Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache B. D. gg Belgien, Urteil vom 27.8.2024, Bsw. 50058/12.
Art 5 Abs 1 und Abs 4 EMRK - Keine Möglichkeit für psychisch Kranken, die Rechtmäßigkeit der Anhaltung im Gefängnis prüfen zu lassen.
Verletzung von Art 5 Abs 4 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 7.300,– für immateriellen Schaden. Kein Zuspruch für Kosten und Auslagen mangels entsprechender Antragstellung durch den Bf (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Am 7.5.1999 ordnete das Gericht erster Instanz von Gand die Unterbringung des Bf im psychiatrischen Flügel der örtlichen Justizanstalt an, da er für die von ihm begangenen Delikte nicht verantwortlich gemacht werden könne. Zwischen Mai 1999 und Mai 2009 wurde seine Unterbringung von der »Kommission für soziale Maßnahmen« (im Folgenden: KSM) regelmäßig bestätigt.
Am 4.5.2009 ordnete die KSM die bedingte Freilassung des Bf an. Am 17.1.2010 wurde er festgenommen, nachdem er neuerliche Einbruchsdiebstähle begangen hatte. Er wurde in das Gefängnis von Merksplas überführt. Am 15.2.2010 entschied die KSM, dass die Anhaltung des Bf dort gerechtfertigt sei und bis zur Einholung einer neuen psychiatrischen Expertise im Flügel für soziale Maßnahmen fortgesetzt werden solle.
Am 3.5.2010 verfügte die KSM die Anhaltung des Bf im psychiatrischen Flügel der Justizanstalt Gand. Bei der Verhandlung wurde der Bf von seinem Anwalt vertreten. Mit Schreiben vom 12.5.2010 verständigte der Bf die KSM über seine Absicht, gegen ihre Entscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen. Am 17.5.2010 informierte ihn diese darüber, dass lediglich sein Anwalt innerhalb von 15 Tagen nach Zustellung der Entscheidung der KSM einen Rechtsbehelf einlegen könne. Eine Kopie des Schreibens wurde per Fax an seinen Pflichtverteidiger geschickt. Aus den Akten geht hervor, dass gegen die Entscheidung der KSM kein Rechtsbehelf erhoben wurde.
In der Folge kehrte der Bf von einem Freigang nicht mehr zurück. Am 20.10.2010 wurde er von der Polizei verhaftet und auf Anordnung der KSM zuerst im psychiatrischen Flügel der Justizanstalt Gand und sodann im Flügel für soziale Maßnahmen des Gefängnisses von Merksplas untergebracht.
Am 31.3.2011 kehrte der Bf erneut von einem Freigang nicht mehr zurück. Am 26.10.2011 wurde er von der Polizei aufgegriffen und in den psychiatrischen Flügel der Justizanstalt Gand überstellt.
Zu einem unbekannten Datum ersuchte der Bf um Zugang zu seinem Akt. Am 12.12.2011 setzte die KSM ihn darüber in Kenntnis, dass nicht er, sondern lediglich sein Anwalt Zugang zu diesem – und zwar vier Tage vor ihrer nächsten Sitzung – haben könne.
In der Sitzung am 23.1.2012 ordnete die KSM die fortgesetzte Unterbringung des Bf im Flügel für soziale Maßnahmen des Gefängnisses von Merksplas bis zur Entwicklung eines neuen Plans für eine ambulante Behandlung an. Während der Sitzung wurde der Bf von seinem Pflichtverteidiger vertreten, nachdem sein Anwalt erklärt hatte, ihn nicht mehr vertreten zu wollen.
Am 25.1.2012 ließ der Bf die KSM wissen, dass er gegen die Anordnung vom 23.1.2012 einen Rechtsbehelf einzulegen gedenke. Diese erteilte ihm eine ähnliche Absage wie in ihrem Schreiben vom 17.5.2010. Der Bf ersuchte in der Folge seinen Pflichtverteidiger um Einbringung eines Rechtsbehelfs gegen die letztgenannte Anordnung. Am 1.2.2012 verständigte Letzterer die KSM von seinem Rücktritt, nachdem er vom Bf Drohbriefe erhalten hatte.
In der Folge wurde ein neuer Pflichtverteidiger für den Bf bestellt. Daraufhin ersuchte der Bf die KSM, ihm Zugang zu den Akten zu gewähren, was von dieser mit dem Hinweis verweigert wurde, lediglich seinem Pflichtverteidiger sei der Zugang zu diesen gestattet.
Am 31.8.2015 wurde der Bf in das Zentrum für Rechtspsychiatrie von Gand eingewiesen, wo er sich bis zum 8.6.2020 aufhielt. An diesem Tag wurde er vorläufig auf freien Fuß gesetzt.
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete Verletzungen von Art 5 Abs 1 (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art 5 Abs 4 EMRK (hier: Recht auf eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Anhaltung).
Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 4 EMRK
(37) [...] Der Bf behauptet, dass die wiederholte Weigerung seiner Pflichtverteidiger, die Entscheidungen der KSM anzufechten – verbunden mit der Verpflichtung für angehaltene Personen, von einem Anwalt vertreten zu werden – und die Unmöglichkeit, Zugang zu seinen Akten zu erhalten sein Recht auf Erhalt einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung verletzt habe.
(46) [...] Unter den Parteien ist unbestritten, dass die Freiheitsentziehung unter Art 5 Abs 1 lit e EMRK (hier: rechtmäßige Freiheitsentziehung von psychisch Kranken) erfolgte, da der Bf für die ihm vorgeworfenen strafbaren Handlungen [...] strafrechtlich nicht verantwortlich war.
(53) Im vorliegenden Fall sah das zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse geltende Verfahren die Verpflichtung für eine untergebrachte Person vor, von einem Anwalt vertreten zu werden. Lediglich dieser war zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen der KSM berechtigt und konnte gegebenenfalls nach dessen Abweisung Beschwerde beim Höchstgericht erheben. Nur der Anwalt hatte Zugang zu den Akten. Hingegen war der Untergebrachte von der Zurückweisung eines von ihm gestellten Antrags auf Freilassung auf Probe direkt zu verständigen. Es oblag somit der untergebrachten Person, ihren Anwalt innerhalb der kürzestmöglichen Frist zu kontaktieren, damit dieser gegen die Entscheidung der KSM innerhalb von 15 Tagen nach Verständigung über die strittige Entscheidung einen Rechtsbehelf einbringen konnte.
(54) Im vorliegenden Fall war der Bf besonders verwundbar angesichts der Tatsache, dass ihm einerseits die Freiheit entzogen worden war und er andererseits an psychischen Problemen litt [...]. Es ist unbestritten, dass seine psychischen Probleme ihn daran hinderten, an einem gerichtlichen Verfahren auf adäquate Weise teilzunehmen.
(55) Die Tatsache an sich, dass eine gesetzliche Verpflichtung für untergebrachte Personen bestand, von einem Anwalt vertreten zu werden, vermag jedenfalls keine Nichtbeachtung der aus Art 5 Abs 4 EMRK erfließenden Verpflichtungen darzustellen. Der GH hat bereits festgehalten, dass eine aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung in einer psychiatrischen Einrichtung angehaltene Person – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – in einem Verfahren betreffend die Fortsetzung, Unterbrechung oder Beendigung der Unterbringung in den Genuss eines Rechtsbeistands kommen muss [siehe M. S./HR (Nr 2), Rz 153 sowie N./RO, Rz 196]. Aus denselben Gründen ist er der Auffassung, dass die Tatsache, dass nur der Anwalt Zugang zu den Akten hat, ebenfalls keine Vernachlässigung der aus dieser Konventionsbestimmung erfließenden Verpflichtungen mit sich bringt.
(56) Von den Parteien wird nicht bestritten, dass der Bf im Verlauf jeder periodischen Kontrolle seiner Unterbringung bei den Sitzungen der KSM von einem Anwalt vertreten war, wie es auch das Gesetz vorsah. [...]
(57) Ungeachtet dessen setzte der Bf die Gefängnisverwaltung und die KSM zu mehreren Anlässen von seinem Wunsch in Kenntnis, gegen die Entscheidungen der KSM auf Weiterverbleib im psychiatrischen Flügel der Justizanstalt Gand einen Rechtsbehelf einlegen zu wollen. Der Bf ersuchte auch seinen Pflichtverteidiger, gegen die Entscheidung der KSM vom 23.1.2012 gerichtlich vorzugehen. Er wandte sich sogar an den Präsidenten der Anwaltskammer von Gand wegen der Weigerung seiner Anwälte, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der KSM einzubringen.
(58) Zudem reagierten sowohl die KSM als auch die Gefängnisverwaltung auf den Wunsch des Bf, den Rechtsmittelweg zu beschreiten, zum wiederholten Male in einer standardisierten und formalistischen Weise, indem sie ihm zu verstehen gaben, dass lediglich sein Anwalt zur Einlegung eines Rechtsmittels befugt sei.
(59) Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Bf klar und deutlich und zu mehreren Anlässen seinen Wunsch zum Ausdruck brachte, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der KSM anzufechten und er mangels Unterstützung durch einen Anwalt nicht in der Lage war, so vorzugehen. [...]
(60) Nun ist aber der GH der Ansicht, dass sich die Anbietung einer effektiven Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit einer Anhaltung einer Kontrolle zu unterziehen, indem eine Entscheidung auf Verlängerung der Unterbringung angefochten wird, als umso notwendiger erweist, wenn es um ein strukturelles Problem von einer solchen Tragweite geht, wie es vom GH in seinem Piloturteil W. D./BE, Rz 161–166, beschrieben wurde. In der Tat fand die Anhaltung des Bf – wie bei tausenden anderen untergebrachten Personen in Flandern – großteils in Hafteinrichtungen statt, die auf die Betreuung von Personen mit psychischen Problemen grundsätzlich nicht eingestellt waren. Es kann nicht gesagt werden, dass die Behörden und die innerstaatlichen Gerichte zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht um diese Situation wussten [...].
(62) Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls reicht für den GH jedenfalls die Feststellung aus, dass der Bf wiederholt der Möglichkeit beraubt wurde, die Rechtmäßigkeit der Verlängerung seiner Anhaltung überprüfen zu lassen und ihre Beendigung zu erlangen, obwohl die strukturellen Probleme rund um die Unterbringung von psychisch kranken Personen in für ihren Gesundheitszustand ungeeigneten Einrichtungen nicht ignoriert werden konnten. Der GH möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Art 5 Abs 4 EMRK die Staaten nicht dazu zwingt, einen Rechtsbehelf zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Anhaltung einzurichten. Sieht jedoch ein Staat wie Belgien einen solchen Rechtsweg vor, muss er einen effektiven Zugang zu diesem garantieren.
(63) Es kam somit zu einer Verletzung von Art 5 Abs 4 EMRK (einstimmig).
(64) [...] Dem Bf kann folglich nicht vorgeworfen werden, gegen die Verlängerung seiner Unterbringung keinen Rechtsbehelf eingelegt zu haben. Die Einrede [der Regierung], wonach der Bf bezüglich der Beschwerdepunkte unter den Art 5 Abs 1 EMRK und Art 5 Abs 4 EMRK nicht den Rechtsweg vor den einschlägigen Instanzen [...] beschritten habe, ist daher zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK
(65) Der Bf beklagt sich über die Bedingungen seiner Unterbringung. [Insb] sei er nicht in den Genuss der für seinen Geisteszustand notwendigen Behandlung in den psychiatrischen Abteilungen bzw in den Flügeln für soziale Maßnahmen der gewöhnlichen Gefängnisse gekommen [...].
(67) Der Bf bezieht sich [in dieser Hinsicht] auf internationale Berichte wie auch auf die Rsp des EGMR zu den in Belgien existierenden strukturellen Problemen, was die fehlende therapeutische Betreuung von in den psychiatrischen Flügeln der gewöhnlichen Gefängnisse untergebrachten Personen betrifft [...]. Er erblickt darin eine offenkundige Verletzung von Art 5 Abs 1 lit e EMRK.
Zum in Betracht zu ziehenden Zeitraum
(71) Was das Vorbringen der Regierung angeht, wonach der Bf zwischen 1999 und 2012 nicht durchgehend in einem psychiatrischen Gefängnisflügel angehalten worden wäre, ist seitens des GH festzuhalten, dass der Bf in der Zeit von 31.3. bis 26.10.2011 für mehr als sechs Monate auf der Flucht war. Diese Flucht hat seine Freiheitsentziehung unterbrochen.
(72) Zwar trifft es zu, dass der Bf nicht [...] entlassen worden war und sich sein Internierungsstatus während dieses Zeitraums nicht änderte. Der GH ist dennoch der Ansicht, dass ein Verstreichen der Zeit von mehr als sechs Monaten nicht als »kurze Periode« angesehen werden kann. Es kann daher nicht gesagt werden, dass die der Flucht des Bf vorausgehenden Perioden des Freiheitsentzugs zusammen mit der zu einem späteren Zeitpunkt erfolgten Freiheitsentziehung am 26.10.2011 – dem Datum seiner Rückführung in das Gefängnis – ein Ganzes bildeten [...]. Nach diesem Datum [...] wurde der Bf – abgesehen von einer etwa eineinhalb Monate währenden Periode im Jahr 2013, während der er sich auf der Flucht befand – bis zum 31.8.2015 durchgehend in den Flügeln für soziale Maßnahmen der Gefängnisse von Merksplas und Turnhout wie auch in der psychiatrischen Abteilung der Justizanstalt Gand angehalten.
(73) Der GH räumt hingegen ein, dass ein Zeitraum von eineinhalb Monaten, während dem sich der Internierungsstatus des Bf nicht änderte, eine »kurze Periode« darstellt. Die der Flucht vorausgehende Periode der Anhaltung kann daher gemeinsam mit der späteren Periode als ein Ganzes angesehen werden. Die in Betracht zu ziehende Periode endete somit am 31.8.2015 – dem Datum, an dem der Bf in das Zentrum für Rechtspsychiatrie von Gand aufgenommen wurde. Bei besagtem Zentrum handelte es sich um eine Einrichtung, die von vornherein für die Aufnahme von wegen ihres psychischen Gesundheitszustands untergebrachten Personen adaptiert war. Der Bf stellt dies nicht in Abrede [...].
(74) Folglich kann vom GH lediglich der Zeitraum zwischen dem 26.10.2011 und dem 31.8.2015 bei der Entscheidung darüber berücksichtigt werden, ob die Anhaltung des Bf »rechtmäßig« iSv Art 5 Abs 1 lit e EMRK war.
Zur Rechtmäßigkeit der Anhaltung des Bf zwichen dem 26.10.2011 und dem 31.8.2015
(75) Der GH muss – wie bereits in zahlreichen früheren Fällen, über die er zu befinden hatte [...] – feststellen, dass der Bf für mehrere Jahre in Hafteinrichtungen angehalten wurde, in denen er nicht in den Genuss der Pflege und Behandlung kam, die seinem Geisteszustand entsprochen hätte.
(76) Der GH vermag der Regierung nicht zu folgen, wonach lediglich die Zeiträume in Betracht gezogen hätten werden dürfen, während denen der Bf in der psychiatrischen Abteilung der Justizanstalt Gand angehalten worden war. In der Tat hat er bereits erkannt, dass die Flügel für soziale Maßnahmen der Gefängnisse von Merksplas und Turnhout keine therapeutische Betreuung für die dort angehaltenen Personen boten (vgl in diesem Sinn Dufoort/BE, Rz 86 [...]). Der GH vertrat die Ansicht, dass sich die Situation von in diesen Einrichtungen untergebrachten Personen nicht von den zahlreichen in einer psychiatrischen Abteilung des Gefängnisses in Erwartung einer Überstellung in eine soziale oder private Einrichtung untergebrachten Personen unterscheiden würde und diese sich einer therapeutischen Betreuung beraubt sahen, die eine fruchtbare Wiedereingliederung in das soziale Leben dargestellt hätte.
(77) Diese Überlegungen sind für den GH ausreichend, um zur Feststellung zu gelangen, dass die von 26.10.2011 bis 31.8.2015 währende Anhaltung des Bf in den psychiatrischen Flügeln der gewöhnlichen Gefängnisse nicht rechtmäßig war.
(78) Somit hat eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 7.300,– für immateriellen Schaden. Kein Zuspruch für Kosten und Auslagen mangels entsprechender Antragstellung durch den Bf (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Aerts/BE, 30.7.1998, 25357/94 = NL 1998, 140
Dufoort/BE, 10.1.2013, 43653/09
M. S./HR (Nr 2), 19.2.2015, 75450/12
W. D./BE, 6.9.2016, 73548/13 = NLMR 2016, 452
N./RO, 28.11.2017, 59152/08
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.8.2024, Bsw. 50058/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 309) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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