass ungeimpfte Personen anfälliger für die schweren Folgen der Krankheit waren [...]. Neben Sorgen um die Gesundheit der Bf selbst darf außerdem nicht übersehen werden, dass im wahrscheinlichen Fall ihrer Erkrankung ihr – im Fall schwerer Symptome möglicherweise langer – Krankenstand auch die staatlichen Dienste insb in einem der wichtigsten und damals besonders geforderten Sektoren, nämlich der Gesundheits- und Sozialversorgung, belastet hätte.
(101) Was den gerechten Ausgleich zwischen den oben genannten öffentlichen Interessen und den durch Art 8 EMRK geschützten Rechten der Bf hinsichtlich ihrer Beschäftigung betrifft, stellt der GH fest, dass [...] alle Maßnahmen, von denen sie betroffen waren [siehe oben Rz 74], vorübergehend waren [...].
(102) Die Bf erklärten nicht, in welcher Weise sie emotional durch diese Maßnahmen betroffen waren oder inwiefern ihre Würde beeinträchtigt wurde. Da die Impfung freiwillig war und es den Bf freistand, sich ihr nicht zu unterziehen, – eine Möglichkeit, von der sie Gebrauch machten, – musste der Staat [...] nur die finanziellen Interessen der Bf gegen die gewichtigen widerstreitenden Interessen der Gemeinschaft abwägen, um den relevanten gerechten Ausgleich zu treffen.
(103) Was die von den Bf geltend gemachten finanziellen Nachteile betrifft [...], bemerkt der GH, dass diese Verluste zwischen rund € 500,– und € 16.000,– lagen (mit zwei Ausnahmen [...]). [...] Die Bf verabsäumten es, irgendein Argument darüber vorzubringen, inwiefern eine solche Herabsetzung ihres Gehalts oder dessen vollständiger Entfall (wo sie sich entschieden, keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemeinnütziger Arbeit zu machen) das materielle Wohlergehen jedes einzelnen Bf oder ihrer Familien verschlechtert hat.
(104) In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass [...] die von einigen der Bf behaupteten Verluste ein paar hundert Euro betrugen [...]. Es stimmt zwar, dass diese bei anderen erheblich höher waren, doch stellt der GH fest, dass die größten Einbußen [...] von jenen Bf erlitten wurden, die jegliche gemeinnützige Arbeit vollkommen [...] oder eine erhebliche Zeit lang ablehnten [...]. Die Bf brachten keine Rechtfertigung für ihre Weigerung vor, ihnen angebotene gesellschaftlich nützliche Arbeiten [...] zu verrichten. Nach Ansicht des GH kann niemand erwarten, weiterhin ein Gehalt zu beziehen, wenn er sich weigert, irgendeiner Arbeit nachzugehen.
(105) Die meisten der Bf wurden zumindest für eine gewisse Zeit versetzt und erhielten weiterhin ihr Gehalt [...], wenn auch teilweise in verminderter Höhe, bzw eine Beihilfe im Gegenzug zur Verrichtung gemeinnütziger Arbeiten [...]. [...]
(106) Es ist nicht zu leugnen, dass die Covid-19-Pandemie Anpassung und besondere Maßnahmen verlangte, um ihren Wirkungen zu begegnen, und sie dennoch erhebliche und sogar enorme finanzielle Verluste sowie einen Anstieg der Arbeitslosigkeit [...] verursachte. Solche Einbußen sind nach Ansicht des GH eine unvermeidbare Folge einer globalen Pandemie und des außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Kontexts, in dem sich Staaten zu dieser Zeit wiederfanden.
(107) Überdies [...] sah San Marino eine Reihe von Möglichkeiten vor und die letztendlich auf jeden einzelnen der Bf angewendeten Maßnahmen waren von den Möglichkeiten der Dienste, für die sie tätig waren, und anderen Notwendigkeiten des öffentlichen Diensts sowie ihren eigenen Entscheidungen in Bezug darauf abhängig.
(108) In Anbetracht der obigen Überlegungen und unter Verweis darauf, dass es den Staaten bei der Erlassung von auf die Erzielung eines gerechten Ausgleichs gerichteten Gesetzen grundsätzlich erlaubt sein muss, die von ihnen als am besten zur Verwirklichung des Ziels der Versöhnung dieser Interessen geeigneten Mittel zu wählen, ist der GH der Ansicht, dass die vom Gesetzgeber San Marinos getroffene Entscheidung, eine Reihe abgestufter Maßnahmen betreffend die Beschäftigung einer kleinen Zahl von Personen im Gesundheits- und Sozialwesen mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung [...] anzuwenden, gerechtfertigt war und in einem angemessenen Verhältnis zu den [...] verfolgten Zielen stand. Es kann daher nicht gesagt werden, der belangte Staat hätte seinen weiten Ermessensspielraum in Angelegenheiten der Gesundheitspolitik überschritten.
(109) Folglich ist es zu keiner Verletzung von Art 8 EMRK gekommen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 14 EMRK und Art 1 12. ZPEMRK
(110) Die Bf brachten weiters [...] vor, gemäß § 8 Gesetz Nr 107/2021 hätten nur geimpfte Personen weiterhin ihren Beruf auf ihren Stellen ausüben können und die §§ 2 und 6 dieses Gesetzes hätten besondere Befreiungen von Beschränkungen nur für geimpfte Personen vorgesehen. Dies stellte ihrer Ansicht nach eine diskriminierende Behandlung dar [...].
Zur Beschwerde über § 6 Gesetz Nr 107/2021
(119) [...] Damit eine Person gemäß Art 34 EMRK eine Beschwerde erheben kann, muss sie nachweisen können, von der angefochtenen Maßnahme »direkt betroffen« gewesen zu sein. [...] Die Konvention erlaubt es Einzelnen oder Gruppen nicht, sich über eine Bestimmung des nationalen Rechts zu beschweren, nur weil sie diese als konventionswidrig erachten, ohne direkt davon betroffen zu sein.
(120) [...] Die Bf haben in ihren Beschwerden und Stellungnahmen an keiner Stelle erklärt, inwiefern sie von § 6 Gesetz Nr 107/2021, der sich auf Schulen bezog, (Anm: § 6 Gesetz Nr 107/2021 sah insb vor, dass ungeimpftes Lehrpersonal im Schulgebäude weiterhin eine Maske tragen musste.) betroffen waren. Tatsächlich brachte niemand von ihnen vor, zur Zeit der Geltung dieser Bestimmung Schüler gewesen zu sein oder in einer Schule gearbeitet zu haben. Folglich können die Bf nicht als durch die angefochtene gesetzliche Bestimmung betroffen angesehen werden.
(121) Dieser Teil der Beschwerde muss dementsprechend gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK als ratione personae unvereinbar mit der Konvention für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur Beschwerde über die §§ 2 und 8 Gesetz Nr 107/2021
(125) Selbst unter der Annahme, dass eine der beiden Bestimmungen auf den vorliegenden Fall anwendbar ist und insb, dass der Status einer ungeimpften Person als »sonstiger Status« angesehen werden kann, ist dieser Beschwerdepunkt aus den folgenden Gründen unzulässig.
(126) Der GH hat bereits in Rz 108 im Hinblick auf § 8 des umstrittenen Gesetzes festgestellt, dass die Entscheidung des Gesetzgebers San Marinos, eine Reihe abgestufter Maßnahmen anzuwenden, die eine kleine Zahl von im Gesundheits- und Sozialwesen tätigen Personen betrafen und dazu dienten, die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt einschließlich der Bf selbst und die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen, gerechtfertigt und verhältnismäßig [...] war und dieser seinen weiten Ermessensspielraum in Angelegenheiten der Gesundheitspolitik nicht überschritt.
(127) Aus denselben Gründen erachtet der GH jede aus § 8 sowie aus § 2 des Gesetzes Nr 107/2021, dessen Auswirkungen auf die Bf noch weniger schwerwiegend waren, resultierende unterschiedliche Behandlung als sachlich gerechtfertigt. Das Tragen von Masken und das Einhalten eines Sicherheitsabstands (wie in § 2 des umstrittenen Gesetzes vorgesehen) sind [...] als vorübergehende Maßnahmen während einer globalen Pandemie von beschränkter Intensität und die Bf haben nicht aufgezeigt, an welchen Massenversammlungen sie teilnehmen wollten und nicht durften [...].
(128) Zudem betrifft die Beschwerde im Hinblick auf § 2 Gesetz Nr 107/2021 [...] eine günstigere Behandlung geimpfter Personen im Rahmen der Lockerung restriktiver Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie. Der GH hat bereits oben in Rz 100 festgestellt, dass es nicht unvernünftig war, Maßnahmen im Hinblick auf geimpfte Personen zu lockern, die selbst weniger gefährdet waren, während sie für die Bf aufrecht blieben, die weiterhin der Gefahr einer Ansteckung und schwerwiegender gesundheitlicher Folgen ausgesetzt waren. Eine begrenzte günstigere Behandlung [...] war zudem insofern sachlich gerechtfertigt, als eine solche Bevorzugung Anreize für eine Impfung bot, die es erlaubte, die Covid-19-Pandemie dauerhaft unter Kontrolle zu bringen. Den weiten Ermessensspielraum der Staaten in der Gesundheitspolitik bekräftigend und die vorübergehende Natur der vorgesehenen Maßnahmen, ihre beschränkte Intensität und den außergewöhnlichen Kontext, in dem sie stattfanden, bedenkend, kann die politische Entscheidung
des Gesetzgebers, restriktive Maßnahmen im Hinblick auf geimpfte Personen zu lockern, nicht als diskriminierend angesehen werden.
(129) Folglich muss dieser Teil der Beschwerde als offensichtlich unbegründet gemäß Art 35 Abs 3 und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Vavřička ua/CZ, 8.4.2021, 47621/13 (GK) = NLMR 2021, 156
Terheş/RO, 13.4.2021, 49933/20 (ZE) = NLMR 2021, 233
Fenech/MA, 1.3.2022, 19090/20 = NLMR 2022, 93
Mittendorfer/AT, 4.7.2023, 32467/22 (ZE) = NLMR 2023, 456
Communaute genevoise d’action syndicale (CGAS)/CH, 27.11.2023, 21881/20 (GK) = NLMR 2023, 598
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.8.2024, Bsw. 24622/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 336) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
Keine Verweise gefunden