Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Namık Yüksel gg die Türkei, Urteil vom 27.8.2024, Bsw. 28791/10.
Art 8 EMRK - Zur besonderen Situation von in einer Haftanstalt lebenden Kindern.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf und dessen Ehefrau wurden beide wegen Beihilfe in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Ehefrau des Bf wurde gemeinsam mit dem vierjährigen Sohn am 2.3.2009 in die Haftanstalt Gebze verlegt, nachdem sie etwa zwei Monate ihre Strafe in einer anderen Haftanstalt verbüßt hatte. Der Bf beantragte ebenfalls die Verlegung in die Haftanstalt Gebze, um sich häufiger mit seiner Ehefrau und dem Sohn treffen zu können. Seinem Antrag wurde stattgegeben und er wurde am 2.11.2009 in die Haftanstalt Gebze verlegt. Einige Tage später brachte er beim Vollzugsrichter in Gebze vor, dass sich sein Kind (nach der einschlägigen nationalen Regelung) bei seiner Ehefrau in der Frauenabteilung der Haftanstalt befand und es für ihn keine Möglichkeit gäbe, Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Der Beobachtungsausschuss des Gefängnisses prüfte das Vorbringen und bestätigte, dass es dem Sohn nicht gestattet war, sich bei seinem Vater in dessen Zelle aufzuhalten. Es wurde dem Bf jedoch gewährt, sich wöchentlich eine Stunde mit seinem Sohn im Besucherbereich zu treffen, zudem konnten der Bf, seine Frau und der Sohn einmal monatlich für eine Stunde Kontakt haben. Der Vollzugsrichter kam zur Feststellung, dass die Entscheidung des Beobachtungsausschusses im Einklang mit dem Gesetz stand. Daraufhin beschwerte sich der Bf beim Gericht Gebze und hielt insb fest, dass es ihm nicht darum ginge, ob ihn sein Sohn in der Zelle besuchen dürfe, sondern dass er mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen möchte. Vom Gericht Gebze wurde die Entscheidung des Vollzugsrichters bestätigt.
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da es ihm nicht erlaubt worden sei, ausreichend Zeit mit seinem vierjährigen Sohn zu verbringen.
Zulässigkeit
(37) Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(47) [...] Eine Freiheitsstrafe ist – wie auch jede andere freiheitsentziehende Maßnahme – mit Einschränkungen des Privat- und Familienlebens verbunden. Die Behörden haben einem Gefangenen jedoch die Aufrechterhaltung des Kontakts zu seiner nahen Familie zu ermöglichen oder ihn ggf dabei zu unterstützen [...].
(48) Bei Entscheidungen [...], von denen auch Kinder betroffen sind, ist darauf zu achten, dass deren Wohl von überragender Bedeutung ist und Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben muss [...].
(50) [...] Maßgeblich ist, ob die Behörden alle erforderlichen Schritte gesetzt haben, um den Kontakt [zwischen dem Kind und dessen Eltern] zu erleichtern – hier ist stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen [...].
(51) Der Bf beschwerte sich [...] darüber [...], dass ihm die nationalen Behörden während der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe nicht gewährt hätten, ausreichend Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, der in der Zelle seiner Mutter im selben Gefängnis untergebracht war [...].
(52) Der GH stellt fest, dass die dem Bf auferlegten Kontaktbeschränkungen zu seinem Sohn in der Haftanstalt einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Familienlebens gemäß Art 8 EMRK darstellten [...].
(53) Unstrittig ist, dass dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen war [...] und die legitimen Ziele des Schutzes der Rechte anderer und der Aufrechterhaltung der Ordnung verfolgte [...]. [...]
(54) [...] In Fällen, in denen sich die Familie in Haft befindet, stellt das »Zusammensein« von Eltern und Kindern zwar ein grundlegendes Element des Familienlebens dar, doch ist daraus nicht abzuleiten, dass die Tatsache der Aufrechterhaltung der Familieneinheit notwendigerweise die Achtung des Rechts auf Familienleben garantiert [...]. Darüber hinaus verpflichtet die Staaten, die Interessen von Gefangenen und deren Familienangehörigen zu berücksichtigen und sie nicht allgemein, sondern im Hinblick auf die konkrete Situation zu bewerten [...].
(55) [...] Der GH stellt fest, dass die Frage des Umgangs mit einem Kind, dessen Elternteile beide inhaftiert sind, in den einschlägigen internationalen Materialien nicht ausdrücklich behandelt wird [...]. Auch internationale Normen stellen das Recht eines Kindes [...], persönliche Beziehungen und einen regelmäßigen direkten Kontakt zu beiden Elternteilen aufrechtzuerhalten (sofern dieser Kontakt nicht dem Kindeswohl zuwiderläuft), [...] in den Mittelpunkt [...].
(57) [...] Die nationalen Behörden gaben einem diesbezüglichen Antrag der Ehefrau des Bf statt und brachten sie und ihren Sohn in einer Abteilung der Haftanstalt von Gebze unter, obwohl diese bloß für die Verbüßung von wegen gewöhnlicher Straftaten (und nicht wegen terroristischer Straftaten) verhängten Freiheitsstrafen bestimmt war [...]. Der Bf [...] beantragte eine Verlegung in die Haftanstalt von Gebze, wo sich seine Frau und sein Sohn aufhielten, um regelmäßigen Kontakt mit ihnen zu halten. Diesem Antrag wurde ebenfalls stattgegeben [...].
(58) Unmittelbar nach der Verlegung des Bf in die Haftanstalt von Gebze [...] stellte der Bf bei den zuständigen Behörden einen Antrag auf Maßnahmen mit dem Ziel, mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen zu können [...]. Es wurde entschieden, dass der Bf [...] einmal wöchentlich für eine Stunde Kontaktbesuche mit seinem Sohn im Besuchsbereich haben kann. Außerdem durften [...] das Kind und die Eltern bei den monatlichen Besuchen eine Stunde lang zusammenkommen [...]. Obwohl die Gefangenen nach der einschlägigen Besuchsrechtsverordnung [...] nur einmal im Monat zu Kontaktbesuchen mit ihren Familienangehörigen berechtigt waren, wurden dem Bf durch die Entscheidung des Beobachtungsausschusses [...] monatlich vier Kontaktbesuche mit seinem Sohn ermöglicht.
(59) Der GH stellt fest, dass zu den Mitgliedern des Beobachtungsausschusses ein Arzt, ein Lehrer und ein Psychologe der Haftanstalt gehörten, die am besten in der Lage waren, das Wohl des Kindes zu beurteilen, da sie in unmittelbarem Kontakt mit ihm standen und mit den Haftbedingungen der Anstalt vertraut waren [...]. Der Beobachtungsausschuss ergriff [...] aufgrund der Tatsache, dass das Kind mit seiner Mutter in der Frauenabteilung der Haftanstalt untergebracht war, Maßnahmen, die es dem Bf ermöglichten, jede Woche Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, und die gesamte Familie jeden Monat [...] zusammenzuführen. In der Folge hatte der Bf auch die Möglichkeit, gegen die Entscheidung der Gefängnisverwaltung vorzugehen [...].
(60) Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Bf das erweiterte Besuchsrecht nur einmal nutzen konnte, da sich sein Sohn vor der Überstellung von seiner Mutter zu seinem Vater fürchtete. [...] Unstrittig ist, dass das Besuchsrecht des Bf ausgeweitet wurde und dass die nationalen Behörden die Ausübung dieses Besuchsrechts in der Praxis nicht eingeschränkt haben. Der Bf behauptete, dass die Möglichkeit in der Praxis nicht genutzt werden konnte, weil das Kind auf die Einhaltung der einschlägigen Verfahren für seine Überstellung innerhalb des Gefängnisses emotional reagierte [...]. [In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass] Zwangsmaßnahmen gegen Kinder nicht wünschenswert sind und in diesem sensiblen Bereich begrenzt werden müssen [...]. Insb ist ein Elternteil mit Blick auf Art 8 EMRK nicht berechtigt, Maßnahmen zu ergreifen, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden [...].
(61) Der GH ist der Auffassung, dass die nationalen Behörden unter den besonderen Umständen des Sachverhalts einen gerechten Ausgleich [zwischen den konkurrierenden Interessen] hergestellt haben, indem sie alle erforderlichen Maßnahmen, die vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnten, ergriffen haben, um das Wohl des Kindes zu schützen und dem Bf einen regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn zu ermöglichen.
(63) Es liegt keine Verletzung von Art 8 EMRK vor (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Khoroshenko/RU, 30.6.2015, 41418/04 (GK) = NLMR 2015, 228
Strand Lobben ua/NO, 10.9.2019, 37283/13 (GK) = NLMR 2019, 393
Subaşı ua/TR, 6.12.2022, 3468/20
Deltuva/LT, 1.3.2023, 38144/20
Luca/MD, 17.10.2023, 55351/17
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.8.2024, Bsw. 28791/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 334) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Rückverweise
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